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9. Kapitel
Оглавление»Wie geht es Mutter?«, war die erster Frage, die Peter seiner Schwester stellte, als er zuhause in der Küche auftauchte und seine Schwester mächtig erschreckte. Sie war gerade dabei, das Kaffeemehl in den Filter der Maschine zu geben und dabei ganz in Gedanken, so dass ihr der Löffel aus der Hand fiel und das Pulver auf der Küchenplatte und teils auf dem Fußboden verstreut wurde.
»Kannst du mich nicht vorwarnen, du blöder Kerl? Ich habe fast einen Herzinfarkt bekommen. Sieh dir die Sauerei an!«
»Ich habe, als ich hereinkam, laut ›Guten Morgen‹ gerufen, aber keiner hat geantwortet. Ich war ja selbst etwas überrascht, dich hier in der Küche anzutreffen.« Er nahm seine Schwester in die Arme und entschuldigte sich. Sie klammerte sich ganz fest an ihn und wollte ihn nicht mehr loslassen.
»Peter, ich glaube, ich kann nicht mehr. Ich bin völlig fertig. Heute ist es schlimmer als gestern. Ich weiß nicht, was ich machen soll. Die halbe Nacht war ich wach, bin aufgestanden, habe in der Küche Zwieback gefunden und das halbe Paket in mich hereingestopft. Immer wieder habe ich weinen müssen. Dann habe ich wieder nach Mama gesehen. Sie hat tief und fest geschlafen. Heute Morgen bin ich in Mamas Arme gekrochen und wir haben uns gegenseitig beweint. Es ist alles so schlimm.«
»Wo ist Mama jetzt?«
»Sie sitzt im Wohnzimmer und raucht. Sie will nichts essen. Jetzt bin ich dabei und mache ihr trotzdem ein Brot und Kaffee. Sie muss etwas essen. Sie ist ja schon ganz hinfällig geworden. Wenn sie bloß das Rauchen lassen würde. Sie hatte so schön damit aufgehört. Ich weiß auch gar nicht, wo sie die Zigaretten noch hatte.«
Peter fegte den Kaffee auf und wischte die Arbeitsfläche sauber, während Carla die Brote belegte. Peter griff sich eins und brachte die anderen seiner Mutter.
»Guten Morgen, Mama. Ich bringe dir Brote. Carla hat sie extra gemacht. Du musst etwas frühstücken.«
Carla kam mit einem Tablett mit Kaffee, Milch und Zucker, setzte alles auf einen Beistelltisch und schob diesen neben den Sessel der Mutter.
»Greif zu, Mutter. Du darfst nicht rauchen, auf nüchternen Magen schon gar nicht. Woher hast du eigentlich die Zigaretten?«
Die Mutter gab keine Antwort, aber sie nahm einen Bissen, trank einen Schluck und als sie ihre Kinder essen sah, entschied sie sich, es ihnen gleichzutun und alle drei saßen da und keiner sprach ein Wort.
»Wir haben gestern gar niemanden in der Firma informiert. Sie werden es heute aus der Zeitung erfahren. Hast du sie schon gelesen?«, fragte Peter
»Sie liegt dort auf dem Tisch.« Carla deutete mit dem Kopf die Richtung an.
»Ich kenne den Artikel schon.« Trotzdem nahm er die Zeitung auf und hielt sie mit beiden Händen auseinander, so dass die sein ganzes Gesicht verdeckte, überflog noch einmal den Artikel. »Weiß Gott, wie der schon wieder da hineingekommen ist. Aber sie schreiben ja wenigstens sehr diskret.« In Gedanken faltete er sie wieder zusammen und erschreckte seine Mutter und Carla durch den festen Schlag, mit der er die Zeitung auf den Tisch knallte. Er nahm eine tote Fliege unter der Zeitung hervor und warf sie hinaus in den Garten.
»Ich glaube sogar, dass da noch ein Artikel folgt, so bekannt wie Papa war… und dann als Reeperbahn-Wirt…. Ist ja jetzt auch egal.« Carla winkte ab.
