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Die erste Phase des gescheiterten Dschihad: die 1990er-Jahre

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Vor allem die Entstehung von drei Fronten, ganz ähnlich jener, die kurz zuvor in Afghanistan mit einem vorbildhaften Erfolg geendet war, kennzeichnete die 1990er-Jahre: die Kämpfe in Ägypten, Algerien und Bosnien (die beiden letzteren berührten Europa unmittelbar und wiesen auf die Attentatswellen voraus, die den alten Kontinent noch überschatten sollten). Nach drei- bis fünfjährigen Auseinandersetzungen gelang in keinem der Länder eine Machtübernahme, doch bin Laden und Zawahiri zogen aus diesen Niederlagen Lehren, um eine zweite Phase vorzubereiten, die ihren Höhepunkt am 11. September 2001 mit dem »gesegneten zweifachen Angriff« in New York und Washington erreichte.

Das Jahrzehnt begann mit einem internen Konflikt um die Einnahmen aus dem Ölverkauf in den sunnitischen Förderländern. Als sich Dschihadisten dabei gegen das Regime in Riad wandten, verursachte dies einen Riss im Prozess der Islamisierung, die die Ölmonarchien eigentlich förderten. Die von den Vereinigten Staaten angeführte Militärkoalition zur Befreiung des vom Irak besetzten Kuwait agierte von saudischem Boden aus und rief, zehn Jahre nach dem Angriff auf Mekka, gewalttätige Proteste in Saudi-Arabien hervor. Osama bin Laden wurde zu einem der führenden Köpfe dieser Gegenreaktion, was seinen Bruch mit den Autoritäten des Landes erklärt. Der irakische Einmarsch in Kuwait am 2. August 1990 ist auch daher deutlich paradoxer als der Krieg zwischen dem Iran und Irak, da das Emirat Kuwait, genau wie andere Ölmonarchien des Golf-Kooperationsrates, die Ausbreitung der Chomeini-Revolution auf der arabischen Halbinsel mit großzügigen Krediten für »Saddams Qadisiya« hatte bremsen wollen. Im Sommer 1988, nach dem Ende des Ersten Golfkriegs, war diese Gefahr beseitigt worden, Bagdad aber wegen der zerstörten Ölförderanlagen nicht mehr in der Lage, seine Schulden abzuzahlen. Die Eskalation der Spannungen erreichte im damals scherzhaft so genannten »Bankenangriff« durch den Schuldner ihren Höhepunkt. Dass sich das Interesse am Erdöl, Kriegslust und Islamisierung in diesem Konflikt miteinander vermengten, zeigte sich auf Anhieb dadurch, dass die Invasion am Morgen des Tages stattfand, an dem die Mitglieder der Organisation der Islamischen Konferenz (OIC) in Kairo zusammenkamen. Im Jahr zuvor hatte Kuwait noch den Vorsitz der OIC innegehabt. Just in dem Moment, in dem diese zur weltweiten Verbreitung des Islam unter saudischer Führung gegründete Institution eine Sitzung eröffnete, wurde ein Mitgliedsstaat von einem anderen erobert und annektiert. Nachdem Saddams Armee rasch mit dem Emirat fertiggeworden war (es hieß fortan nur noch »19. Provinz« des Irak), marschierte sie nun an der Grenze zu Saudi-Arabien auf, die Ölfelder von Hasa in Reichweite.

