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»Die Sonne war erloschen«

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In einem Brief, den er in den letzten Julitagen 1816 schrieb, klagte Lord Byron, wie alle Freunde von Mary, über »dummer Niesei – Nebel – Regen – und ewige Dichte«.43 In seiner Auflistung der schlechten Witterung stach jedoch ein besonders deprimierender Tag hervor, »ein denkwürdiger dunkler Tag, an dem die Hühner sich mittags zum Schlafen auf ihre Stange setzten und die Kerzen wie um Mitternacht leuchteten«.44 Das muss dieselbe, die Sonne abschirmende Wolke gewesen sein, von der am 5. Juli 1816 in Lüttich als »eine ungeheure Masse in Form eines Berges« berichtet wurde.45 Höchstwahrscheinlich gehörte sie zum Tambora-Wetter, das Anfang Mai aus der Stratosphäre einen großen Batzen Vulkanstaub über der süditalienischen Stadt Tarent als roten Schnee niedergehen ließ, der die Einwohner in Angst und Schrecken versetzte.46 Der globale Dunstschleier des Vulkans, oder ein sehr dichter Teil davon, hatte sich direkt über Westeuropa festgesetzt.

Auf seinem Balkon in der Villa Diodati am Genfer See hatte Byron an dem Tag, als die Aschewolke die Sonne in den Alpen verdunkelte, einen Sitzplatz in der ersten Reihe. Zum Gedenken an dieses unheimliche Ereignis schrieb er ein langes apokalyptisches Gedicht, das er »Finsternis« nannte. Obwohl aus der Warte des privilegierten Adligen verfasst, gelang es Byron mit seinem starken humanistischen Vorstellungsvermögen dennoch, die buchstäbliche Untergangsstimmung dieses Tages im Juli 1816 mit Spekulationen über ein soziales Gefüge zu kombinieren, das sich infolge eines Umweltkollapses verändert hat. »Finsternis« kann insofern als klassische Betrachtung über die Konsequenzen des Klimawandels für die Menschen gelten. Das Gedicht beginnt unheilverkündend:

Ich träumte – doch es war nicht ganz ein Traum:

Die Sonne war erloschen, und die Sterne

Verdunkelt irrten durch den ew’gen Raum,

Glanzlos und bahnlos; und die eis’ge Erde

Flog blind und schwarz durch mondenlose Luft.

Der Morgen kam und ging, doch kam kein Tag,

Und jeden Wunsch und Trieb vergaß der Mensch

Im Schrecken dieser Not, und jedes Herz

Gefror zu selbstischem Gebet um Licht. (1–9)

Byron stellt sich vor, dass in einer vergifteten, öde gewordenen Landschaft jeglicher gesellschaftlicher Umgang der Menschen aufhört. Die traumatisierten Opfer der ökologischen Katastrophe leiden zuhauf unter sozial-emotionalen Störungen, die als überwältigende Gefühle des »Schreckens« und der »Not«, der Ungerechtigkeit und der Verbitterung sowie einer starken Ichbezogenheit erfahren werden.

In Byrons »Sieben Schmerzen«-Gedicht aus der Zeit nach dem Tambora-Ausbruch sehen wir einen thematischen Strang, den wir auch im Frankenstein wiederfinden: Inmitten meteorologischer Turbulenzen versiegt das menschliche Mitgefühl. Die »selbstischen Gebete« der Menschen führen zum Zusammenbruch der Gesellschaft, zu Gewalt und Chaos. In der vulkanisch bedingten Abkühlung von 1816 sind die Herzen der Menschen genau wie die Atmosphäre »gefroren«. Das ist Byrons Apocalypse Now. Das fragile Gebäude der Zivilisation ist zerbröckelt – keine Städte, keine Landwirtschaft mehr – und zwingt den noch verbliebenen traumatisierten Rest der Menschheit, durch eine Szenerie biblischer Verheerung zu wandern.


Abbildung 20 Lord Byron auf dem Balkon der Villa Diodati am Genfer See. Hier, im vielleicht berühmtesten angemieteten Haus der britischen Literaturgeschichte, spielte er im Sommer 1816 den Gastgeber für die Shelleys, beobachtete er den großen Sturm am 13. Juni und schrieb er das apokalyptische Gedicht »Finsternis«.

Die Stirn der Menschen trug im Licht der Angst

Unird’schen Ausdruck, wenn der Flackerschein

Darüberzuckte; einige lagen da,

Ihr Haupt verbergend, weinend; einige stützten

Das Kinn auf die geballten Fäuste, lächelnd;

Und andre stürzten hin und her und speisten

Ihr Grabesfeuer mit Holz und schauten mit

Wahnsinn’ger Unruh auf zum öden Himmel,

Dem Sargtuch einer Welt; und wieder dann

Mit Flüchen warfen sie sich in den Staub,

Knirschend und heulend. … (22–32)

Vögel fallen vom Himmel, Tiere werden massakriert und Kriege brechen aus – »Die Liebe war nicht mehr«. Dann taucht unweigerlich das Gespenst des universellen Hungers auf:

Die Erde war nur ein Gedanke: Tod!

Handgreiflich, ruhmlos – und die Qual des Hungers

Fraß an den Eingeweiden; Menschen starben,

Und ihr Gebein blieb grablos wie ihr Fleisch. (42–45)

Mit bemerkenswert vorausblickendem Einfühlungsvermögen antizipiert Byrons »Finsternis« das umfassende humanitäre Desaster, zu dem es infolge der anschließend auftretenden dreijährigen Klimakatastrophe in der Schweiz und auf der ganzen Welt kommen sollte. Zu einer Zeit, als die modernen Medien und das Informationszeitalter noch völlig in den Kinderschuhen steckten, sind Byrons apokalyptische Fantasie und Mary Shelleys legendäre Horrorgeschichte hervorragende Beispiele dafür, mit welcher Symbolsprache die literarische Welt Europas auf das soziale Trauma der Krisenjahre 1816 bis 1818 reagierte. In ihren unvergesslichen Werken imaginierten Byron und Shelley die Erfahrung von Millionen verhungernden und todkranken Menschen, denen in der Presse wie den Parlamenten Europas nie die gebührende Aufmerksamkeit zuteilwurde, sondern die, unbetrauert, überwiegend der Vergessenheit anheimfielen.

Vulkanwinter 1816

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