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Das goldene Königreich von Tambora
ОглавлениеErstaunlicherweise waren die beiden plinianischen Explosionen des Tambora nur für ungefähr 40 Prozent seines ausgeworfenen Materials verantwortlich. Während die gen Himmel gerichteten Eruptionen jeweils lediglich rund drei Stunden dauerten, hielt die kochende Kaskade pyroklastischer Ströme über die Hänge des Tambora einen vollen Tag lang an. Heißes Magma floss von der einstürzenden Kammer des Tambora nieder auf die Halbinsel, während Säulen aus Asche, Gasen und Gestein aufstiegen und wieder fielen und so dem Strom weiter Nahrung gaben. Die glühende Flut, welche die Halbinsel Sanggar verschlang, rollte mit großer Geschwindigkeit bis zu dreißig Kilometer weit ins Land und erstreckte sich letztlich über ein 560 Quadratkilometer großes Gebiet – eines der größten pyroklastischen Ereignisse, die je in der Geschichte verzeichnet wurden. Innerhalb weniger Stunden begrub sie die menschliche Zivilisation im Nordosten Sumbawas unter einer rauchenden meterhohen Ascheschicht.
Die Ströme an Auswurfmaterial, die sich ins Meer ergossen, zeichneten die Landkarte von Sanggar neu. Wälder und Dörfer wurden eingeäschert, und die Küste der Halbinsel wuchs, wie bei einer gigantischen vulkanischen Geländeaufschüttung, um mehrere Kilometer an. Als der Tambora seinen unterirdischen Magmasee geleert hatte, fiel der Bergkegel in sich zusammen. Dabei wurde so viel Material aus seinem Inneren ausgeworfen, dass eine katastrophale Absenkung unausweichlich war, und irgendwann am 11. oder 12. April implodierte der Tambora und bildete eine sechs Kilometer breite Caldera an der Stelle aus, wo einst sein erhabener Gipfel gewesen war. Dieser riesige Vulkanschlund zählt zu den größten, die sich auf der Erde seit dem Rückzug der letzten Eiszeit vor rund zwölftausend Jahren gebildet haben, und ist von der Größe her vergleichbar mit dem vor siebentausend Jahren entstandenen vulkanischen Crater Lake in Oregon. Alles in allem verlor der Tambora während seiner wochenlang wütenden Selbstzerstörung eineinhalb Kilometer an Höhe. Wo er sich einstmals zu einem klassischen Kegel erhob, ruhte er sich nun wie ein lang ausgestreckter Riese auf einem weiten Lavabett von seinen Wehen aus, seines Lebens beraubt.
Die Kakophonie der Explosionen am 10. April 1815 war Hunderte von Meilen weit zu hören. In der ganzen Region wurden Regierungsschiffe losgeschickt, die nach mutmaßlichen Piraten und eindringenden Marinen suchen sollten.16 In den Meeren nördlich von Makassar berichtete der Kapitän der Benares, eines Schiffes der Ostindienkompanie, anschaulich über die Zustände in der Region am 11. April:
Die Asche begann nun in Schauern zu fallen, und der Anblick insgesamt war wirklich entsetzlich und beunruhigend. Gegen Mittag schwand das Licht, das noch im östlichen Teil des Horizonts verblieben war, und hatte vollkommene Finsternis das Gesicht des Tages bedeckt … Die Dunkelheit war für den Rest des Tages so tief, wie ich niemals etwas Vergleichbares in der dunkelsten Nacht sah; es war unmöglich, die eigene Hand zu sehen, wenn man sie dicht vor die Augen hielt … Das Aussehen des Schiffes war, als das Tageslicht wiederkehrte, höchst ungewöhnlich; die Masten, Takelage, Decks und alles waren mit herabfallendem Material bedeckt; es sah aus wie kalzinierter Bimsstein, hatte fast die Farbe von Holzasche; es lag in Haufen von einem Fuß Tiefe in vielen Teilen des Decks, und ich bin sicher, es wurden mehrere Tonnen Gewicht über Bord geworfen.17
Nach 1815 stießen Schiffe sogar im Indischen Ozean, Tausende Kilometer weiter im Westen, noch jahrelang auf große Bimssteinfelder. Diese waren mit verbrannten Baumstämmen, den verkohlten Überresten der einmal dichten und wertvollen Wälder von Sumbawa, durchsetzt.
