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Der Dschihad in Algerien und der Beginn des Terrors in Frankreich (1992–1997)

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Nach dem Rückzug der Roten Armee am 15. Februar 1989 kehrten diejenigen ausländischen Dschihadisten, die dazu in der Lage waren, aus Afghanistan in ihre Heimatländer zurück. Sie waren entschlossen, dort ihre afghanischen Erlebnisse zu wiederholen, bis die »abtrünnigen« Regime gestürzt und ein islamischer Staat errichtet worden wäre. Neben den Guerillakämpfen in einigen muslimischen Regionen des Kaukasus, die den Zerfall der Sowjetunion begleiteten – etwa in Tschetschenien –, prägten hauptsächlich die drei Konflikte in Algerien, Ägypten und Bosnien dieses Jahrzehnt. In den beiden erstgenannten Ländern waren die Kämpfer Einheimische; im letzteren Fall waren es Saudis, Ägypter und einige konvertierte Europäer, die das Gros der Truppen stellten. Denn es hatte kaum Bosniaken in Afghanistan gegeben.

In Algerien traf die Rückkehr der »Afghanen« ab 1989 zeitlich zusammen mit den durch Revolten und Plünderungen im Oktober 1988 ausgelösten sozialen Unruhen, der Schwächung der FLN und der Entstehung der FIS. Die Moschee, in der sich die FIS gründete, stand im heruntergekommenen Wohnviertel Belcourt, das als Geburtsort von Albert Camus bekannt geworden war, inzwischen aber im Volksmund »Kabul« genannt wurde. Die »Afghanen« schlossen sich den ehemaligen Mitstreitern von Moustapha Bouyalis Mouvement islamique armé (MIA) an und überfielen am 28. November 1991 in der Stadt Guemmar einen Militärposten. Um den Geburtstag des »Märtyrers« und Dschihad-Ideologen Abdallah Azzam zu feiern und um ihre Ablehnung der Wahlstrategie der FIS zu verdeutlichen, köpften sie die dort gefangen genommenen Soldaten. Die FIS stand nach ihrem erdrutschartigen Sieg bei den Kommunalwahlen im Juni 1990 nun eingeklemmt zwischen einem konservativen Flügel, vertreten von der frommen Mittelschicht etwa in Person von Abbassi Madani, der die von der FLN etablierten staatlichen Strukturen zur Islamisierung des Landes nutzen wollte, und der armen, städtischen Jugend auf der anderen Seite, die begierig darauf war, zu kämpfen und die soziale Ordnung umzustürzen. Im Laufe des Jahres 1991 etablierte sich eine zweifache Macht, und das Land wurde von Aufständen und Streiks geprägt, was sich auch in der Verhaftung der beiden zentralen Figuren, Madani und Belhadj, niederschlug (die beiden verbrachten den gesamten Bürgerkrieg in Haft). Die FIS gewann dennoch die erste Runde der Parlamentswahlen vom 26. Dezember – auch wenn sie im Vergleich zur Kommunalwahl rund eine Million Stimmen verloren hatte – und stand kurz davor, bei der zweiten Runde die absolute Mehrheit zu erreichen. Das Vorhaben von Staatspräsident Chadli, der gehofft hatte, das Heft in der Hand halten zu können, wenn er mit der Minderheitenpartei FIS kooperierte, zerschlug sich, denn es fand keinen Widerhall an den Wahlurnen. Daraufhin enthob die Armee am 11. Januar 1992 den Staatschef seines Amtes, »suspendierte« die bevorstehenden Wahlen und löste am 4. März die FIS auf, nachdem kurz zuvor fast alle ihrer Führer und Kader verhaftet worden waren. Anders als im Iran, wo ein strukturierter und hierarchisierter Klerus sich vereint hatte und die Machtergreifung zu Ende führen konnte, gelang es der in viele Strömungen aufgespaltenen und von zahlreichen Personen geprägten FIS nicht, ihre große Popularität in einen siegreichen revolutionären Parteiapparat zu überführen. Unter den gewalttätigen Repressionen der Armee gelang ihr kein erneuter Aufstieg – stattdessen kam es zu einem fünf Jahre dauernden Bürgerkrieg in Form eines Dschihad gegen die Generäle und ihre Alliierten, der schätzungsweise 100.000 Tote forderte.