»Nee, ist eben nicht egal. Ich rufe heute mal den Chefredakteur an. Ich habe irgendwo noch die Nummer.« Peter wischte die Kontakte in seinem iPhone durch. »Finde ich jetzt nicht…Der hatte so einen ganz einfachen Vornamen, so wie Wolfgang, Uwe, Heinrich oder so ähnlich. Ich setze mich nachher noch mal dran. Ich finde ihn.« Er steckte das Telefon in die Tasche. »Der ist mir noch einen Gefallen schuldig. Ich habe ihn damals bei der Taufe von der Yacht für den Scheich informiert und einige Details über das Boot verraten, womit er ganz groß herausgekommen ist. Das muss der jetzt wieder gutmachen.« Er fuhr mit dem Frühstück fort und war völlig überrascht, als seine Mutter unvermittelt die Zigarette ausdrückte und ihm den Aschenbecher in die Hand drückte.
»Wirf den ganzen Mist weg. Weit weg. Ich fange nicht mehr an. Ich habe es Papa so versprochen und war so schön davon ab. Fünf Jahre jetzt rauche ich nicht mehr und es schmeckt mir auch nicht.« Nach einer Weile fuhr sie energisch fort: »Wir müssen uns fangen und herausbekommen, wer das getan hat und warum.«
Die beiden Kinder sahen sich erstaunt an. Wenn sie mit allem gerechnet hatten, aber dass ihre Mutter so plötzlich ihre alte Energie wiederfand, damit nicht. Als Peter in die Küche wollte, um neuen Kaffee zu holen rief sie ihm nach: »Hier, nimm die restlichen Glimmstängel auch mit. Alles muss weg. Für immer!« Zu ihrer Tochter gewandt: »Die hat letzte Woche Onkel Alfons hier liegen lassen. Der hat sie inzwischen längst vergessen… so wie ich den kenne.«
Peter kam aus der Küche zurück. »Wir müssen die Mannschaft informieren«, wiederholte er. »Sie werden den Artikel und die Anzeige gelesen haben, aber dennoch müssen wir es ihnen noch einmal persönlich mitteilen.«
»Kann das nicht Hannelore machen? Ist sie heute im Betrieb?«, erkundigte sich die Mutter.
»Da gehe ich mal von aus, Mutter. Die Geschäfte müssen ja weiter gehen. Die anderen Läden machen ja auch Betrieb.«
»Wann ist denn jetzt überhaupt die Beerdigung? Haben die von der Polizei schon was gesagt? Wir müssen sie fragen. Sie kommen bestimmt noch einmal. Denen fällt immer etwas zu fragen ein.«
»Günter!« posaunte Peter plötzlich heraus. »Günter heißt der Redakteur. Jetzt weiß ich es wieder.« Er holte seinen ständigen Begleiter aus der Tasche und wischte auf dem Teil hin und her. »Günter Reithmeyer. Ich wusste, dass ich die Nummer habe. Gleich heute Nachmittag, wenn er wieder in der Redaktion ist, rufe ich ihn an. Jetzt ist er nicht da. Morgens macht er den ›rasenden Reporter‹ und ist er auf Themensuche.«
»Und was willst du dem sagen?«, fragte Carla
»Das weiß ich noch nicht, aber das fällt mir schon noch ein. Ich möchte eigentlich nur erreichen, dass sie nicht von irgendwelchen Etablissements und Rotlichtmilieus schreiben. Das bringt unsere Familie in ein ganz anderes Licht, in das wir nicht mehr gehören. Auch wenn wir noch die drei alten Läden haben. Das können und wollen wir ja auch nicht ändern. Die laufen ja nun mal gut und es waren schließlich die ersten, mit denen das ganze Unternehmen angefangen hat.«
Carla räumte ab, stellte das ganze Frühstücksgeschirr auf das Tablett und brachte alles in die Küche. Man hörte, wie sie aufräumte. Peter hatte auf eine Gelegenheit gewartet, mit seiner Mutter über die Begegnung vor seinem Haus am gestrigen Abend zu sprechen.
»Da wir gerade von dem Geschäft sprechen, Mutter. Vor meiner Wohnung hat sich gestern Abend etwas Sonderbares ereignet.« Er schilderte den Vorfall. »Ich hatte den Eindruck, da läuft etwas, von dem ich nichts weiß. Hast du eine Ahnung, ob Papa neben seiner Firma noch andere Geschäfte am Laufen hatte? Sag ehrlich!«
»Ich kann dazu nichts sagen. Ich habe keine Ahnung von anderen Geschäften.«
»Warum sollte ich dann gewarnt werden?«
»Glaube mir Junge, ich weiß nicht mehr als du.«
»Soll ich Carla fragen?«
»Auf keinen Fall!«
»Also doch. Es gibt etwas.«
Das Telefon und rettete sie vor einer Auskunft. Carla nahm in der Küche den Hörer ab.