Während des Ausbruches glaubten die indigenen Völker auf Borneo im Norden, wo die Erde mit großem Getöse erbebte, der Himmel stürze herab, während an der Ostküste von Java die Vögel bis 11 Uhr am nächsten Morgen in benommenes Schweigen verfielen. Die Sichtweite sank auf wenige Fuß, so dick war der Fallout. Durch den nachlassenden Monsun nach Westen getrieben, verschlang die Aschewolke Sumbawa und Lombok, bevor sie über Bali niederging und die Insel einen halben Meter hoch unter Asche begrub.18 Ebendiese gigantische »düstere und schreckliche« Wolke – welche das pyroklastische Material des Tambora nach Westen trieb – konnte man dann dabei beobachten, wie sie sich von Bali aus der Küste von Java näherte, und es wurde sehr kalt.19 Als die Aschewolke des Tambora sich weiter ausdehnte und sich über eine Region, die fast so groß wie das Festland der Vereinigten Staaten war, erstreckte, senkte sich in einem Radius von 600 Kilometern zwei Tage lang Finsternis herab. Im gesamten Gebiet regnete eine Woche lang vulkanisches Material vom Himmel. An jedem dunklen Tag gingen die britischen Beamten bei Kerzenlicht ihren Geschäften nach, während die Zahl der Toten weiter stieg.
Abbildung 8 Zeitschiene der Eruption des Tambora, basierend auf Augenzeugenberichten und der späteren geologischen Analyse vor Ort.
Als irgendwann am 13. April endlich eine Andeutung von Sonnenlicht wiederkehrte, fanden sich die verstreuten Gruppen von Überlebenden auf der Halbinsel Sanggar in einer Landschaft wieder, die nicht wiederzuerkennen und verödet war. In allen Himmelsrichtungen hatte meterdicke Asche ihre Inselheimat, wie sie sie gekannt hatten, unter sich begraben. An der Westflanke des Berges, wo das Königreich »Tambora« selbst verschüttet worden war, verschwand eine komplette Ethnie, und mit ihr ihre Sprache, die südöstlichste der austroasiatischen Sprachfamilie. Auf den nahegelegenen Inseln waren die Zustände fast genauso schrecklich. Später tauchten Berichte über eine Hungersnot und Rattenplagen auf Lombok auf, während Tausende Balinesen sich selbst oder ihre Kinder für eine Handvoll Reis zu verkaufen versuchten.20
Ein noch schlimmeres Schicksal traf jene, die sich nicht auf den Sklavenmarkt zu retten vermochten. Infolge des Verbots des Sklavenhandels, das acht Jahre zuvor vom britischen Parlament beschlossen worden war, hatte der Gouverneur von Java, Stamford Raffles, den Sklavenmarkt in der Hauptstadt Batavia (heute Jakarta) per Gesetz untersagt, womit er auch ungewollt das einzige soziale Sicherheitsnetz, das seine Untertanen kannten, abschaffte.21 Man fragt sich, ob Raffles jemals die unvorhergesehenen Konsequenzen dieser fortschrittlichen Politik begriffen hat, ob ihn Berichte erreichten über die Kinderleichen, welche die Strände auf Bali säumten, getötet von ihren Eltern, die nicht imstande waren, sie für Essen zu verkaufen, und vermutlich auch nicht gewillt, ihnen bei dem langsamen Verhungern zuzusehen, das ihnen selbst bevorstand.22
Abbildung 9 Die Karte zeigt die Dichte des Ascheregens aus den Phoenixwolken des Tambora (die plinianische Explosion führte, da sie vertikal erfolgte, über einer kleineren Fläche zu Ascheregen). Die herrschenden Passatwinde trieben die Aschewolken 1300 km weit nach Norden und nach Westen bis Celebes (Sulawesi) und Borneo. Die Explosionen am 10. April waren noch doppelt so weit entfernt zu hören.
