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Kapitel 2 Die Kleine (vulkanische) Eiszeit Vulkanfreunde

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An einem klaren Wintertag Anfang des Jahres 1819 besuchten Mary und Percy Shelley die Ruinen von Pompeji bei Neapel. »Ich stand in gruftentstiegener Straßen Mitte«, erinnerte sich Percy1 Die Freilegung von Pompeji ein halbes Jahrhundert zuvor hatte in den Köpfen der Europäer den Vulkanismus zum Leben erweckt. Die der Erde entrissene Stadt bot ein überwältigendes Bild menschlichen Elends infolge einer großen Eruption. Die Shelleys wanderten zwischen den grandiosen Theatern, Villen und exakt gezogenen Straßen einer fortgeschrittenen Gesellschaft umher, die im Jahr 79 quasi über Nacht unterging. Dass der Vesuv jüngst aus einer Ruhephase erwacht war und mit »Rülpsern« an seine Gewalt erinnert hatte, machte für die Touristen der Romantik die Szenerie perfekt. Als Percy Shelley beobachtete, wie der Vesuv »Mengen dicken weißen Rauchs hervorrollte«, hatte er in seiner lebhaften Fantasie prompt das grauenhafte Schicksal der Bewohner von Pompeji vor Augen. Shelley versuchte sich in einem Brief an seinen Freund Thomas Love Peacock in populärer Vulkanologie und stellte zum Geschehen in Pompeji die Theorie auf: »… die Art und Weise der Zerstörung ist folgende. Zuerst erschütterte ein Erdbeben es und hob von fast all seinen Tempeln die Dächer ab spaltete seine Säulen, dann ging ein Regen aus leichten kleinen Bimssteinen nieder, danach Sturzbäche kochenden Wassers vermischt mit Asche.«2

Vulkanausbrüche waren Anfang des neunzehnten Jahrhunderts groß in Mode. Die Reiseberichte des Pioniers der Erdwissenschaften Alexander von Humboldt – die im Jahr der Tambora-Explosion auf Englisch veröffentlicht wurden – boten den Lesern atemberaubende Schilderungen des majestätischen Cotopaxi in den Anden und des rauchenden Vulkangipfels auf Teneriffa. Der schottische Naturforscher George Steuart Mackenzie hatte 1811 seinen Reisebericht über die Vulkane auf Island publiziert, wo er auf eine Landschaft stieß, die erst jüngst durch eine Eruption zerstört worden war:

Die Scene vor uns war nun äußerst schauerlich. Die Oberfläche mit schwarzen Kohlen bedeckt, die verschiedenen Vertiefungen mit hohen Klippen und schroffen Spitzen eingefaßt, ohne irgendeine Spur von Vegetation, durch den schwebenden Nebel noch mehr verdüstert; – eine gänzliche Stille, Alles stimmte mächtig zu grausigen Gefühlen.3

Da Vulkane für einen derart faszinierenden Cocktail an Emotionen – einen Mix aus Schrecken und Vergnügen, Erschütterung und Aufgewühltheit – standen, wurden sie in der Literatur der Romantik geradezu inflationär als Metaphern eingesetzt. Dank der lebendigen Berichte aus erster Hand von Sir William Hamilton – dem Amateurvulkanologen und britischen Gesandten in Neapel in den 1760ern und 1770ern – avancierte die Besteigung des Vesuv zum Höhepunkt der Grand Tour. Der gefeierte Wissenschaftler Humphry Davy kletterte in den Jahren 1819 bis 1820 vierzehn Mal auf den kochenden Gipfel und entnahm dabei Lavaproben für eine chemische Analyse: »… seine Oberfläche schien in heftiger Agitation, große Blasen stiegen auf, die beim Zerplatzen einen weißen Rauch erzeugten.«4 Nur Monate zuvor hatten sich die Shelleys auf den Aufstieg zum Vesuv mit der Lektüre des beliebten Romans Corinne (1806) von Madame Stael vorbereitet, deren eher schmelzflüssiger Stil sich an nachstehendem Auszug ermessen lässt: »Die einbrechende Nacht, in deren Dunkel der Feuerstrom des Vesuv immer sichtbarer hervortrat, regte endlich Oswalds Fantasie lebhaft an. Corinna benutzte den großartigen überraschenden Anblick, um ihn vollends seinen Erinnerungen zu entreißen; rasch zog sie ihn bis auf das aschige Ufer des glühenden Lavastroms.«5 Inzwischen war auf der anderen Seite des Globus, im Louisiana Territory, zu vernehmen, wie ein alter Prahmschiffer auf dem Mississippi die Schuld an den Erdbeben von 1811/12 in New Mexico, den schlimmsten in der Geschichte Amerikas, dem »alten Vesuv persönlich« gab. Die Macht dieses Feuerberges als kulturelle Ikone war wahrlich die Hemisphäre umspannend.


