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Die 1810er: Die kältesten Jahre überhaupt

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Der Vesuv spielte in der europäischen Vorstellungskraft zwar eine wichtige Rolle, doch auf das Weltklima übte er keinerlei Einfluss aus. Seine gelegentlichen Ausbrüche lagen dafür um mehrere Grade zu niedrig. Ist es folglich nicht eine Ironie, dass die Europäer Ende der 1810er Jahre, da sie in ihren Vesuv-Attraktionen Zerstreuung fanden, die planetenumspannende vulkanische Krise, in der sie lebten, gar nicht bemerkten? Angesichts des Stands von Wissenschaft und Kommunikationsmöglichkeiten allerdings – es gab weder Dampfschiffe noch Telegrafie, von Satelliten ganz zu schweigen – ist es keine Überraschung, dass es ihnen nicht gelang, die Punkte zu »telekonnektieren«.

Die heftigen Auswirkungen des Tambora auf die globalen Wettermuster gingen, zum Teil, auf die bereits instabilen Bedingungen zurück, die zur Zeit seines Ausbruches herrschten. Sechs Jahre zuvor, 1809, war ein großer Vulkan in den Tropen explodiert. Dieses Abkühlungsereignis, das durch den erhabenen Tambora im Jahr 1815 noch um ein Vielfaches verstärkt wurde, sorgte in dem ganzen Jahrzehnt für vulkanisches Extremwetter. Wir haben schon gesehen, dass es nur wenige historische Aufzeichnungen über die Eruption des Tambora gibt: verstreute Berichte von den Lieutenants und von Raffles sowie die übersetzten Verszeilen eines sumbawanischen Gedichts sind alles, was wir haben. Der unmittelbare Vorgänger des Tambora befindet sich allerdings so weit außerhalb des menschlichen Blickfeldes, dass selbst die Lokalisierung seines Standorts ein Rätsel bleibt. Die historisch gesicherte Tatsache der Eruption, die von Wissenschaftlern »1809 Unbekannt« genannt wird, konnte erst mit der Technik der Eisbohrkern-Analyse, die in den 1960er Jahren entwickelt wurde, nachgewiesen werden.10

Eisbohrkerne sind zylinderförmige Archive des jährlichen Schneefalls, die Tausende von Jahren weit zurückreichen und auf den Berggipfeln wie an den Polen aus Gletschern und Eisdecken entnommen wurden. Diese glitzernden Eisschäfte zählen zu den schönsten Artefakten der Natur, die jemals einer wissenschaftlichen Analyse unterzogen wurden, – und zu den wichtigsten. Trotz der markerschütternden Bedingungen bei ihrer Entnahme fällt es schwer, den Wissenschaftler nicht zu beneiden, dessen Aufgabe es ist, einem langen Eisbohrkern mit winzigen Bläschen, die im blauen Licht tanzen, seine Klimageheimnisse zu entlocken. Die Shelleys und ihresgleichen haben zwischen den Ruinen von Pompeji das Werk von Jahrhunderten betrachtet, doch die modernen Paläoklimatologen sehen in den perfekten apollinischen Körpern aus Gletschereis die Jahrtausende vor sich ausgebreitet.

In einem 1991 veröffentlichten Aufsatz wurde in Eisbohrkernen von beiden Polen überraschend ein starker Sulfatgehalt in den Schneefällen von 1810 und 1811 nachgewiesen, was auf einen großen Ausbruch in den Tropen hindeutet, der vergleichbar mit dem des berühmten Krakatau 1883 (mit einer etwa halb so großen Stärke wie der des Tambora) ist.11 Im Anschluss daran stufte eine weitere Eisbohrkern-Studie auf der Basis von Sulfatschichten überall in der Eisdecke Grönlands den 1809 Unbekannt als drittgrößte Eruption seit Anfang des fünfzehnten Jahrhunderts ein, gleich hinter dem Tambora und dem Ausbruch des Mount Kuwae auf Vanuatu im Jahr 1452.12 Die von diesem verursachte Abkühlung war im folgenden Jahr sicherlich in vielen Weltgegenden zu spüren. In Teilen Englands waren die ersten Tage mit späten Frösten im Mai 1810 die kältesten seit Menschengedenken, während die Hügel in den schottischen Lowlands den ganzen Frühling hindurch unheimlich weiß blieben. In Manchester sanken die Morgentemperaturen im Mai auf fünf Grad unter null.13 Eine derart extreme, für die Jahreszeit untypische Kälte war unerhört und sollte erst im katastrophalen vulkanischen Sommer von 1816 wieder auftreten.


