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Die Bologna-Prophezeiung

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Lord Byron stand 1816 mit seinen apokalyptischen Spekulationen nicht allein. Tatsächlich schwappte damals eine fiebrige Endzeitstimmung quer durch Europa, die genauso ansteckend wie Fleckfieber war. Im italienischen Bologna sagte ein Astronom voraus, die Welt würde exakt am 18. Juli 1816 mit dem Auseinanderbrechen der Sonne untergehen. Die sogenannte Bologna-Prophezeiung, über die Zeitungen überall in Großbritannien und auf dem Kontinent berichteten, wurde zum Blitzableiter für die millenaristische Panik, die das schlechter werdende Wetter und die politische Instabilität nach der Schlacht von Waterloo verursacht hatten.47 Nach dem »verrückten italienischen Propheten« deutete die neuerliche Sonnenfleckenaktivität auf eine bevorstehende »solare Katastrophe« hin, die gewiss »der Welt durch eine Feuersbrunst ein Ende setzt«.48 Für andere war die Trübung der Sonne ein Anlass für Ängste, der lebenspendende Himmelskörper könne »vollkommen versintern, sodass er uns auf dem Fuße in die unaussprechliche Dunkelheit taucht, die das Ur-Chaos kennzeichnete«.49

»Das-Ende-ist-nah«-Spinner gibt es immer und überall. Doch in der Atmosphäre verstärkter öffentlicher Sorge wegen des ungewöhnlichen Wetters ergriffen die Behörden in Bologna die Vorsichtsmaßnahme, den Weltuntergangsverkünder und Astronomen ins Gefängnis zu werfen. Vergebens. In Belgien füllten zwei Wochen lang Bußfertige die Kirchen, um sich im stillen Gebet auf den Weltuntergang vorzubereiten. Am 12. Juli – wieder einem stürmischen, gewittrigen Tag – rannten drei Viertel der Einwohnerschaft von Gent (so wurde behauptet) unter lautem »Lamentieren« auf die Straßen und »warfen sich auf die Knie«, da sie die martialische Musik eines vorbeimarschierenden Regiments für den Posaunenruf am Tag des Jüngsten Gerichts hielten. Auf den Straßen von Paris konnte man am 17. Juli ein Pamphlet käuflich erwerben, das in großen Lettern versprach: »Détails sur la fin du monde! – Genaueres zum Ende der Welt!«50 Mit den Worten eines Schweizer Beobachters hielt die Angst, von der Sonne würde ein Stück abbrechen und auf der Erde einschlagen, »ganz Europa im Griff«.51 In England fuhren die Zeitungsredakteure einen Zickzackkurs zwischen ausgelassenen Spötteleien über das Ganze und gegenseitigen Warnungen, die öffentliche Hysterie nicht noch weiter anzuheizen.52 Der 18. Juli kam und ging vorüber, doch die religiös dominierte Stimmung verebbte nicht. Eine Woche später setzte die schwedische Königin sich höchstpersönlich an die Spitze eines Zuges von sechstausend Bauern zur Kathedrale von Bex, um dort um Erlösung von Gottes Zorn zu beten.53 In Highgate, am Rande Londons, wiederum fasste der Dichter Coleridge die allgemeine Stimmung in einem Wort zusammen, als er die Welle heftiger Sommerstürme »dieses Weltuntergangswetter« nannte.54

So sah die chaotische Szenerie im ersten Sommer nach der Tambora-Eruption in Europa aus. Die hysterische Stimmungslage war auch keineswegs unbegründet. Die Sonne mag sich nicht selbst ausgelöscht haben, doch Zehntausende Europäer sollten in den folgenden zwei Jahren durch Mangelernährung, direktes Verhungern oder durch von Hungersnot begünstigte Seuchen wie Fleckfieber ihr Leben verlieren. Hunderttausende mehr wurden aus ihren Häusern und Gemeinden vertrieben und konnten nur noch über die Landstraßen Europas ziehen.

Die Auswirkungen des Tambora-Ausbruches auf die Menschheit weltweit im neunzehnten Jahrhundert sind, wie ich am Anfang des Buches bereits sagte, bislang noch nicht in vollem Umfang verstanden worden. Die historische Forschung – Wissenschaftler wie Sachbuchautoren – hat sich auf die nordatlantische Zone beschränkt, auf die Fernwirkung des Tambora in Westeuropa und den Vereinigten Staaten. Teilweise wurde die Geschichte, die ich in diesem Kapitel geschildert habe, deshalb auch schon andernorts präsentiert, allerdings nicht in dieser synthetisierten Form einer aussagekräftigen Fallstudie über die furchtbaren sozialen Effekte eines abrupten Klimawandels. Ich werde in späteren Kapiteln nach Europa zurückkehren und detailliert die Zeit nach der Eruption in Irland und in den Alpen schildern, bevor ich mit der Geschichte der Tambora-Katastrophe zum Ende komme, die sich in Teilen der Vereinigten Staaten entfaltete, wo dieses Buch geschrieben wurde: im Mittleren Westen und in den Mittleren Atlantikstaaten.

Doch zunächst müssen wir in ferne Regionen reisen, wo die Geschichte des tödlichen Klammergriffs des Tambora noch nie nachgezeichnet wurde. Die Forschung über diesen Vulkan ist in ihren Darstellungen jahrzehntelang global gewesen, während die Sozialgeschichte mit ihrer Selbstbeschränkung auf die europäisch-amerikanische Zone bis heute dickköpfig regional geblieben ist. Von der epidemischen Cholera in Bengalen über die verdorrten Reisfelder von Yunnan bis hin zur schmelzenden Eiskappe der Arktis sind die Fingerabdrücke der Killer-Wolke des Tambora in den späten 1810er Jahren und danach überall auf der Welt zu finden. Mit dem wissenschaftlichen Instrumentarium des einundzwanzigsten Jahrhunderts – sowie einer global denkenden, telekonnektierten Vorstellungskraft – sind wir nun gerüstet, die Sache umfassend darzustellen.

Vulkanwinter 1816

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