Abbildung 13 J. M. W. Turner, Mt. Vesuvius in Eruption (1812). Turner hatte den Feuerberg nie zuvor besucht, als er diese dramatische Wiedergabe des Vesuv malte. Das Bild stellt folglich weniger eine reale Landschaft dar, sondern ist das Produkt der populären Kultur in der Romantik – eine imaginierte Nachahmung von verbalen Beschreibungen, oder Gemälden, und Vulkan-Attraktionen in London.

Drüben in England boten die Eigentümer der Vergnügungsparks zahlreiche Vulkan-Attraktionen für jene, die sich einen Aufenthalt in Italien nicht leisten konnten. In den beliebten Vergnügungsgärten Londons verpackten die Ingenieure ihre pyrotechnischen Vorstellungen als Vulkanausbrüche neu und traktierten ihre Gönner mit nächtlichen Rauch-Effusionen, kakophonischen Rumplern und feurigen Blitzen, die aus riesigen Gipskegeln des Vesuv aufstiegen. »Der Vesuv spuckt Feuerströme!« versprach eine typische Zeitungsannonce. Der Vergnügungspark Surrey Gardens, der sich sogar eines richtigen Sees rühmte, ließ in seiner Vesuv-Show die ganze Bucht von Neapel wiedererstehen. Die Reflektionen des Feuerwerks im Wasser erhöhten noch den Wow-Faktor des Spektakels, sodass die Betreiber des Parks der Konkurrenz einen Schritt voraus waren.7

Mit den gewaltsamen Umwälzungen der Französischen Revolution erhielt das Vulkanspektakel zusätzlich noch eine andere Symbolik.8 Am 16. Oktober 1793, auf dem Höhepunkt der Schreckensherrschaft Robespierres, stand Königin Marie Antoinette in Paris vor der Guillotine auf der jüngst umbenannten Place de la Révolution einem wogenden jakobinischen Mob gegenüber. Zwei Tage später fand im nahegelegenen Theätre de la Republique die Premiere eines Stücks mit dem Titel Le jugement dernier des rois (Der Tag des Gerichts für die Könige) statt, das der überzeugte Revolutionär und Journalist Sylvain Maréchal geschrieben hatte. In dem Schauspiel wird ein jämmerliches Häuflein abgesetzter europäischer Monarchen zusammen mit dem Papst auf einer tropischen Insel ausgesetzt, die von einem rülpsenden Vulkan bedroht ist. Nach einer Beschimpfung zum Abschied seitens ihrer jakobinischen Häscher werden sie zurückgelassen und sollen von einem Strom aus geschmolzener Lava verschlungen werden, der die Wut des aufbegehrenden französischen Volkes symbolisiert. Eine Pariser Zeitung ermunterte ihre Leserschaft zu einem Besuch mit dem Versprechen: »Ihr werdet sehen, wie alle Tyrannen Europas gezwungen sind, sich gegenseitig aufzufressen, und am Ende von einem Vulkan verschluckt werden. Eine Schau – wie gemacht für republikanische Augen!« Das Publikum reagierte auf die Tyrannenmord-Szene mit Gelächter und Beifall. Die offiziellen Repräsentanten der Revolution waren von Maréchals Theaterstück so beeindruckt, dass sie Tausende Drucke davon an die Truppen verteilen und wertvolles Schießpulver requirieren ließen, um die Vulkanfeuer der Revolution auch in einer verlängerten Spielzeit weiter am Brennen zu halten.9

Historisch gesehen stellt der Kult gewordene Vesuv demzufolge mehr als nur einen »Spezialeffekt« der Revolutionszeit 1789 bis 1830 dar. In der Fantasie der Europäer Anfang des neunzehnten Jahrhunderts nahm der Vulkanismus einen hohen Rang ein als passendes Symbol für die in Wellen auftretenden sozialen Krisen, welche die kleinen Leute zunächst als Aufwallung von Gewalt aus nächster Nähe erlebten: in den Toten auf der Straße, in den Soldaten, die Bauernhöfe plünderten, oder in den eingeworfenen Fensterscheiben am Marktplatz. Die zerstörerischen Zuckungen des ausbrechenden Vulkans schienen für einen nie dagewesenen Aderlass und Umbruch, wie er über das zivile Europa in den Jahren nach 1790 hinwegfegte, das beste Bild zu sein.

Vulkanwinter 1816

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