»Carla Friedmann?«
»Hallo Carla, hier ist Opa Conrad. Ich wollte nur mal hören, wie es Euch und Eurer Mutter geht.«
»Ich war die ganze Nacht hier. Sie hat ganz durchgeschlafen bis heute Morgen gegen fast halb neun. Als ich Frühstück machte, hatte sie sich eine Zigarette angezündet, die Onkel Alfons letzte Woche hier vergessen hatte…«
»Raucht sie wieder? Sie hat doch wohl nicht wieder angefangen?«, unterbrach er sie.
»Nein, nein, sie hat alsbald die Zigarette ausgedrückt und die restlichen weggeworfen. Gott sei gepriesen! Und wie hast du das ganze Geschehen verarbeitet? Konntest du schlafen?«
»Ich habe eine ganze Schlaftablette genommen, die mir der Doktor verschrieben hat, von denen ich aber normalerweise nur eine halbe nehme. Frühstücken konnte ich heute Morgen nicht. Ulla ist extra schon um sieben gekommen. Sie hat mir Brötchen mitgebracht, um mir Appetit zu machen, aber ich habe keines davon herunter gekriegt. Auch den Kaffee, den sie für mich gemacht hat, habe ich nur zur Hälfte getrunken. Es geht mir, ehrlich gesagt, beschissen.«
»Schade, das tut mir leid, aber es geht uns ja allen nicht besser. Mama winkt schon. Ich gebe dich mal weiter.« Sie machte sich auf den Weg ins Wohnzimmer. »Übrigens: kommst du heute Nachmittag? Ich würde mich freuen und Mama bestimmt auch.«
»Vielleicht. Ich habe noch Besuch im Büro. Danach komme ich, … wenn nichts dazwischen kommt. Ach Quatsch! Ich sage alles ab und komme.«
»Mutter? Hier ist Opa.«
Die Mutter musste ihrem Vater reichlich Auskunft geben. Er war besorgt, wie eben ein Vater besorgt ist, dessen Tochter soeben Witwe geworden ist.
Carla sah während des Telefongesprächs der Mutter aus dem Fenster und bekam einen Schrecken, als sie den Blutfleck sah, der immer noch auf der Terrasse zu erkennen war, und die Kreidelinien darum, die die Lage des Vaters gestern darstellten. Sie holte einen Eimer Wasser und Scheuermittel und versuchte, so gut es ging, die Erinnerungen dort zu entfernen. Die Kreiderester verschwanden sofort, aber an den Blutflecken versuchte sie sich vergebens, auch wenn sie ihre ganze Wut an der Bürste ausließ. Es würde Monate dauern, bis die Granitsteine das Blut verschluckt hätten.
»Also, was ist nun? Raus mit der Sprache!«, forderte Peter, als die Mutter das Gespräch beendet hatte und sie ihm das Telefon in die Hand gegeben hatte, damit er es wieder in die Küche brachte. Er bestand aber zuerst auf einer Antwort.
Sie wich aus. »Großvater will heute Nachmittag kommen. Das freut mich.«
Peter bestand auf einer Antwort. »Jetzt rede und weiche nicht aus!«
»Es gibt eine lange Geschichte. Es ist dreißig Jahre her und die geht keinen etwas an. Carla schon gar nicht. Wenn wir alleine sind, werde ich versuchen, dir alles zu erklären. Du musst mir helfen, denn wenn ich daran denke, möchte ich alles ungeschehen machen. Versprichst du mir das?«
»Natürlich Mutter. Wo ich nur eben kann. Sind wir in Schwierigkeiten?«
»Nein, aber wenn ich Papa nicht in diese Abenteuer hineingezogen hätte, wäre er vielleicht noch am Leben. Ich mache mir solche Vorwürfe…«
Carla kam aus dem Garten zurück. »Habt Ihr zwei Geheimnisse?«
»Wie kommst du darauf? Ich habe vor meiner Tochter keine Heimlichkeiten.«
»Ich habe Mama nur gefragt, ob sie noch Garderobe kaufen will zur Beerdigung oder du vielleicht auch? Der Leichnam wird ja wohl frei gegeben und dann können wir Papa beerdigen. Ich meine, wir sollten nicht viele Leute einladen, vielleicht Onkel Alfons, Tante Renate und Brigitte mit ihrem Mann. Was ist mit deinem Freund? Kann Rolf auch kommen?