Abbildung 14 Grafik mit den Sulfatablagerungen an beiden Polen, die den Eruptionen von 1809 und 1815 entsprechen. Da diese beiden großen Ausbrüche – der des Tambora war »kolossal« – innerhalb von sechs Jahren erfolgten, bewirkten sie ein signifikantes Absinken der globalen Temperaturen im ganzen Jahrzehnt.

Ein wahrer Hagelschauer an Forschungsarbeiten seit der Entdeckung des 1809 Unbekannt hat ergeben, dass das ganze Jahrzehnt von 1809 bis 1819 als das kälteste der historischen Aufzeichnungen gilt – eine finstere Auszeichnung. Nach einer Modellierung aus dem Jahr 2008 hatte von allen vulkanischen Ereignissen seit 1610 der Ausbruch des Tambora mit Abstand den größten Einfluss auf die globalen mittleren Oberflächenlufttemperaturen, dicht gefolgt vom 1809 Unbekannt im gleichen Zeitraum, dessen Abkühlungseffekt aber nur halb so stark war.14 Zwei im darauffolgenden Jahr publizierte Artikel bestätigten den Status der 1810er Jahre als »wahrscheinlich die kältesten in den letzten 500 oder mehr Jahren«, ein Faktum, das direkt den beiden großen Eruptionen in den Tropen, die so dicht aufeinanderfolgten, zuzuschreiben ist.15

Im Lichte dieser Ergebnisse können wir nun mit Sicherheit davon ausgehen, dass die klimatischen Bedingungen bereits vor dem Tambora-Ausbruch ungewöhnlich kalt waren. Dessen spektakuläre Eruption steigerte diese Abkühlung noch auf ein wirklich entsetzliches Ausmaß und trug zu einem Absinken der globalen Durchschnittstemperatur um etwa 0,7 °C im ganzen Jahrzehnt bei. Das mag nicht gerade hoch erscheinen, doch da die Abkühlung anhaltend und von einem steilen Anstieg extremer Wetterereignisse – Überschwemmungen, Dürren, Stürme und Sommerfröste – gekennzeichnet war, hatte das kalte globale Klima der 1810er Jahre verheerende Folgen für die Landwirtschaft, Lebensmittelversorgung und Krankheitsökologie der Menschheit, wie wir in den nachfolgenden Kapiteln mit oftmals grauenhaften Details noch sehen werden.

Doch wie grau waren diese vulkanischen Jahre de facto? Der schottische Meteorologe George Mackenzie führte von 1803 bis 1821 akribische Aufzeichnungen zum bewölkten Himmel über vielen Teilen der Britischen Inseln. Wo in den Jahren 1803 bis 1810 herrlich klare Sommertage mit im Mittel über zwanzig Grad herrschten, fiel die Temperatur im vulkanischen Jahrzehnt 1811 bis 1820 auf knapp fünf Grad. Dieser schreckliche Durchschnittswert wäre sogar noch niedriger ausgefallen, wären nicht gnädigerweise 1819 wieder die jahreszeitlichen Bedingungen aufgetreten, die der Dichter John Keats wegen ihrer »saftigen Fruchtbarkeit« in seinem Gedicht »An den Herbst« unsterblich machte. Für 1816, das Jahr ohne Sommer, verzeichnete Mackenzie überhaupt keine klaren Tage.16

