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Ernst Friedrich lenkte den Wagen in die Sybelstraße und schaute Richard an:

“Sage mir bitte, ich weiß das nicht mehr genau. Wie war das damals hier mit Jeannette? Du wohntest doch in der Budapester Straße und warst doch hinter Jeannette her, oder liege ich da falsch?“

„Das war eine tolle Bude. In einem Altbau, hohe Decken, selbst gebautes breites Etagenbett, darunter der Schreibtisch und damit noch genug Platz für einen großen Tisch. Und eine ziemlich große Küche mit Terrakottaboden. War eine schöne Zeit.“

„Du lenkst ab. Was war mit Jeannette?“

„Sage mir einmal, warum Du das wissen willst. Warst Du nicht auch hinter ihr her?“

„Das waren viele. Sie hatte langes blauschwarzes Haar, welches fast bis zu ihrem Po reichte. Es war leicht gewellt und glänzte bei jedem Licht. Alle waren fasziniert. Selbst unser Professor, wenn er mal mit auf einem der Unifeste war, stakste hinter ihr her. Und der Kommilitone Schürzenjäger, wie hieß der noch, ach ja, Bachmann, Walter Bachmann, der ließ alles stehen und liegen, wenn Jeannette auftauchte. Aber sie mochte ihn nicht. Ich selbst hatte Gefallen an ihr, aber ich kam irgendwie nicht an sie heran. Sie hatte so einen Blick, der einem sagte, dass es keinen Sinn hat, mit ihr engeren Kontakt aufnehmen zu wollen. Au, jetzt habe ich schon zu viel gesagt. Jetzt bist Du dran.“

Richard unterbrach ihn: „Schau mal, da ist das Haus, suche einen Parkplatz, wir reden später weiter.“

Die Maklerin hatte ihren Wagen so geparkt, dass zwei Parkplätze direkt vor dem Haus blockiert waren. So konnte Ernst Friedrich ohne weitere Suche einparken.

„Guten Tag, die Herren, Marianne von Bülow, Immobilien Hengst. Ich freue mich, dass Sie so spontan und kurzfristig zu diesem Besichtigungstermin kommen konnten. Sie werden der potentielle Mieter sein, Herr …?“

Richard stellte sich vor und schloss seiner Vorstellung die seines Freundes an, dem er hier für die Unterstützung dankte.

„Ja, Herr Peters und ich, wir kennen uns von andern Objekten, weil er für Mitarbeiter in seiner Firma schon oftmals vermittelnd tätig geworden ist. Sie werden nicht in seiner Firma arbeiten?“

„Nein, ich beginne bei der SignaTec AG.“

„Eine moderne und aufstrebende Firma im Gesamtkonzern. Ich kenne einige Mitarbeiter aus dem mittleren Management. Hier ist meine Karte.“

Die Besichtigung des Hauses war nach einer halben Stunde abgeschlossen. Richard erkundigte sich nach einem Exposé und nahm es an sich:

„Ich werde das Exposé mit meiner Frau das studieren und dann werden wir mit ihnen Kontakt aufnehmen. Betreuen sie dieses Objekt alleine?“

„Ja, wir sind so organisiert, dass jeder Mitarbeiter im Außendienst ein Portefeuille von Objekten hat, für deren Vermittlung er alleine verantwortlich ist.“

Marianne von Bülow streckte Richard ihre Hand entgegen. Er hielt sie für einen Moment fest. Sein Blick streichelte ihre rotblonden Haare, die grünen Hänger an ihren Ohren und verweilte kurz bei den Sommersprossen auf ihrer Stirn, glitt in das Blaugrün ihrer Augen, fiel über die vollen Lippen ihres leicht geöffneten Mundes über das auffallende pralle Dekolleté auf ihre Hand, welche den angehauchten Handkuss entgegen nahm.

„Sie hören von uns. Vielen Dank für Ihre Zeit.“

Richard und Ernst Friedrich winkten der Maklerin beim Wegfahren hinterher.