Nach dem Vulkanausbruch blieb die Atmosphäre noch monatelang vom Staub gesättigt – die Sonne ein verschwommener Fleck. Das mit fluorhaltiger Asche verunreinigte Trinkwasser führte zu Krankheiten, und da zum Zeitpunkt der Eruption die Ernte zu 95 Prozent noch auf den Feldern stand, drohte unmittelbar und universell die Gefahr, Hungers zu sterben. In ihrer Verzweiflung mussten die Insulaner mit trockenen Blättern und dem Fleisch ihrer hochgeschätzten Pferde vorliebnehmen. Als die akute Hungerkrise dann vorüber war, hatte Sumbawa die Hälfte seiner Bevölkerung an die Hungersnot und Krankheiten verloren, während der Rest großteils auf andere Inseln geflohen war.
Noch 1831, sechzehn Jahre nach der Eruption, sah der Nordosten Sumbawas aus wie ein Kriegsgebiet, so, als hätte sich die Katastrophe eben erst ereignet. Ein holländischer Beamter, der die Küste entlangsegelte, beobachtete durch sein Fernrohr »eine entsetzliche Szene der Verheerung … in ihrer Raserei hat die Eruption … von den Bewohnern nicht eine einzige Person, von der Fauna nicht einen Wurm, von der Flora nicht einen Grashalm verschont«.23 Eine Baumringanalyse hat vor einigen Jahren ergeben, dass die ganze Region Java nach dem Ausbruch unter einer drastischen Kälteperiode sowie einer Dürre litt.24 Aufgrund der Massenentwaldung wurde das Mikroklima Sumbawas wesentlich trockener. Die langfristigen sozialen Folgen waren genauso trostlos. Ein halbes Jahrhundert später fand ein Besucher Sumbawa überwiegend von Sklaven bevölkert vor, den Nachkommen jener Überlebenden von Tambora, die sich in die Abhängigkeit verkauft hatten. Infolge dieser anschließenden Katastrophen ist die Halbinsel Sanggar nie wieder so dicht wie früher besiedelt worden und hat sich die Insel Sumbawa insgesamt nie davon erholt.
Wie die Geschichte berichtet, gründete Stamford Raffles vier Jahre nach dem Tambora-Ausbruch – als seine kolonialen Ambitionen für Java zerschmettert und das Klima in der Region zum Normalzustand zurückgekehrt war – eine neue Kolonie in Singapur. Mit diesem einen Streich verschob er die Handels- und Machtbalance in Ostindien zu Britanniens Gunsten. Doch auf Sumbawa, wohin das Licht der westlichen Historiographie nur selten leuchtet, sehen die Einheimischen den apokalyptischen Ausbruch von 1815 immer noch als den Augenblick, in dem ihre Welt für immer eine andere wurde. Genau wie der Holocaust für Juden die Schoah ist, trägt die Tambora-Katastrophe für die Sumbawaner einen eigenen, als heilig geltenden Namen: zaman hujan au (Zeit des Ascheregens).25 Als ich zwei Jahrhunderte danach über die Insel fuhr, auf kaum passierbaren Straßen und durch karge Townships ohne sauberes Wasser und Kanalisation, war augenfällig, dass Sumbawa nach wie vor im Schatten der Eruption lebte. Ein Jahr nach meinem Besuch wurde berichtet, mindestens zwanzig sumbawanische Kinder seien an Mangelernährung gestorben.26 Auf der langen holprigen Rückfahrt vom Tambora nach Bima machten sich meine Führer – von der wohlhabenderen Nachbarinsel Lombok – immerfort über die Rückständigkeit und Armut der Einheimischen lustig.