In diesem ohne Unterlass bedeckten stürmischen Zeitraum entstand eine Manie für Wolken. Die Dichtung der 1810er (vor allem die P. Shelleys) ist voller nachdenklicher Betrachtungen zum »Wolkenland, prachtvolles Land!«, wie Coleridge es ausdrückte.17 Dasselbe in der Malerei. Am Ende dieser grauen Dekade hatte John Constable seine Impressionen von englischen Landschaften zugunsten experimenteller Bilder aufgegeben, die ausschließlich mit Wolken und deren subtiler Wanderung über den bedeckten Himmel gefüllt waren. Die 1810er waren auch das erste Lebensjahrzehnt von Charles Dickens. Seine tiefsitzende Erinnerung an eine vulkanisch geprägte Kindheit zieht sich durch sein Schaffen: Man denke nur an das Wetter in seinem Weihnachtslied – »schneidend kalt und auch neblig«. Obgleich er als Erwachsener und Schriftsteller ein sonnigeres, wärmeres England erlebte (alles ist relativ!), haben seine grimmen Witterungsbeschreibungen der 1810er Jahre doch als ultimative Darstellungen der immerzu bedeckten, durch Mark und Bein gehenden kalten Atmosphäre des viktorianischen London Eingang in die allgemeine Vorstellungswelt gefunden.

Der Tambora-Dekade der 1810er den Titel »längste anhaltende Kälteperiode« seit dem Mittelalter zuzusprechen ist keine Kleinigkeit, denn der Zeitraum 1250 bis 1850 wurde lange als die »Kleine Eiszeit« bezeichnet. Vor 1250 – in der sogenannten Mittelalterlichen Warmzeit – bauten die Engländer ihren eigenen Wein an, während die Dänen auf Grönland bäuerliche Siedlungen gründeten. Seit Ende des dreizehnten Jahrhunderts wurde ihnen allerdings ein derartiger Luxus durch häufige brutale Kälteeinbrüche versagt. Die Engländer machten ihre Weingärten dicht und fanden Gefallen am Schlittschuhlaufen auf der Themse. Natürlich trat keine universelle Vergletscherung ein und unterbrachen Wärmeperioden, die manchmal mehrere Jahrzehnte lang anhielten, den Trend der generellen Abkühlung. Absolut keine »Eiszeit« also – eher ein immer wieder unterbrochener, sechs Jahrhunderte währender Kälteeinbruch.

Klimamodelle haben gezeigt, dass die kalten Bedingungen der Kleinen Eiszeit außerhalb des Bereichs der natürlichen Variabilität liegen. Folglich sahen sich die Klimatologen gezwungen, deren anomale Ursache zu ergründen. Eine lange Zeit populäre Denkschule hat sich mit den Schwankungen der Sonneneinstrahlung befasst, die in den historischen Aufzeichnungen anhand von Berichten über die Sonnenfleckenaktivität nachzuvollziehen sind. Obwohl neuere NASA-Studien eine schwache Verbindung zwischen solaren Minima und kühleren Wintern stützen, haben dennoch lange Skeptiker die Sonne als Ursache der Kleinen Eiszeit infrage gestellt.19 Der renommierte Klimatologe Alan Robock hat, neben anderen, gezeigt, dass Schwankungen der Sonnenfleckenaktivität das globale Klima in Zeiträumen von Jahrzehnten oder auch Jahrhunderten nur wenig beeinflussen.20 Nach Robock, wie auch einer paläoklimatischen Studie in der kanadischen Arktis und Island im Jahr 2012, ist für die Auslösung der Kleinen Eiszeit stattdessen eine Serie von großen Vulkanausbrüchen Ende des dreizehnten Jahrhunderts verantwortlich, die möglicherweise mit einer massiven tropischen Eruption im Jahr 1258 (genauer Ort wiederum »unbekannt«) begann. Diese dichte Abfolge von Vulkanexplosionen im späten dreizehnten Jahrhundert veränderte die Basis des globalen Klimas um ein Grad oder mehr, über den Grenzwert hinaus, ab dem kältere Temperaturen durch Ausdehnung der arktischen Eisdecke sich selbst verstärken: eine klassische Rückkopplungsschleife des Klimawandels.