„Das Haus könnte mir gefallen, aber ich muss erst mit Angelika darüber sprechen. Sie hat ja mit Elvira auch noch Alternativen gefunden, denke ich. Und ihr soll es ja auch gefallen.“

„Du hast ja eine zeitliche Option auf das Haus von vierzehn Tagen, da könnt ihr in Ruhe überlegen. Den Termin mit Frau von Bülow kannst Du dann ja selbst machen. Apropos Termin. Hast Du damals eine Verabredung oder mehr mit Jeannette gehabt?“

Richard erinnerte sich:

„Keiner wusste davon. Ich hatte lange gebraucht, bis ich Jeannette wirklich habe näher kennen lernen können. Ich bewunderte nicht nur ihre bemerkenswerten Haare, das hast Du ja selbst bestätigt. Sie hatte immer eine ausgezeichnete Körperhaltung, so als wenn sie in einer Tanzshow auftreten wolle, einen angenehmen geschmeidigen Gang. Ihre Hüften bewegten sich natürlich, vollkommen. Ihre Figur ist heute noch attraktiv, wenn sie wirklich Jeannette ist. Auf Deinem Fest habe ich festgestellt, dass sie immer noch die Kleidergröße von früher trägt. Ihr Busen ist vielleicht eine Körbchengröße gewachsen. Es steht ihr sehr gut.“

„Erzähle nicht so lange. Warst Du mir ihr zusammen?“

„Jeannette spielte damals in meinem Leben eine wichtige Rolle und das wirkt sich bis heute aus. Wir haben uns während einem dieser Studentenfeste kennen gelernt. Ich erinnere mich noch an unser erstes Gespräch. Ich wollte gerade gehen. Sie rief mir zu:

„Du kannst doch nicht gehen. Du hast doch eine Verantwortung!“

„Wie, Verantwortung?“

„Ja, nicht nur für Dich, sondern auch für die anderen.“

„Wieso?“

„Du bist ein Teil dieser Gemeinschaft. Da kannst Du Dich nicht einfach herauslösen!“

Ihre Stimme klang bestimmend und herausfordernd. Mich reizte es, dieses Spiel mitzumachen und reagierte:

„Ich bin ich und mache was ich will.“

„Wenn das jeder so täte, wären wir heute alle nicht hier.“

„Glaubst Du wirklich, dass es noch einen Gemeinsinn gibt, dass wir wirklich etwas gemeinsam haben?“

„Wir leben zum Teil davon, dass es diese Gemeinschaften gibt.“

„Das meinst Du jetzt aber eher politisch.“

„Was ist denn Politik anderes als verbindliches Planen und Handeln für die Gesellschaft.“

„Ich glaube, wir können dieses Thema nicht hier und jetzt abschließend behandeln. Ich lade Dich zu einem fortführenden Gespräch bei mir ein. Einverstanden?“

Jeannette antwortete zunächst nicht. Wir gingen aufeinander zu wie magnetisiert. Wortlos. Und schauten uns in die Augen. Ihre Augen hatten eine Tiefe, die ich zuvor nie erlebt habe. Ich hatte das Gefühl, in diese Augen eintauchen zu können und dort in einen Strudel zu geraten, der Begriffe aufhebt, die Schwerkraft ausschaltet und Raum und Zeit erneuert. Wir standen voreinander, wie lange, weiß ich nicht mehr. Aber es war wie eine Verabredung mit einer anderen Welt. Ich habe kein Blinzeln gemerkt.

Irgendwann wurde ich durch einen Schubs aus dem Bann ihrer Augen gerissen und nahm ihre Antwort entgegen;

„Ich bin neugierig. Ich werde Dir beweisen, dass auch Du ohne die Gemeinschaft nicht leben kannst. Wir sehen uns bei Dir. Ich habe Deine Adresse. Wann?“

Wir trafen uns wenige Tage später. Ich hatte Wein besorgt, ein wenig Salat vorbereitet und eine Pizza im Herd. Sie war pünktlich. Ihre Haare glänzten auch bei dem spärlichen Kerzenlicht. Wir sahen zunächst schweigend hinaus in den Abendhimmel. Ich hatte das Gefühl, dass es keine Zeit mehr gab.

Die Wolken über uns hatten hell-lila-farbene Unterkleider angelegt. Das späte Sonnenlicht wandelte sie in ein rosarotes Tagesvergessen mit einem feinen Glanz von feinem Hoffnungsschimmer an den flauschigen Rändern. Wir schwiegen. Aus der Tiefe dieser Stille kam ihre Frage:

„Was für eine Art von Politiker bist Du?“

„Ich bin kein Politiker!“

„Jeder, der in einer Gemeinschaft lebt, ist zwangsläufig ein Politiker.“

„Aber!“

„Nein, kein Aber, Du bist Politiker, entweder aktiv oder passiv, weil Du da bist, weil Du in einer Gemeinschaft lebst, ob Dir das passt oder nicht.“

Ich schaute in ihre Augen und sah, dass sie eine Botschaft für mich hatte, die ich noch nicht sofort verstehen würde. Aber ich würde so lange mit ihr sprechen und ihr zuhören, bis diese Botschaft mich erreichen würde. Sie war nicht fanatisch, aber überzeugt von dem Gewicht dessen, was sie mir sagen wollte. Ich bot ihr Wein an. Wir saßen zusammen am Tisch und aßen den Salat.