Doch ist das immer so gewesen? Internationale Holzfirmen dominieren heute die Wirtschaft Sumbawas. Damit, und mit der grassierenden illegalen Abholzung, wiederholt sich nun langsamer der Prozess der Entwaldung, welche der Tambora vor zweihundert Jahren an einem einzigen Tag anrichtete. 1980 stieß ein Holzunternehmen auf die Überreste eines »verlorenen Königreiches« Tambora an der Westflanke des Berges. Unter einer dünnen Humusschicht des nachgewachsenen Waldes folgt ein Meter verdichteter Ignimbrit, der beim Ausbruch 1815 hier abgelagert wurde. Unter dieser Schicht entdeckten Holzfäller eine Ansammlung chinesisch bemalter Tonscherben und verbrannter Fragmente menschlicher Knochen. Bald darauf erschienen Einheimische mit Messingtöpfen, Schmuck und niederländischen Münzen des achtzehnten Jahrhunderts, die, wie sie sagten, ebenfalls zu der Stätte gehörten – ein verschwommener Schnappschuss vom nicht ausgegrabenen Pompeji des Ostens.27
Die Sumbawaner fürchten ihren Vulkan noch immer und erzählen Besuchern, er werde bestimmt bald wieder ausbrechen. Aus diesem Grund leben sie in Dörfern, die in respektvoller Entfernung zum Tambora liegen, und halten seine Legende mit Geschichten wach. Sie erzählen vom großen Reichtum der Insel vor dem zaman hujan au, als ein reicher König in einem Palast aus Gold über den Berg herrschte.28 Der Geist des Tambora-Königs spukt durch die Bergwälder, in denen sein Schatz vergraben liegt. Er ist verschlagen, von verbittertem Gemüt und der Magie zugeneigt. Wer zum Tambora gehen muss, sagen die Sumbawaner, muss sich vor diesem Geisterkönig hüten. Keine schlimmen Wörter, kein schlechtes Gerede über andere. Und wenn ein junger Mann seine Freundin in den Wald von Tambora bringt, darf er nicht einmal daran denken, dort mit ihr zu schlafen. Ist die rachsüchtige Aufmerksamkeit des Geisterkönigs einmal geweckt, gibt es kein Entrinnen mehr. Zunächst kommt es einem wie ein wunderschöner Traum vor. Der Geisterkönig enthüllt sein verlorenes Königreich mit seinem Goldpalast vor den ungläubigen Augen. Aus dem Dschungel tauchen Bäume voller delikater Früchte in schillernden Farben auf und verheißen Glück. Und um den Zauber zu vervollständigen, schickt der Geisterkönig seine eigene Tochter, auch ein Gespenst von 1815, die einen mit ihrem trillernden Lachen immer tiefer in den Wald lockt, bis man den Weg zurück nicht mehr findet. Viele junge sumbawanische Männer seien so verloren gegangen, sagen sie.
Abbildung 10 Tongeschirr und andere Haushaltsgegenstände, die 2004 aus einem verschütteten Dorf an den unteren Hängen des Tambora ausgegraben wurden. Sie sind der Beweis für eine wohlhabende Inselgemeinschaft, die in die regionale Handelszone Ostindiens gut integriert und in der Verlängerung mit den die Hemisphäre umspannenden Wirtschaften Chinas und Englands verbunden war.
Wir kletterten spät in der Regenzeit durch den Dschungel an der Flanke des Tambora hoch. Von Blutegeln und den messerscharfen Blättern eines Farns, der srra genannt wird, geplagt, trafen wir auf drei junge Sumbawaner, die im Dschungel Wildschweine jagten. Sie rauchten Zigaretten im Schutz eines kleinen Unterstandes nach einer fruchtlosen Jagd am Morgen. Aus einem blechernen Kassettenrecorder im Staub sang eine junge Frau, begleitet vom Summen des Dschungels, Liebeslieder auf Arabisch. Die jungen Jäger, alle gute Sumbawaner, lauschten ihren sanften Bitten schweigend, ungerührt. Als wir uns ausgeruht – und gegenseitig von Blutegeln gesäubert – hatten, zeigten die Männer keinerlei Neigung, sich uns bei unserem Aufstieg anzuschließen. Nur ab und an ein Vulkanologe oder Tourist besucht heutzutage den ausladenden, mit Kratern übersäten Gipfel des Tambora, während die ihn umgebende Halbinsel überwiegend mit in jüngerer Zeit gekommenen Einwanderern von anderen Inseln besiedelt ist. Verlassen bis auf diese, lebt der grandiose gipfellose Berg fort als das Lotosland der traumatisierten sumbawanischen Fantasie.