»Er ist gerade auf dem Weg von Paris zurück. Er will gegen fünf Uhr heute Nachmittag zurücksein. Ich habe gerade mit ihm telefoniert. Ronny und er wechseln sich mit dem Fahren ab.«
»Warum fliegt er nicht?«
»Weil er meint, dass das keine Vorteile hat. Die Strecke ist dafür zu kurz. Erst einmal braucht er keinen Fahrplan einzuhalten und er kann fahren, wann er will. Das Hotel liegt ganz im Osten von Paris. Er braucht vom Flugplatz Orly oder Charles de Gaulle immer mindestens fast eine Stunde vom Landen bis zum Büro. Dann noch von hier bis Hannover, die halbe Stunde Reserve wegen der blöden Autobahn-Baustelle, die Stunde bis zum Abflug. Und außerdem – und das ist wohl der eigentliche Grund – fährt er sehr gerne … und jetzt mit dem neuen Auto … Er und Ronny kommen ja gut miteinander aus. Und er hat ein Auto da. Taxifahren ist ja nie sein Ding gewesen.«
»Wir haben doch den Limousinenservice vor Ort. Warum benutzt er den nicht?«
»Ja, er fährt ja nun öfter als alle anderen dorthin. Er wird es ausprobiert haben«, fuhr die Mutter dazwischen.
»Hat er nun eine neue Sekretärin dort gefunden?«, kam Peter endlich zu der Frage, die ihn eigentlich interessierte.
»Er meint, er hat einen guten Fang gemacht. Sie spricht unter anderem auch Arabisch. Die Mutter stammt aus dem Irak«, Clara überlegte, »…oder Iran – ich weiß nicht mehr. Vielleicht ganz brauchbar, denn die Orientalen kommen doch immer öfter nach Europa um Geschäfte zu machen. Da ist es ja für sie ganz angenehm, wenn sie jemanden haben, der ihre Muttersprache spricht und vor allem auch schreiben kann, auch wenn sie fast alle Englisch oder Französisch sprechen.«
»Ronny müssen wir auch dazu nehmen, Kinder. Papa ist so gerne mit ihm gefahren.«
»Ist ja klar«, Peter sprach die vorläufige Gästeliste in sein iPhone.
»Was ist jetzt mit der Garderobe?«, griff Carla das Thema wieder auf. Sie war immer zu einem Stadtbummel bereit.
»Heute noch nicht. Ich möchte heute einfach hier zuhause verbringen, um über alles nachzudenken. Papa fehlt mir. Das ist doch klar. Es ist nicht einfach.«
Das Telefon schellte abermals. Peter schaute auf das Display, zog die Stirn kraus und verkündete dann, ehe er abnahm: »Rosie Plotthoff!?« Er blickte seine Mutter fragend an. Alle beide winkten ab, weil sie wussten, dass die Bekannte aus dem Golfklub, mit der und deren Mann sie alle zuweilen zum Tontaubenschießen gingen, mit einem Gespräch schnell einen ganzen Nachmittag verbringen konnte, gerade nach einem solchen Ereignis. Er ließ durchschellen. Dann schaltete sich der Anrufbeantworter ein: »Hier ist der Anrufbeantworter von Peter und Magdalene Friedmann. Bitte sprechen sie nach dem Signalton.« Die Mutter zuckte zusammen, als sie die Stimme ihres Mannes auf dem Telefon hörte. Dann sprach Rosie:
»Hallo Magdalene, hier ist Rosie. Ich wollte nur kurz wissen, wie es dir und dem Rest der Familie geht. Es ist ja eine traurige Angelegenheit. Ich weiß noch gar keine Einzelheiten und konnte heute Nacht gar nicht schlafen. Ich muss mal mit jemandem darüber sprechen. Bitte melde dich mal. Vom Schießverein und unserer Clique aus dem Golfklub ein ganz herzliches Beileid, soll ich dir ausrichten. Wenn wir etwas tun können, sag’ es uns. Wir sind immer für dich da.«
Peter stand aus dem Sessel auf und lief ein paar Schritte durch das Zimmer. Dabei blickte er auf die Terrasse, wo auch er den Flecken immer noch sehen konnte, den der Vater hinterlassen hatte. Er wollte bei Gelegenheit den Berendtsen fragen, ob die Polizei oder vielmehr der Mann von der Spurensicherung vielleicht eine Möglichkeit sah, die Reinigung zu übernehmen oder zumindest zu beschleunigen.