An sich sind einzelne Vulkanausbrüche der Stärke, welche die Kleine Eiszeit in Gang hielt, imstande, das Klima zwei oder drei Jahre lang zu beeinträchtigen, danach ist ihre Aerosolwolke aus der Atmosphäre abgeregnet. Vulkane allerdings, die in sogenannten Clustern ausbrechen – wie es im dreizehnten und in der Tambora-Zeit Anfang des neunzehnten Jahrhunderts der Fall war –, verursachen, da sich die Ozeane nur langsam erwärmen, eine kumulative Abkühlung des weltweiten Klimas, die weiterhin ein Jahrzehnt oder länger die Temperaturen nach unten drückt, nachdem der Vulkanstaub einer Eruption aus der Atmosphäre verschwunden ist.21 Somit haben die normalen Ausbrüche zwischen 1250 und 1850 die ersten abkühlenden Ereignisse verstärkt. Sechs Jahrhunderte nach dem Großen Unbekannten von 1258, als weltweit die vulkanische Aktivität nachließ und die Temperaturen im Steigen begriffen waren, stellte der berühmte Ausbruch des Krakatau, der 1883 weltweit Aufsehen erregte, einen letzten Aufschrei, oder eine Zugabe, der Kleinen »vulkanischen« Eiszeit dar.

Im Fall der frostigen vulkanischen 1810er Jahre hatte sich das globale Ozean-Atmosphäre-System noch nicht von der abkühlenden Wirkung des 1809 Unbekannt erholt, als die kolossale Eruption des Tambora erfolgte. Die Zeit nach 1815, also die zweite Hälfte des Jahrzehnts, ist die schlimmste anhaltende Wetterkrise des Jahrtausends. 1816, nach dem Tambora-Ausbruch, genoss lange im Volksmund den Status eines »Jahres ohne Sommer«. Aber das ist wahrlich keine große Lobpreisung (oder Beschimpfung). Das Faktum, dass 1816 als ein singuläres Jahr zu solcher Berühmtheit gelangte, stellt die umfassendere Klima- und Sozialgeschichte der 1810er, deren explosives Kernstück der Ausbruch des Tambora bildet, in den Schatten. Genauso wenig sollten wir die globale Wirkung des Tambora »nur« als ein Wetterextrem verstehen, das auf das Ende der 1810er Jahre beschränkt blieb. So wie der Vulkanismus, etwa im Fall der Kleinen Eiszeit, das Klima über Jahrhunderte beeinträchtigen kann, so lassen sich die sozialen Veränderungen, die durch einen klimatischen Umbruch in dem Ausmaß wie 1815 bis 1818 verursacht werden, über Jahrzehnte hinweg in die Zukunft verfolgen, wie die nachstehenden Kapitel zeigen werden.

Springen wir im Schnelldurchlauf ins zwanzigste Jahrhundert, finden wir nur 1912 den Mount Katmai in Alaska und 1991 den Pinatubo auf den Philippinen, die mit der gleichen Heftigkeit ausbrachen, wie sie in der Kleinen Eiszeit so oft vorkam. Sogar der mächtige Pinatubo, das größte Vulkanereignis des Jahrhunderts, erzielte nicht die Stärke des Tambora, ja nicht einmal jene von dessen kleinem Bruder, dem 1809 Unbekannt.22 In New York, wo ich in dem schneereichen Winter 1991/92 lebte, fühlte sich der Klammergriff des Pinatubo auf das globale Klima trotzdem happig an! Ich war gerade aus dem milden Süden Australiens eingetroffen und hatte in meiner völlig unzureichenden Straßenkleidung mit dem Schnee und dem eisigen Wind zu kämpfen, weshalb ich mich fragte, wie es nur jemandem habe einfallen können, an solch einem unwirtlichen Ort eine Zivilisation aufzubauen. Im Tambora-Jahr 1816 gelangten viele Menschen in New England und an der Atlantikküste zu demselben Schluss, und dies hatte tiefgreifende Konsequenzen für die Geschichte der Vereinigten Staaten (eine Story, die bis Kapitel 9 warten muss).

Vulkanwinter 1816

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