Die Zerschlagung der islamistischen Führung trug schnell zu ihrer Entfremdung vom Volk bei, das der FIS noch in großer Zahl gefolgt war. Und so spaltete sich die Wählerschaft in sich antagonistisch gegenüberstehende gesellschaftliche Gruppen auf, auch wenn religiöse Slogans dies zu überwinden versuchten, indem man doktrinär die »guten Muslime« den »Gottlosen und vom Glauben Abgefallenen« entgegenstellte. Die »moderate« Führung, die gehofft hatte, durch Wahlen das Land islamisieren zu können, ohne dazu die politischen Strukturen grundlegend ändern zu müssen, musste mit der Aufhebung der Wahlen durch die Generäle einen herben strategischen Rückschlag einstecken. Folglich half diese Revolte der »extremistischsten« Fraktion, die das Modell des afghanischen Dschihad nach Algerien übertragen wollte, das sie um die lokalen Erfahrungen der Partisanen, angefangen bei den »Mudschaheddin« des Unabhängigkeitskriegs (1954–1962) bis hin zum Mouvement islamique armé (MIA) von Moustapha Bouyali (1982–1987), ergänzte.

Während sich die Führung der FIS spaltete, schlossen sich die nachgewachsenen Dschihadisten und Afghanistan-Veteranen im Oktober 1992 zusammen und bildeten die Groupe islamique armé (Bewaffnete islamische Gruppe, GIA). Ihr erster »Emir«, der ehemalige Karosseriearbeiter Abdelhak Layada, exkommunizierte die Führungsriege der FIS als »gottlos« und erklärte es für rechtmäßig, ihr Blut ebenso zu vergießen wie das aller anderen Staatsbediensteten und weiteren »Kinder Frankreichs«. In einem langen Text vom März 1993, der ihm zugeschrieben wird – ohne das seine Autorenschaft gesichert ist –, beruft Layada sich auf den afghanischen Dschihad, der wie der von ihm in Algerien geführte eine »individuelle Verpflichtung« (fard ayn) jedes Gläubigen sei. Damit greift er die Formulierung von Abdallah Azzam auf und schließt sich zugleich der Heldengeschichte von Bouyali an. Mit den Jahren 1993 und 1994 begann eine ungemein gewalttätige Phase, in der man es vor allem auf »weiche Ziele« abgesehen hatte – verhasste frankofone Intellektuelle, Mitglieder der Zivilgesellschaft, Ärzte, Journalisten. Sie waren leichter zu erreichen als die Führungsebene der Armee und hatten durch ihr kulturelles Kapital, das ihnen den sozialen Aufstieg ermöglichte, der nach der Arabisierung der Schulen durch die FLN ansonsten unerreichbar war, alle Frustration und Wut der hittistes auf sich gezogen. Der Bekanntheitsgrad der Ermordeten und die Symbolkraft der Massaker sorgten für eine allgemeine Panik. Die Stadtviertel der einfachen Leute und ländlichen Gebiete gerieten unter Kontrolle der GIA. Der Staatsmacht gelang es nicht, sie zu fassen, dafür isolierte sie diese Gebiete, aber ohne in sie einzumarschieren. Die örtlichen islamistischen Honoratioren finanzierten zu Beginn die neuen Herrscher, doch die Beutezüge und Erpressungen der Jugendbanden, die den Dschihad für sich reklamierten, ließen sie bald zu Opfern werden. Drei Jahre später spalteten sich die Gruppen wieder auf.