»Es ist für alle von uns nicht einfach. Es wird auch noch schlimmer, wenn die erste Aufregung einmal vorüber ist«. Sie schwiegen alle, als ob sie den Zeitpunkt abwarten wollten.
»Eigentlich ist Rosie ja eine ganz Nette, aber sie kann einfach nicht verkraften, dass wir beim Schießen immer Vereinsmeister werden. Stimmt’s?«, fragte Peter.
»Also das ist ja wohl leicht übertrieben. Letztes Jahr war sie Dritte, noch vor dir und Papa«, machte Carla ihm klar. Sie nahm ihrer Mutter das Telefon aus der Hand und brachte es in die Küche zurück.
»Aber Golfen kann sie besser als wir alle zusammen. Das müsst Ihr der Rosie zugestehen«, hielt ihre Mutter ihrer Bekannten zugute.
»Lass uns etwas durch die Heide gehen«, schlug Carla vor, als sie aus der Küche zurückkam. »Etwas frische Luft tut uns jetzt allen gut. Hast du Zeit, Peter? Gehst du mit uns?«
»Ich habe keine Lust auf einen Spaziergang«, meldete sich die Mutter. »Ich habe jetzt auch nicht die Kraft dazu.«
»Mama!«, fuhr Carla sie an. »Du sitzt hier schon den ganzen Morgen auf dem gleichen Sessel. Gestern hast du nur gelegen. Auch wenn du noch müde von der Spritze bist. Du musst mal andere Luft schnappen!« Sie wurde so intensiv während der Aussage, dass die Mutter einwilligte und ihre Handtasche suchte.
»Hier liegt sie unter dem Dielentisch. Bei dem ganzen Durcheinander mit der Spurensicherung und den anderen Beamten ist sie wohl irgendwie darunter gefallen.«
Die Mutter öffnete den Magnetverschluss der Tasche, bekam aber den Reißverschluss darunter nicht auf. Carla musste helfen.
»Was suchst du denn?«
Den Spiegel und den Lippenstift. Carla fand beides sofort und ihr fiel auf, dass ihre Mutter ihre Handtasche noch immer so aufgeräumt hatte, wie sie es als Teenager immer für spießig gehalten hatte. Sie trug damals immer nur ein Hirtentäschel bei sich, in das man einfach alles hineinwarf. Sie sah Mutters Handy und nahm es aus der Tasche. Es gab mehrere Meldungen über unbeantwortete Anrufe.
»Hier bitte, Mutter, jede Menge Anrufe für dich. Möchtest du nachsehen?«
Die Mutter nahm es an sich. »Alle nicht so wichtig«. Sie blätterte durch. »Nur die Vereinskameradinnen und Opa Conrad. Lasst uns zuerst einmal den Spaziergang machen. Dann kann ich heute Abend alle nacheinander zurückrufen. Opa hat mir vorhin schon gesagt, dass er auf dem Handy angerufen hat.«
Als sie gerade aus dem Haus traten, hörten sie einen Wagen die Einfahrt heraufkommen. Es waren die Kommissare Berendtsen und Schwertfeger. Sie warteten ab.
»Guten Morgen Familie Friedmann.« Berendtsen hatte schon wieder ins Fettnäpfchen getreten. Er hatte zeitweise so Aussetzer, die er schon oft hatte ausmerzen wollen, aber es passierte eben. »Ich meine: guten Morgen Frau Friedmann.« Er gab der Mutter die Hand, dann der Tochter. »Frau Friedmann, Herr Friedmann.« Er knöpfte sein Jackett offen. »Dürfen wir beide noch einmal stören? Wir habe nur einige kurze Fragen an ihre Mutter. Es wird nicht lange dauern.«
Peter schlug vor: »Dann lassen Sie uns einige Schritte gehen. Wir haben Mutter gerade vorgeschlagen, einen kleinen Spaziergang mit uns zu machen. Gehen Sie beide mit uns einige Schritte?