Sie übernahm die Initiative zur Fortsetzung des Gesprächs.

„In der Entwicklung eines jeden Lebens gibt es die Phase der Bestimmung des individuellen Lebenszweckes. Man macht sich ein Bild von dem, was in dem eigenen Leben noch geschehen soll. Das betrifft den Beruf, die eigene Familie, die Wertvorstellungen, nach denen man zu leben gedenkt. Das ist die Zeit, in der man schöpferisch tätig ist. Man erstellt den Entwurf eines Lebens, das Bild des zukünftigen Sein-Wollens. Und da dieses zukünftige Sein-Wollen nicht in einer faktischen Abgeschiedenheit stattfinden kann und wird, ist man zwangsläufig in einem politischen Umfeld, wobei ich hier politisch im ursprünglichen Sinne verstehe, nämlich insoweit, als der Begriff Gemeinschaft gemeint ist.“

„An dieser Stelle muss ich Dir Recht geben. Man ist ja zwangsläufig von Mitmenschen umgeben, egal wo. Selbst Einsiedler sind auf andere Menschen angewiesen, weil sie nicht alles für ihr Leben alleine leisten können, um zu überleben.“

„Gut, dass Du dieses Beispiel nennst. Wenn Du Deinen Lebensentwurf machst – und das findet ja mehr in der Jugend statt als im hohen Alter – musst Du Dich auf eine spätere Einsamkeit vorbereiten. Daran kommst Du nicht vorbei, gleich ob Du allein leben willst, ob Du Familie haben willst oder ob Du auf einer dieser vielen Bühnen stehen wirst, die das Leben anbietet. Du musst bereit sein für Deine Autonomie, die sich aus Dir entwickeln wird. Es bleibt eine Einsamkeit. Sie mag begleitet sein. Von Freunden, von Partnern, von Kindern, von Fremden.“

„Woher weißt Du das und wie kommst Du auf solche Gedanken?“

„Meine Eltern sind früh gestorben. Ich habe aus dem Leid gelernt. Und es ist in mir. Auch macht es mir Angst.“

„Man sagt, dass Angst stark macht, so wie Leiden stark macht. Ist das so? Entsteht durch Angst und Leiden Kraft?“

„Ja, die Kraft zur Gelassenheit, zum Verzicht, zur politischen Verantwortung, zum Verzicht auf Eitelkeit, zum Genuss des Daseins und zur Akzeptanz der Gefühle.“

„Wie kommt man Deiner Meinung nach dahin?“

„Zunächst muss man sich selbst mit seinem Lebensentwurf annehmen und seinen Weg gehen.“

„Und wenn man den Weg betritt?“

„Ist gleich alles anders.“

„Dann kann man das doch gleich vergessen!“

„Nein, gehen musst Du sowieso. Durch die Erfahrung des Weges kommt die Reife zur großen Bescheidenheit. Darin liegt die Basis für ein etwas größeres Glück.“

„Hast Du es schon gefunden?“

„Ich bin auf dem Weg.“

Wir schwiegen in dem nur von wenigen Kerzen belichteten Raum.

Der Abend hatte inzwischen seinen Abschied genommen von dem lebendigen Tag. Das späte Blau des sternenlosen Himmels rang mit dem wachsenden Schatten der kommenden Nacht.

Ich konnte mich nur schwer von dem Anblick ihrer selbst in diesem späten Licht noch glänzenden Haare lösen.

Ich suchte nach ihrer Hand und nahm sie in meine.

„Willst Du mich begleiten?“

„Es gibt immer Wege, die man alleine gehen muss. Stelle Dir einen Tanz vor, Musik, Harmonie, aber jeder muss dabei seine eigenen Schritte machen. Selbst wenn die Tanzenden die schönsten Gefühle haben und schweben, bleiben doch ihre Schritte getrennt.“

„Gibt es einen Ausweg, so wie Glauben oder Liebe?“

„Das sind Stützen oder Hilfen, die einen glauben machen, dass die Schritte leichter zu gehen sind. Aber das eigene Gewicht bleibt.“

„Ich werde über mein Gewicht nachdenken.“

„Und ich werde jetzt gehen. Wir sehen uns wieder.“

Wir trennten uns langsam. Ich hauchte Jeannette einen Kuss auf die immer noch fest gehaltene Hand.

„Ich hoffe bald.“

Ernst Friedrich erwartete die Fortsetzung der Schilderung und blickte fragend.