Im Juli 1993 veröffentlichten Dschihadisten aus aller Welt, die nach »Londonistan« emigriert waren (wo die britischen Behörden Aktivisten aller Schattierungen in der Hoffnung aufnahmen, sie einhegen zu können), eine Broschüre mit Namen Al Ansar – die sie freitags nach Ende des Gebets per Fax versendeten –, um die GIA zu unterstützen. Das Blatt wurde maßgeblich von einem aus Syrien stammenden, in Frankreich ausgebildeten Ingenieur verfasst (der bis in die 2010er-Jahre eine wichtige Rolle im Dschihad spielen sollte), Abu Musab as-Suri. Der Einfluss der GIA wuchs derart, dass mehrere Führer der FIS nach einem Geheimtreffen am 13. Mai 1994 ihr die Treue schworen und damit das Exekutivorgan der FIS im Ausland (Instance exécutive du FIS à l’étranger, IEFE) zwangen, am 18. Juli mit der Islamischen Heilsarmee (AIS) eine konkurrierende Gruppe zu gründen. Sie sollte bei Verhandlungen mit den algerischen Generälen einen militärischen Gegenpol bilden. Die GIA lehnte solche Gespräche grundsätzlich ab und verlangte, die Erde von den »Gottlosen« zu säubern und mithilfe des Dschihad einen islamischen Staat aufzubauen. Die beiden Gruppierungen sollten sich fortan tödliche Auseinandersetzungen liefern, die beide in Hinblick auf die regierende Macht schwächte. Immer wieder ersetzten neue Emire die im Kampf gefallenen Führer an der Spitze der GIA. So übernahm am 27. Oktober 1994 Djamel Zitouni die Führung. Er fing damit an, den Dschihad nach außen zu tragen, und ließ an Weihnachten 1994 (um an diesem christlichen Fest die Symbolkraft der Operation zu betonen) eine Air-France-Maschine aus Algier entführen und im Laufe des Jahres 1995 blutige Anschläge in Frankreich verüben. So wollte er, um den Ruhm der GIA im eigenen Land zu stärken, den Kampf gegen die ehemalige Kolonialmacht führen und sie zur Aufgabe ihrer Unterstützung für die algerische Regierung bewegen. Allerdings erreichte Zitouni das Gegenteil, da die Ausweitung der dschihadistischen Gewalt, die von internen Säuberungsaktionen und Hinrichtungen begleitet wurde, sich im Endeffekt gegen die Gesellschaft insgesamt wandte. Die Redakteure der Broschüre Al Ansar warfen ihm vor, das Spiel des Regimes zu spielen. Die fromme Mittelschicht zeigte sich zunehmend erschöpft und verängstigt. Die Barbarei erreichte im August und September 1997 einen Höhepunkt, als in Raïs und Bentalha, zwei Vororten von Algier, die GIA bei einem Blutbad mehrere Hundert Menschen tötete – und wieder vermuteten einige, sie sei von Provokateuren manipuliert worden. Die Geschichte der GIA endete mit einem Kommuniqué ihres letzten Emirs am 27. September. Die AIS hatte bereits sechs Tage zuvor einseitig eine Waffenpause ausgerufen: Die Regierung wollte ihren Mitgliedern gegenüber Gnade walten lassen, sofern diese sich auf einen Kompromiss einließen, der im Grunde auf einen Treueschwur hinauslief.

Im Herbst 1997 hatte der bewaffnete Dschihad, obwohl es sporadisch noch einige Jahre vor Ort zu Gewalttaten kam, die Schlacht verloren. Im Austausch für Zugeständnisse des ab 1999 von Abd al-Aziz Bouteflika geführten Regimes kooperierten die »moderaten Islamisten« im Namen einer »nationalen Versöhnung« und bemühten sich im Räderwerk des Staates um eine offenkundige Reislamisierung Algeriens. Trotz der starken Mobilisierung im Volk kurz nach der Gründung der FIS ist es ihr nicht gelungen, ihre Kämpfer und Anhänger so zu vereinen, dass eine Revolution sie an die Macht geführt hätte, wie es im Iran 1978–1979 gelang. Die sozio-politischen und strategischen Unterschiede zwischen der frommen Mittelschicht und der armen, städtischen Jugend konnten von der zu wenig strukturierten islamistischen Intelligenz nicht aufgefangen werden – und diese Gräben vertieften sich während des Bürgerkriegs weiter, bis der gewalttätige Überbietungswettbewerb darin endete, dass die Armee wieder die Macht übernehmen konnte. Neben den Lehren aus dem parallel laufenden ägyptischen und bosnischen Dschihad zogen bin Laden und Zawahiri auch aus dieser Niederlage Konsequenzen. Die Maßnahmen und die Ziele mussten entschieden geändert werden.