»Ja gerne.«
Sie machten sich schweigend auf den Weg. Als sie am Hoftor angekommen waren, fing Schwertfeger an:
»Wie fühlen Sie sich, Frau Friedmann?«
»Bescheiden.«
Berendsen stellte die erste Frage: »Frau Friedmann, ich nehme an, Sie haben keine Idee, wer ihrem Mann das angetan haben könnte?«
Sie schüttelte nur den Kopf. Und ging weiter. »Mein Mann war ein sehr lieber Mensch und den Mitbewerbern nie ein Dorn im Auge. Ich kann nur immer wieder betonen, dass ich keine Ahnung habe, wer das getan haben könnte.«
»Kennen Sie vielleicht das Mädchen, das gestern Nacht im Lamm ermordet wurde? Frau Maria Koráshvili?«,
»Ich habe davon gehört, Herr…? »
»Schwertfeger.«
»Herr Schwertfeger, aber ich kenne niemanden, der so heißt. Überhaupt nicht eine Person mit ‚vili‘ am Ende oder meinetwegen auch so ähnlich.«
»Verhielt sich ihr Mann vielleicht in den letzten Tagen oder Wochen anders als sonst?«, fragte er weiter.
»Nein. Außerdem war er ja fast die ganze Woche nicht zuhause.«
»Er war in Larnaka in einem Ihrer Hotels?«
»Ja sicher«
»Unsere Abteilung hat gründlich nachgeforscht. Wir haben auf ganz Zypern kein Hotel gefunden, das mit Ihrem Mann in Zusammenhang gebracht werden kann.«
»Dann sollen sie noch mal genauer nachsehen. Es heißt ›Kalirosa‹ und befindet sich in Limassol«.
Berendtsen wollte es genauer wissen: »Haben Sie vielleicht eine Adresse?«
»Alle Dokumente, die Sie brauchen«, erwiderte Peter, »stehen in den Rechnern, die sie konfisziert haben. Sie brauchen nur nachzusehen. Übrigens, wann bekommen wir diese zurück? Und, was noch wichtiger ist: wann können wir unseren Vater beerdigen?«
»Zu den Computern kann ich nichts sagen, aber der Leichnam ist freigegeben. Sie können alles Notwendige veranlassen.«
»Danke«
Die beiden Kommissare gaben auf. Sie blickten sich an und kamen ohne Worte zu dem Schluss, dass sie hier nichts Weiteres zu fragen hatten. Also verabschiedeten sie sich und gingen zum Auto zurück. Kurz darauf hörten die drei Autotüren schlagen und dann fuhren die beiden an ihnen vorüber, nicht ohne noch einmal anzuhalten. Schwertfeger ließ das Fenster herunter, händigte seine Karte aus und dann kam, was kommen musste:
»Wenn einem von Ihnen noch etwas einfällt…«
»..melden wir uns«, ergänzte Peter.
Der Wagen fuhr in Richtung Hauptstraße, hielt nach einigen Metern an und fuhr rückwärts. Berendtsen stieg aus, kam um den Wagen herum und holte ein kleines Couvert aus seiner Jackentasche, entnahm einen Zettel, auf dem er die Zeichenfolge der Karte aufgeschrieben hatte und zeigte diesen den Dreien.