„Ich war aufgewühlt und wollte ihr nachlaufen, aber ich konnte es nicht. In dieser Nacht habe ich kaum geschlafen.“

„Und wann habt ihr euch wieder gesehen?“

„Ernst Friedrich, ich mache Dir einen Vorschlag: Du nennst mir ihre heutige Adresse und ich erzähle die Geschichte später weiter. Jetzt möchte ich gerne eine Pause haben. Ich muss viel nachdenken. Und wir treffen ja gleich unsere Frauen wieder. Da möchte ich schon gegenwärtig sein.“

„Ich bin einverstanden.“

Ernst Friedrich öffnete die Wagentür und schaute Richard ernst an:

„Bevor ich dir die Adresse gebe, muss ich Dir etwas erklären: Wie Du weißt bin ich Wirtschaftsjournalist bei der ADCO AG. Ich kenne natürlich die Interna und die Betriebsgeheimnisse und bin gehalten, keine Informationen, egal welcher Art, weiter zu geben. Jeannette arbeitet in einer Unternehmensberatungsfirma, welche auch für die ADCO AG tätig ist. Dr. Hartweich hat früher in der ADCO gearbeitet. Ich möchte nicht als Informant genannt werden, auch wenn es nur die Adresse ist. Ich gebe Dir die Karte der Unternehmensberatung zur Ansicht. Du kannst Dir die Adresse notieren. Mehr kann ich da nicht tun. Ich hoffe, dass Du das verstehen kannst.“

Richard nahm die Karte, notierte sich die Adresse in seinem Mobiltelefon und bedankte sich.

„Das ist in Ordnung, diese Adresse wird mir sicher helfen, Jeannettes private Adresse ausfindig zu machen.“

Sie fuhren zu dem Treffpunkt mit ihren Frauen.

Richard wandte sich an seinen Freund:

“Ich gehe davon aus, dass die Sache mit der Adresse unter uns bleibt.“

„Selbstredend.“

Wenig später sahen sich die beiden Paare wieder. Alle erhaltenen Unterlagen über die möglichen Wohnungen wurden besprochen. Angelika sammelte alle Unterlagen zusammen und wollte sie mit nach Bielefeld nehmen. Dort wollte sie alles sichten. Zuletzt fragte sie:

„ Es wird doch noch ein paar weitere Angebote geben?“

Ernst Friedrich konnte sie beruhigen.

„Das ist erst der Anfang. Über unsere Firma bekommt Ihr noch weitere Angebote. Das dient erst einmal der Einstimmung, damit Ihr wisst, wie hier die Konditionen und die Preise sind. Außerdem wird der neue Arbeitgeber von Richard Euch bei der Suche auch noch unterstützen. Es gibt da eine Mitarbeiterin in meiner Firma, die den Angestellten des Konzerns bei Wohnungsfragen zur Seite steht. Ich gehe davon aus, dass Richard schon am Montagmorgen weitere Objekte vorgelegt bekommt. Vielleicht wäre es ganz gut, wenn er die gleich besichtigt, dann habt Ihr schneller eine noch bessere Übersicht.“

Angelika versank einen kurzen Moment in Nachdenklichkeit und schaute dann Richard an: „Wir haben ja schon geklärt, dass ich am Sonntag fliege und Richard frühestens am Montag. Da könnte er auch noch etwas länger bleiben.“

An Richard gewandt fragte sie nach:

„Wie ist das eigentlich mit der Probezeit? Normalerweise gibt es doch eine Probezeit, wenn man eine Stelle neu antritt. Oder gilt das hier bei Dir nicht?“

Richard setzte ein strahlendes Lächeln auf. „Du hast grundsätzlich Recht. In den meisten Verträgen wird eine Probezeit vereinbart. Wir haben aber bei den letzten Gesprächen in Anwesenheit von dem Geschäftsführer der Personalberatungsgesellschaft und dem verantwortlichen Vorstand eine Qualifizierungsprüfung gemacht. Die habe ich bestanden. Man hat mir schriftlich zugesichert, dass die Probezeit in meinem Falle nicht wirksam ist. Das steht auch im Anstellungsvertrag. Du musst Dir also darüber keine Gedanken machen. Hinzu kommt, dass alle Mitarbeiter des Vorstandes und in meiner Ebene eine kontinuierliche Gesundheitsvorsorge erfahren. Aber Du hattest natürlich einen wichtigen Einwand.“

„Dann wollen wir uns noch einen schönen Samstag machen.“ schlug Ernst Friedrich vor. „Angelika fliegt morgen Vormittag. Ich begleite euch gerne zum Flughafen. So braucht Ihr keine Taxe zunehmen.“

Am Sonntag fuhr Ernst Friedrich Angelika und Richard zum Flughafen.

Der rasierte Fisch

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