In unsagbarer Panik rief König Fahd, »Diener der zwei Heiligen Stätten«, am 7. August US-Truppen um Hilfe. Da er »ungläubige« Militärs einlud, den heiligen Boden des Landes zu betreten, sah sich der wahhabitische Herrscher dem Vorwurf des Glaubensabfalls ausgesetzt, den ihm genau jene Dschihadisten machten, die Riad in Afghanistan umfänglich finanziert hatte. Diese Anschuldigung stützte sich auf einen Spruch (hadith) des Propheten, den die Monarchie selbst genutzt hatte, um jeden anderen Kult außerhalb des Islam auf seinem Gebiet zu untersagen: »Vertreibt die Juden und Christen von der arabischen Halbinsel.« In der wörtlichsten Interpretation untersagte dies den Rückgriff auf Soldaten der »Kreuzritter«, die Aufruhr unter den Muslimen säen würden. Diese Spaltung im salafistisch-sunnitischen Lager blieb in den folgenden Jahrzehnten bestehen. So wie Saddam Hussein das islamische Register genutzt hatte, um Teheran die Vorherrschaft über den Islam streitig zu machen – er nannte, wie erwähnt, seine Offensive »Qadisiya« –, so gab er seinem Beutezug nach Kuwait und seinem Konflikt mit Saudi-Arabien den Ton eines Dschihad gegen die ungläubigen Dynastien, die sich vom Westen abhängig gemacht hätten. Um die schwache religiöse Legitimation seines Apparats zu verdecken – er hatte zahlreiche Prediger hängen, ermorden oder einsperren lassen – und um der gut geölten Maschinerie des Organismus der großen saudischen Ulemas etwas entgegenzusetzen, gab Saddam Hussein seinem Dschihad populistische Akzente. So verstärkte er den Hass auf die Kreuzfahrer, den Kolonialismus, den Imperialismus et cetera, nachdem rund eine halbe Million US-amerikanischer Soldaten im wahhabitischen Königreich eingetroffen waren. Die Unterstützung, die er in der arabischen Welt fand, speiste sich aus der Begeisterung von Nationalisten, die in ihm die Reinkarnation Nassers sahen, und der Zuversicht der radikalen Islamisten, die hofften, dass er das Haus Saud stürzen werde.

Die »arabische Straße« – eine Metapher für die populäre Meinung im arabischen Raum, die zu dieser Zeit aufkam – begeisterte sich noch mehr für ihn, als nach dem 15. Januar 1991 mit der Operation »Desert Storm« die irakischen Truppen aus Kuwait vertrieben wurden. Mit einigen Scud-Raketen, die auf israelischem Boden niedergingen, um den Antizionismus neu zu beleben, schlug Saddam die Massen in seinen Bann. Arafat sprach ihm seine Unterstützung aus – weshalb er nach der irakischen Niederlage keine Finanzhilfen mehr vom Golf erhielt, im Gegensatz zur konkurrierenden Hamas. Im Maghreb wurden die Scud-Raketen zu einem Mythos, als die Mobilisierung auch eine antifranzösische Wendung bekam, schließlich hatte sich Präsident Mitterrand an der Seite der Vereinigten Staaten an der Koalition beteiligt. Ich hörte, wie man sich damals in Casablanca folgende Geschichte erzählte: »Marokko hat entschieden, eine Scud auf Frankreich abzuschießen. In letzter Minute wird der Start doch noch abgebrochen: Es haben sich Dutzende Personen an der Rakete festgebunden, um ohne Visum nach Frankreich einreisen zu können.« Hier wird die ganze Doppeldeutigkeit der postkolonialen Beziehung deutlich. In Algerien wurde Saddam vom radikalsten Flügel der erst kurz zuvor gegründeten Islamischen Heilsfront unterstützt, die bei den Kommunalwahlen im Juni 1990 den Sieg davongetragen hatte. Der Prediger Ali Belhadj marschierte in militärischem Drill an der Spitze großer Protestzüge und skandierte mit ihnen »Schlag zu, Saddam!« (Sadd, ya Saddam!). Im Dezember desselben Jahres gaben die Demonstranten im ersten Wahlgang der Parlamentswahlen der FIS ihre Stimme.

