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Frankenstein und die Flüchtlinge

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Doch es wäre nicht recht, nur ausführlich auf die Makro-Implikationen des Nach-Tambora-Chaos einzugehen, ohne den Hauptopfern ein angemessenes Denkmal zu setzen: den »einfachen Leuten«, die sich der langen Qual gegenübersahen, Hungers zu sterben. Durch Hunger und Krankheit niedergezwungen, vergruben die Armen Europas hastig ihre Toten, bevor sie wieder den bitteren Kampf um ihr eigenes Überleben aufnahmen. Im schlimmsten Fall wurden Kinder von ihren Familien ausgesetzt und starben alleine und verlassen auf den Feldern oder am Straßenrand. Die wohlgeborenen Mitglieder des Shelley-Kreises sahen sich mit solch bodenlosen Zuständen natürlich nicht direkt konfrontiert. Mit ihren Kapitalreserven waren sie von den Lebensmittelkrisen, die Millionen Menschen auf dem Land in jener Zeit in Europa durchlitten, nicht betroffen. Nichtsdestotrotz haben sich die Chronisten von Mary Shelley und deren Freunden geirrt, wenn sie sich deren Leben auf dem Kontinent als eine Zauberblase aus Poesie, romantischen Villen und sexueller Faszination vorstellten. Die gefeierten Werke der Shelleys waren sehr wohl eingebettet in das Netz des ökologischen Zusammenbruches nach 1815, als eine Subsistenzkrise die Bevölkerung Europas schwächte und eine vom Hunger begünstigte Seuche Hunderttausende Leben dahinraffte.

Lord Byron und Percy Shelley unternahmen im Juni 1816 eine einwöchige Tour durch die Schweizer Alpen, bei der sie über Poesie, Metaphysik und die Zukunft der Menschheit diskutierten, aber auch die Zeit fanden, sich über die Dorfkinder zu unterhalten, die ihnen begegneten und die »außergewöhnlich missgestaltet und von Krankheiten befallen sind. Die meisten von ihnen waren verwachsen und hatten vergrößerte Kehlen.«39 In ihrem Roman Frankenstein, den Mary in jenem Sommer konzipierte, nimmt die schwachsinnige Kreatur des Doktors eine ähnlich groteske Gestalt an: Sie ist kaum ein menschliches Wesen, missgestaltet, bucklig und übergroß. So bemerkenswert Frankenstein als literarische Erfindung auch ist, Mary Shelley mangelte es für ihre Horrorgeschichte keineswegs an Inspirationen aus der realen Welt, nämlich durch die ins Elend gestürzte Landbevölkerung im Europa der Tambora-Zeit.

An jenem Gewitterabend in Genf, als ihr die Idee zu der Schauergeschichte einfiel, stellte sich Mary Shelley vor, wie Frankenstein aus einem Albtraum erwacht und sein scheußliches Ungeheuer neben dem Bett vorfindet, das »auf ihn starrt mit gelben, wässrigen, aber aufmerksamen Augen«.40 Die Schilderung erinnert an Percy Shelleys Begegnung mit »halbdeformierten oder verblödeten« Bettelkindern, die vermutlich vor Hunger mental gestört waren. Es ließen sich noch viele derartige Impressionen anführen. Ein anderer englischer Reisender, der 1817 von Rom nach Neapel fuhr, vermerkte »das fahle Aussehen der unglücklichen Bewohner dieser Region«. Auf die Frage, wie sie lebten, antworteten diese »zum Leben erweckten Gespenster« nur: »Wir sterben.«41 Das ländliche Europa verwandelte sich 1816 in ein Land der lebenden Toten. Wenn ihre Fantasie nicht durch die Erschaffung Frankensteins und des Vampirs erschöpft gewesen wäre, hätte irgendwer aus dem Shelley-Kreis mit Sicherheit den Zombie erfunden.

Mary Shelleys fantasievolle Ausgestaltung ihrer berühmten Kreatur trägt somit alle Charakteristika der von Hunger und Krankheit gezeichneten europäischen Bevölkerung in jenem schlimmen Tambora-Sommer. So wie die Flüchtlingsgruppen in ganz Irland und Italien Fleckfieber verbreiteten, während Mary Shelley an ihrem Roman schrieb, so stellt auch die Kreatur einen Wanderer und eine Bedrohung für die zivilisierte Gesellschaft dar. Schon bei der kleinsten Berührung sterben die Gesunden wie die Fliegen. Im Roman wird diese mörderische Kraft der übernatürlichen Stärke des Ungeheuers zugeschrieben. Doch die furchterregende Atmosphäre seines Amoklaufs wie auch seine Fähigkeit, über Tausende Meilen hinweg zuzuschlagen, wann immer es ihm in den Sinn kommt, lässt eher an die Ausbreitung einer Hungersnot oder Seuche denken.

Und genau wie den zahllosen Flüchtlingen, die auf den Straßen Europas in den Jahren 1816 bis 1818 Hilfe suchen, schlagen der Kreatur, sobald sie sich in eine Stadt wagt, Angst und Feindseligkeit entgegen, während die privilegierten Familien im Roman, die de Lacys und die Frankensteins, mit Entsetzen und Abscheu auf sie reagieren. Blicken wir über den viel diskutierten wissenschaftlichen Nachhall der Erschaffung des Ungeheuers hinaus, so kommen die Erlebnisse von Mary Shelleys Kreatur dem Niedergang der bedürftigen Obdachlosenheere in der Tambora-Zeit am nächsten. Der heftige Ekel von Seiten Frankensteins und aller anderen vor dem Ungeheuer ist aber auch ein Zeichen dafür, dass viele gutsituierte Europäer für die Millionen Opfer des Tambora-Klimas, die unter Hunger, Krankheit, Verlust ihrer Häuser und ihres Auskommens zu leiden hatten, keinerlei Mitgefühl empfanden. Wie die arme Kreatur sagt, litt sie zunächst »unter den Unbilden der Witterung«, aber »was noch schlimmer war, … der Feindseligkeit der Menschen«.42

Vulkanwinter 1816

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