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Der Niedergang des arabischen Nationalismus

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Wenn wir in diesem Buch den Oktoberkrieg 1973 als Ausgangspunkt des Chaos im Nahen Osten verstehen, das sich ab dem 11. September 2001 über die ganze Welt ausbreitete und im sogenannten »Islamischen Staat« von 2014 bis 2017 gipfelte, dann vor allem, um auf den bedeutsamen kulturellen Bruch mit der damaligen politischen Elite zu verweisen, die im Zuge der Entkolonialisierung die Macht an sich gerissen hatte. Ihre bekanntesten Führer (etwa Nasser und Bourguiba) und ihre symbolträchtigsten Parteien (die Baath-Partei in Syrien und im Irak sowie die PLO in Palästina) hatten sich bei der Machtübernahme über die traditionelle islamische Legitimation, mit der muslimische Dynastien seit der Verkündigung des Propheten ihre Autorität begründeten, sowie über die soziale Ordnung hinweggesetzt, die sich in Medina und Mekka seit Beginn der islamischen Zeitrechnung (622 n. Chr.) herausgebildet hatte.

Noch bis in die 1960er-Jahre hinein trugen sowohl die Baath-Partei als auch die tunesische Neo-Destur-Partei einen Laizismus zur Schau, der dem Atatürks bei der Gründung der türkischen Republik nach dem Untergang des Osmanischen Reichs in nichts nachstand oder auch vergleichbar war mit dem Laizismus am Hof des iranischen Schahs Reza Pahlavi. Nasser besuchte zwar freitags regelmäßig die Moschee, um seine Nähe zur Volksfrömmigkeit der Ägypter zu demonstrieren, instrumentalisierte aber die traditionsreiche islamische al-Azhar-Universität als Propagandainstrument für seine auf die Dritte Welt bezogene Politik und äußerte sich immer wieder abfällig über die Geistlichkeit. Zudem war er gnadenlos gegen die Muslimbruderschaft vorgegangen, die Mutter des politischen Islam im Ägypten des 20. Jahrhunderts. Der Lehrer Hasan al-Banna hatte die Bruderschaft 1928 in Ismailia gegründet. Diese ägyptische Stadt war für al-Banna zum Symbol für die Fremdherrschaft der europäischen Kolonialmächte geworden, da hier das Verwaltungszentrum der internationalen Sues-Gesellschaft lag. Die Muslimbruderschaft wollte die Fackel des von Atatürk 1924 abgeschafften osmanischen Kalifats weitertragen und hatte die Machtergreifung Nassers und seiner »freien Offiziere« 1952 zunächst begrüßt: Sie sah in ihnen ihren weltlichen Arm, mit dem sie einen auf der Scharia basierenden Staat gründen könne – mit einem Rechtssystem also, das von den heiligen Schriften inspiriert war. Nachdem aus den einstigen Partnern Feinde geworden waren, wurde die Organisation 1954 zerschlagen. Mehrere führende Mitglieder der Muslimbruderschaft wurden gehängt, anderen gelang die Flucht auf die arabische Halbinsel, wo sie ihren Bekehrungseifer entfalteten, und noch andere wurden in straff geführten Internierungslagern gefangen gehalten, in denen Folter zum Alltag gehörte. Zu den Verhafteten zählte auch der spätere Chefideologe des modernen Dschihadismus, der Aktivist und Literat Sayyid Qutb.

Die orientalische Säkularisation täuschte einen demokratischen Laizismus wie in Europa jedoch nur vor. Zunächst deshalb, da es keine echte Trennung zwischen der politischen und religiösen Sphäre gab, sondern der politische Machtapparat sich die geschwächten islamischen Institutionen unterwarf, um damit soziale Kontrolle auszuüben oder um zu beweisen, dass der Islam und die nationalistische, ja sogar offiziell sozialistische Doktrin durchaus miteinander vereinbar waren. Und schließlich und vor allem deshalb, da die Eliten den Unabhängigkeitsprozess – auf welchem Wege auch immer – für sich vereinnahmt und sich gewaltsam an die Staatsspitze gesetzt hatten. Entgegen des demokratischen Versprechens, das als Antwort auf das Freiheitsverlangen der ehemaligen Kolonien gegeben wurde, hatte man doch nur die Köpfe ausgetauscht, und die Menschen gerieten unter die Knute von militärischen oder dynastischen Seilschaften und deren Anhängern. Nur dadurch, dass die Unterdrückung nun nicht mehr von europäischen, sondern von inländischen Herrschern ausging, wurde sie nicht erträglicher. Im Gegenteil.