Der algerische Dschihad war jedoch überdies Ankündigung und Vorläufer eines neuen Phänomens, das sich verstärkt nach 2012 zeigte: das Ausufern des Terrorismus auf französisches Territorium. Nach der Entführung des Airbus an Weihnachten 1994 in Algier, die am Flughafen von Marseille endete, wo eine Eingreiftruppe der Gendarmerie (die im November 1979 auch die Große Moschee in Mekka befreit hatte) die vier Entführer erschoss – zuvor waren in Algier bereits drei Geiseln gestorben –, verübte die GIA zwischen dem 11. Juli und 17. Oktober 1995 eine Reihe von Attentaten in Frankreich, die Dutzende Tote und mehr als 175 Verletzte forderten. Kopf der Unternehmungen war der 1971 in Algerien geborene und in der Umgebung von Lyon aufgewachsene Khaled Kelkal. Er fühlte sich in der Schulzeit von seiner Umgebung abgelehnt und entdeckte den Islam während eines Gefängnisaufenthalts – ein Lebenslauf, der für Hunderte von Dschihadisten in den Jahren zwischen 2000 und 2010 typisch wurde. 1993, mitten im Bürgerkrieg, kehrte Kelkal nach Algerien zurück, schloss sich dort der GIA an und erhielt zurück in Frankreich den Auftrag, am 11. Juli 1995 den Imam Abdelbaki Sahraoui zu ermorden, einen der Gründer der FIS. Sahraoui lebte und predigte in Barbès, einem von einfachen Menschen bewohnten Pariser Vorort, und wurde vom französischen Innenminister Charles Pasqua als Verbindungspartner zur FIS erachtet und damit als Garant dafür, dass Frankreich von den Ereignissen in Algerien unangetastet blieb.

Dieser Mord machte Frankreich, und seine zwei Millionen Einwohner algerischer Herkunft, zur Geisel eines Dschihad, der das Mittelmeer überquerte, um in Europa einen Brückenkopf zu bilden. Auf diesem Wege erhielt auch die nächste Generation von Terroristen ihre Ideale und Anregungen zur Wahl ihrer Ziele. Obwohl in Frankreich ansässige muslimische Verbände, wie etwa die Union des organisations islamiques de France (UOIF, den Muslimbrüdern nahestehend), das Land als islamischen Boden für die dort lebenden Gläubigen bezeichneten (wodurch jeder kriegerische Akt auf diesem Gebiet verboten war), verwandelten die GIA-Aktivisten Frankreich in ein »Kriegsgebiet« (dar al harb), in dem der Dschihad das Töten von Gottlosen und anderen Abtrünnigen erlaubte. Die Anschläge, vor allem auf das öffentliche Transportwesen (wie sie im März 2004 in Madrid und im Juli 2005 in London stattfanden), zielten auf zufällige Opfer. Doch keines der angestrebten Ziele wurde erreicht. Die große Mehrheit der Algerier in Frankreich bewegte sich nicht: Die »darons« (Familienväter) übten in jenen Jahren noch einen derart starken Einfluss aus, dass sie die Scharfmacher aussondern konnten, die ihre mühsam erworbene Integration gefährdet hätten – und Kelkal wurde von der Gendarmerie wie ein wildes Tier in einem Wald erlegt, denn er verfügte über keinerlei logistische Unterstützung.

Die französische Regierung nahm eine strenge Haltung gegenüber dem islamistischen Terror ein, und die den Sicherheitsorganen zur Verfügung stehenden Mittel bewiesen ihre Wirksamkeit: Frankreich blieb, auch dank der guten Kenntnisse über die vorhandenen Netzwerke, 16 Jahre von Anschlägen verschont (mit Ausnahme der weiter unten beschriebenen Ereignisse in Roubaix). Beendet wurde diese Phase erst mit dem von Mohammed Merah am 12. März 2012 verübten Anschlag. Bis dahin hatte sich das Programm des Dschihad geändert, und die französischen Geheimdienste, die in geschlossenen Kreisläufen funktionierten, waren über ihre Erfolge unachtsam geworden.

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