»Kann einer von Ihnen damit etwas anfangen?«
Peter musste sich beherrschen. »Was ist das?«
»Diese Zahlen waren auf einem Magnetstreifen einer Art Hotelkarte, die das gleiche Aussehen hatte, wie der Zettel, den wir mit Ihrer Adresse bei dem Mädchen gefunden haben: das gleiche Logo, die gleichen griechischen Buchstaben. Wir haben die Karte ebenfalls bei dem Mädchen gefunden. Sie hatte ihn an ihrem Oberschenkel unter einem Pflaster versteckt.«
Peter prägte sich den Code ein. »23817 GE - 21203«, las er vor. »Was soll das bedeuten?«
»Wir dachten, Sie könnten uns dabei helfen.«
»Es wird ein Passwort sein«, schlug Carla vor, »denn ein Kreditkarten-Pin kann es nicht sein… wegen der Buchstaben.«
»Zu dem Computer Ihres Vaters passt es nicht. Der ist für uns keine Hilfe. Alles ist in einer Cloud ausgelagert und wir kommen nicht dran. Wir haben sogar EDV-Experten vom LKA angefordert, aber keiner von diesen sogenannten Fachleuten ist bisher dahinter gekommen. Wir haben schon bei verschiedenen Providern nachgefragt, aber wir kommen einfach nicht weiter. Sie wissen nicht zufällig, wohin er seine Daten ausgelagert hat?«
»Nein, ich habe wohl die Internetadressen, aber die werden sie ja schon haben. Ich weiß auch gar nicht, warum er solche geheimnisvollen Dateien haben soll. Sind Sie denn überhaupt sicher, dass er solche Dateien hat?«
»Er muss ja irgendwelche Dateien haben, aber der Rechner ist leer. Das Passwort zum Start haben wir. Es war einfach zu finden. Wenn er diese Dateien irgendwo ausgelagert und so sehr versteckt hat, dass man sie nicht finden kann, dann sind unserer Erfahrung nach immer Geheimnisse darunter.«
Peter las noch einmal laut vor, auch um sich den Code zu merken. »…könnten es Datumsangaben sein… Ich meine, wenn man mal von den Buchstaben absieht?«
»Vielen Dank jedenfalls für die Mühe. Die Adresse von uns haben Sie ja.«
Peter diktierte diese Zahlen- Buchstabenkombination direkt in sein iPhone. Mit Blick auf seine Mutter und Carla forderte er: »Damit nur eines klar ist: dieser Code bleibt unter uns dreien. Er findet keine Erwähnung bei niemandem. Am besten, ihr vergesst ihn direkt wieder.«
Die Mutter verstand. Carla blickte ihn fragend an: »Warum? Gibt’s damit ein Problem?«
»Ja. Es scheint Leute zu geben, die so gierig darauf sind, dass sie dafür Menschen umbringen.«
»Soll das heißen…«
»Ja. Das soll das heißen«, sagte die Mutter bestimmt.
»Warum verschweigt Ihr beiden denn mir und der Polizei, was Ihr wisst? Das verstehe ich nicht«, sagte sie vorwurfsvoll. »Ich verstehe das nicht. Wirklich nicht!«
»Weil diese Leute das nichts angeht!« Carla merkte den sauren Unterton in der Stimme ihrer Mutter und stellte keine weiteren Fragen. Sie hoffte, das Peter, der ihr mehr zu wissen schien, ihr später mehr darüber erzählen würde.
Der Spaziergang wurde länger, als sie geplant hatten. Man hatte sogar eine Bank gefunden, von der nur noch die Mutter wusste, dass es diese noch gab. Als Kinder hatten sie oft darauf gesessen und gespielt. Er hatte mit Autos geschoben und Carla ihre Puppen erzogen. Dann sprach ihn seine Mutter auf seine vielen Stöcke an, und er erinnerte sich, wie er sich kleine Wanderstöcke und Schwerter geschnitzt und mit seinem Taschenmesser reichlich verziert hatte. Ganze Nachmittage hatte er damit zugebracht. Dann hatte er seine Arbeiten irgendwo – meistens sonntags in einem Restaurant – stehen lassen und musste wieder von vorne anfangen. Er erinnerte sich, dass er hinterher eine richtige Fertigkeit darin erworben hatte und, wenn der Stock dick genug war, sogar unter dem Griff oben ein Gesicht eingraviert hatte, sogar ausgearbeitet mit Stirn, Nase und Kinn.
Als Carla die Haustüre aufsperrte, war sie froh, dass sie ihre Schuhe unter die Garderobe stellen konnte. Sie ging auf Strümpfen weiter. Der Mutter ging es nicht anders.
»Es ist Zeit für ein Mittagessen. Soll ich etwas kochen? Oder gehen wir zum Heidehaus? Wie Ihr wollt.«
Sie einigten sich auf Tiefkühlpizza
Als Carla sich am Backofen zu schaffen machte, beugte Peter sich zu seiner Mutter herunter, die im Sessel saß, stützte sich auf die Armlehnen, sah ihr fest in die Augen und fragte ganz unvermittelt:
»Was hat ein gewisser Gregori mit uns zu tun?«
»Gregori ist tot.«
Peter kannte seine Mutter zu genau, als dass er eine Chance sah, durch Nachfragen mehr zu erfahren.