Die außerordentlich schlechten wirtschaftlichen Leistungen und sozialen Maßnahmen der neuen Eliten taten ihr Übriges, auch die Rechtsstaatlichkeit des neuen Justizwesens existierte nur im verlogenen Diskurs der Despoten. In den arabischen Staaten des Nahen und Mittleren Ostens, und hier vor allem in den »Frontstaaten« in Israels Nachbarschaft, wurde diese Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit mit Erfordernissen im notwendigen Kampf mit dem zionistischen Feind begründet. Der Antizionismus etablierte sich damit als dritte Stufe eines Nationalismus, der sich zunächst im 19. Jahrhundert gegen die osmanische Vorherrschaft und im 20. Jahrhundert gegen die europäische Bevormundung gerichtet hatte. Dieser Nationalismus stilisierte die jüdische Gemeinschaft im Zentrum der Levante und auf palästinensischem Boden zur letzten Bastion des verabscheuten Kolonialismus. Die arabische politische Rhetorik drehte sich unablässig um die Vertreibung der Juden.

Nach der demütigenden nakba (»Katastrophe«), dem Sieg über die arabischen Armeen 1948 und der anschließenden Staatsgründung Israels durch Ben Gurion am 15. Mai, verstärkte 1956 die Sueskrise diesen Nationalismus erneut: Die vereinten englischen, französischen und israelischen Streitkräfte wurden durch amerikanischen und sowjetischen Druck gezwungen, sich vom Kanal zurückzuziehen, den Gamal Abdel Nasser verstaatlicht hatte. Kairo band sich anschließend enger an die UdSSR und begann mit der Umsetzung eines Sozialismus nach sowjetischem Vorbild. Der Sechs-Tage-Krieg im Juni 1967 bildete hingegen die »Niederlage« (naksa) des arabischen Nationalismus schlechthin. Zu dieser trug insbesondere die erfolgreiche Luftoffensive Israels bei: Der ägyptische Rais hatte zwar die Sperrung der Wasserstraße von Tiran am Golf von Akaba angeordnet, mit der die Belieferung des Hafens von Eilat unterbunden werden sollte. Doch die Armee des jüdischen Staates reagierte sehr schnell und konnte schließlich die Sinaihalbinsel, den Gazastreifen, das Westjordanland inklusive Ost-Jerusalem sowie die Golanhöhen erobern. Neben Gebietsverlusten hatte dieser Blitzkrieg vor allem das endgültige moralische Scheitern der arabischen Führer zur Folge, die aus den Unabhängigkeitsbewegungen hervorgegangen waren. Ihre Rhetorik sackte mit einem Mal in sich zusammen wie ein Luftballon, der angesichts der militärischen Realitäten die Luft verlor.

