Читать книгу Der rasierte Fisch - Gert Podszun - Страница 3
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Wieder ein Umzug. Richard Benn packte selbst mit an. Zwölf Stufen bis zum Lift. Die Treppenstufen hier in Valencia waren anders als andere. Anders als in der letzten Wohnung in Berlin. Er hob den von der Schwiegermutter geerbten antiken Spiegel vom Umzugswagen. An einer Stufenkante stolperte er. Das wertvolle Erbstück rutschte in seinen feuchten Händen. Kippte aus seinem Griff. Es klirrte.
Mit den letzten herunter fallenden glitzernden Splittern und deren Zerknirschen unter seinem Tritt fiel eine Last von ihm. Er dachte an seinen allerersten Umzug, besser den Auszug. Damals. Vor dieser Erbgeschichte. Als er aus dieser fremden Wohnung gehen musste. In Berlin.
„Das war wie ein Erdbeben!“
Ihre Worte hatten sich in ihn eingegraben. Mit Wurzeln, die sich rasch in ihm verzweigten und ihre Nahrung fanden. Und er versorgte sie, diese Wurzeln. Auch später noch. Ihm schmeckte diese Nahrung der Erinnerung. Ein Geschmack, wie der Saft einer immer frischen Frucht.
Sie hatte ihre von der Sommerschwüle schweißnassen Brüste mit beiden Händen bedeckt und war mit einem fordernd zweifelnden Blick erst auf ihn zu und dann an ihm vorbei gegangen. Er hatte damals gewusst, dass er alles zu vergessen haben würde, nicht daran denken durfte und trotzdem daran denken würde. Einen letzten gefühlten Eindruck trug er seitdem wie ein Paket mit sich: sie war ganz nahe zu ihm, aber dann doch an ihm vorbei gegangen. Der Duft ihres Körpers hatte ihn eingehüllt. Wie in einen süßen Nebel. Ein Nebel, der mit dem aufkeimenden Tageslicht rasch verfliegen sollte. Er verweilte damals noch eine kleine Weile in diesem Dunst.
Ein erstes und letztes Mal war er davon eingefangen. Dachte er. Sie blieb damals im Bad. Vor etwa zehn Jahren. Er erinnerte sich an das Ende dieses gewesenen Morgens. Die leicht schleifenden Geräusche der Straßenbahnräder in den alten Schienen unmittelbar vor dem Haus, in dem sie wohnte, stiegen an der Häuserwand hoch in sein Ohr und mahnten ihn an die Zeit. Die Zeit der Fahrpläne, die manches Leben wie ein Gitternetz überziehen. Und an die Zeit der Arbeit, der Pläne für die Arbeit.
Sie duschte bestimmt lange. Er wäre ihr gerne nachgegangen. Aber eine unsichtbare Hand drückte dergestalt gegen seine Brust, dass ihm der Atem auszugehen schien. So mächtig war die Kraft des gerade vergangenen Erlebnisses. Seine Hände verließen ihre bisher ohnmächtig hängenden Positionen an seinem Körper und kramten seine Kleidungsstücke zusammen. Die abgekühlten Finger nestelten die blind gefundenen Verschlüsse seiner Kleidungsstücke nahezu automatisch zusammen und griffen zuletzt nach der Krawatte. Er wusste in diesem Moment nicht genau, ob er sie selbst gekauft hatte oder ob sie ein Geschenk war. Etwas Endgültiges zwängte ihn durch die Ausgangstür. Sie wusste ja, dass er gehen würde.
Die immer noch fremde Luft des Treppenhauses ummantelte ihn mit einem kratzigen Gefühl, welches sich erst legte, als die erste Ampel ihm mit ihrem Rot die Botschaft des Alltages sandte. Das war seine letzte Erinnerung an Berlin. Es war während der Stundentenzeit. Und ein tief sitzendes Gefühl! Mit Erdbeben.
Er war nach dem Abschluss des Studiums auf der Suche nach beruflichen Aufgaben aus Berlin fort gegangen und hatte ein fahles Bild des Treppenhauses in sich mitgenommen. Schließlich war er in Bielefeld gelandet. Er, Richard Benn, war jetzt wieder auf dem Weg nach Berlin. Etwa zehn Jahre nach dem Erdbeben.