Die Kontrolle der Herrscher in Riad über die weltweite Islamisierung wurde von einem Überbietungswettbewerb infrage gestellt, als sich dessen Diskurs mit einem Mal gegen das saudische Königshaus selbst richtete. Zunächst hatten liberale Kräfte vor Ort gehofft, die Präsenz des westlichen Militärs für den Anschub von Reformen nutzen zu können. Da unter aller Augen auch amerikanische Soldatinnen im Königreich Autos fuhren, setzten sich am 6. November 1990 70 saudische Frauen in aller Öffentlichkeit hinter das Steuer – was eine heftige Reaktion der Behörden nach sich zog. Man wollte die konservativsten Kreise beruhigen, die die Frauen als »kommunistische Huren« beschimpft hatten. Die islamistische Strömung agierte immer heftiger gegen die Staatsführung, die seit dem blutigen Einsatz in der Großen Moschee in Mekka zu Beginn des neuen Jahrhunderts islamischer Zeitrechnung, also seit November 1979, ohnehin in der Kritik stand. Auf Anregung des jungen Imam Salman al-Auda, der in den folgenden zehn Jahren von der Monarchie abwechselnd verhaftet und wieder aufgenommen wurde, richteten zunächst im Mai 1991 900 Prediger und Aktivisten einen »Brief der Forderungen« (khitab al matalib) an König Fahd. Sie forderten ihn auf, den strengsten Normen des Wahhabismus treu zu bleiben und dem verhängnisvollen Einfluss von Christen und Juden zu widerstehen. In verschleierten Formulierungen richtete sich die Kritik gegen die Macht der herrschenden Familie, deren religiöse Legitimität durch die Ankunft von »Kreuzritter«-Truppen auf dem Boden der »zwei Heiligen Stätten« erschüttert worden sei. Die Verfasser des Briefs verlangten die Schaffung eines »Konsultativrats«. Der König ließ die Initiatoren durch die ältesten Ulemas unter dem Vorwand rügen, sie hätten durch die Veröffentlichung ihres Anliegens die Gläubigen in Aufruhr (fitna) versetzt, richtete dann aber die geforderte Versammlung ein. Allerdings hatten die von ihm ernannten Vertreter der großen Stämme zumeist eine Bildung im Westen genossen. Als Reaktion veröffentlichten einige Unterzeichner des Briefes wiederum ein »Memorandum der Zurechtweisung« (mudhakirat an-nasiha), mit dem sie das Regime ganz grundsätzlich kritisierten: Sie forderten die Unabhängigkeit des Klerus, die absolute Islamisierung der Gesetze und des Bankenwesens, kritisierten die Schwäche der saudischen Armee und den Hilferuf an die US-amerikanischen Militärs et cetera.

Am 3. Mai 1993 gründeten einige der Autoren eine Protestorganisation – für das wahhabitische Königreich ein unerträglicher Vorgang. Ihr arabischer Name, »Komitee zur Verteidigung der Rechte der Scharia«, wurde ins Englische als »Komitee zur Verteidigung legitimer Rechte« übersetzt. Man spielte bewusst mit der Ambivalenz des arabischen Ausdrucks, um auch im Westen die Unterstützung von Menschenrechtlern und Aktivisten zu bekommen, die der arabischen Sprache nicht mächtig waren. Tatsächlich sorgte Druck von Amnesty International dafür, dass die schnell verhafteten Führer der Bewegung aus dem Gefängnis freikamen, das Gründungsmitglied Muhammad al-Massari zog im April 1994 nach London. Zwei Jahre lang beschimpfte er von dort aus das saudische Regime und verschickte seine Schmähungen – zu einer Zeit, in der das Internet noch unbekannt war – per Fax in alle Welt (was auf die Dauer so teuer wurde, dass die British Telecom 1996 seinen Anschluss wegen nicht bezahlter Rechnungen stilllegte). Während in Saudi-Arabien die wichtigsten Aktivisten dieser islamistischen Protestbewegung, die unter dem Namen sahwa (»Erwachen«) bekannt wurde, im Gefängnis saßen, zog sich Masari 1996 zurück und überließ Osama bin Laden seinen Platz. Dieser war 1991 aus Saudi-Arabien nach Afghanistan geflohen und lebte zwischen 1992 und 1996 im Sudan Turabis. Er machte den Slogan »die Amerikaner von der arabischen Halbinsel vertreiben« zu seinem Wahlspruch. Bin Laden hatte König Fahd im Zuge der irakischen Invasion in Kuwait 1990 vorgeschlagen, seine dschihadistischen Brigaden gegen Saddams Truppen zu schicken: Der Monarch missachtete das Angebot nicht nur, er rief sogar die Amerikaner zu Hilfe. Die Rache dafür kam, wie später noch deutlich werden wird, in Form des Anschlags auf die Botschaften der Vereinigten Staaten in Tansania und Kenia am Jahrestag dieses Ersuchens 1998.

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