Für Ägypten bedeutete die naksa den finalen Todesstoß in einer ganzen Reihe innerer und äußerer Rückschläge. Schon seit 1962 kämpfte die ägyptische Armee im Jemen an der Seite der republikanischen Kräfte gegen die von Saudi-Arabien unterstützten Royalisten, was sich zu einem teuren Einsatz mit sehr hohem Blutzoll auswuchs. Um aufkommenden Unmut im Keim zu ersticken, ließ Nasser 1966 Sayyid Qutb hinrichten, den Chefideologen der Muslimbruderschaft. Dieser hatte soeben Zeichen auf dem Weg veröffentlicht, ein Was tun? der radikal islamischen Bewegung. In dem Werk, das für nachfolgende Generationen von Dschihadisten zum Gründungstext werden sollte, erhob der Autor das Gefängnis, in dem die Kämpfer der Bewegung gefoltert wurden, zum Symbol des verabscheuten arabischen Nationalismus. Ihn beschreibt er als Dschahiliya – als Ära des »Unwissens« oder der Barbarei, wie die Schrift die Zeit vor der Offenbarung des Koran durch den Propheten bezeichnet. Mohammed hatte diese mit der Durchsetzung des Islam beendet. Qutb rief in seinem Buch entsprechend dazu auf, die »Dschahiliya des 20. Jahrhunderts« gewaltsam zu beenden, für die der Nasserismus das Paradebeispiel sei, indem man alle Möglichkeiten dazu ausschöpfe, unter anderem die »Bewegung« (haraka), also den bewaffneten Dschihad. Indem er die Machthaber exkommunizierte und »zu Ungläubigen erklärte« (takfir), beruft sich Qutb in Zeichen auf dem Weg auf die religiöse Legitimierung, um Gewalt gegen den Staat zu rechtfertigen. Aus dieser Kampfansage – die nicht bei allen Muslimbrüdern auf Zustimmung stieß – sollte die »radikale« Strömung innerhalb der Muslimbruderschaft hervorgehen, die in der Folge eine gewaltige Entwicklung durchlief, von den Gotteskriegern Afghanistans bis zu al-Qaida. Diesen Wechsel der Stoßrichtung bezahlte Qutb 1966 mit seinem Leben – ein Jahr vor der militärischen Niederlage von 1967. Viele von Qutbs Anhängern zeigten sich überzeugt, dass die Niederlage Allahs Strafe für Nasser war, da er den Märtyrer hatte foltern lassen.

Der Rais gab nach diesem Misserfolg 1967 sein Amt auf, kehrte aber nur kurz darauf an die Macht zurück, nachdem in ganz Ägypten Menschen unter dem Ruf »Nasser, komm zurück!« auf die Straße gegangen waren. Er starb drei Jahre später und mit ihm das panarabistische Ideal, das er verkörpert hatte. In dieses Vakuum drängte nun der politische Islamismus: Im Oktober 1973 fand er einen gewaltigen Hebel, um es auszufüllen.

Ägypten war der größte Verlierer des Sechs-Tage-Kriegs. Mit dieser Niederlage ging auch der Nasserismus unter, an dessen Stelle für einige Zeit die Bemühungen um die Sache der Palästinenser traten, die sich von den arabischen Staaten emanzipieren wollten. 1969 löste sich der neue Führer der Palästinensischen Befreiungsorganisation, Jassir Arafat, aus der Bevormundung durch Kairo und wählte Jordanien, wo zahlreiche palästinensische Flüchtlinge lebten, zu seiner Basis, um von dort aus seinen Kampf gegen Israel zu führen. Indem die palästinensischen Organisationen mit ihrer Präsenz die Autorität von König Hussein infrage stellten, heizten sie die bestehenden Spannungen zwischen Palästinensern und Jordaniern noch weiter an. Diese erreichten einen Höhepunkt, als am 6. September 1970 drei Linienflugzeuge entführt und zur Landung auf dem jordanischen Flughafen Zarqa gezwungen wurden. Hinter der Tat steckte die marxistische Volksfront zur Befreiung Palästinas (PFLP) unter Führung von George Habasch. Bei der Niederschlagung der daraus resultierenden Unruhen in Jordanien kamen Tausende Palästinenser ums Leben. Die Vereinbarung von Kairo, die drei Wochen später zwischen Arafat, König Hussein und Nasser getroffen wurde – kurz bevor Nasser verstarb –, sorgte dafür, dass die bewaffneten palästinensischen Gruppen Jordanien verließen. Sie siedelten sich nun in den Flüchtlingslagern im Libanon an, dem fragilsten Staat der Region. An dessen fünf Jahre später beginnenden Auflösung sollten sie maßgeblich beteiligt sein, wie auch an der nachfolgenden fortschreitenden Zerstörung der Levante insgesamt. Und zwar in einem Kontext, der sich durch die Islamisierung der Politik gänzlich geändert hatte und der die neue saudische Hegemonie ankurbelte, die sich aus dem Konflikt im Oktober 1973 ergab.

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