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Die Dschihadisierung des Palästina-Konflikts

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Ein weiterer Konflikt »dschihadisierte« sich deutlich während der 1990er-Jahre: die israelisch-palästinensische Auseinandersetzung. Obwohl die palästinensische Autonomie und die Rückkehr Jassir Arafats einen anderen Eindruck erweckten, bediente der Aufstieg der Hamas – nun auf einer Stufe neben der Hisbollah und derem iranischen Mentor – die mit der wichtigsten »arabischen Frage« verbundene Vorstellungswelt, indem er die Islamisierung der Politik in den israelisch-palästinensischen Konflikt hineinzog. Die von der Hamas durch die Vervielfachung der Selbstmordanschläge auf die Spitze getriebene Radikalisierung – eine Reaktion auf die Verhärtung der aufeinanderfolgenden Regierungen Netanjahu und des verstärkten Siedlungsbaus – diente später als Modell, anhand dessen der internationale Dschihadismus von al-Qaida seinen bevorzugten Aktionsmodus entwickelte.

Der Golfkrieg 1990–1991 hatte sowohl die PLO als auch Israel geschwächt und zwang die beiden Gegner zu Verhandlungen an einen Tisch. Denn tatsächlich hatte Saddam Hussein mit dem Abschuss von Scud-Raketen auf Israel eine »palästinensische Straße« begeistert, die zuvor von der Trägheit der arabischen Führer enttäuscht gewesen war, nun plötzlich aber von einer Rückkehr der großen Idee Nassers und der militärischen Zerstörung des zionistischen Feinds träumte. Indem er Kuwait besetzte, stellte sich Saddam erneut als arabischer Öl-Riese dar, der seinen unermesslichen Reichtum dazu nutzte, jenes Ziel zu erreichen – und Arafat sagte ihm begeistert Unterstützung dafür zu. Die Niederlage der irakischen Armee und die damit einhergehende Autonomie der Kurdenregionen hatten Saddam Hussein dann deutlich geschwächt, doch die internationale Koalition »Desert Storm« beließ ihn in Bagdad an der Macht, um die Übernahme des Irak durch die schiitische Mehrheit zu verhindern (die dann zwölf Jahre später kam, als die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten 2003 das Land eroberten). Diese Niederlage wirkte sich auch verheerend auf die PLO aus, da sie die Unterstützung der Ölmonarchien vom Golf verlor, die fortan vor allem ihren Rivalen Hamas förderten. Zudem konnte die Sowjetunion, der letzte Verbündete der PLO, nach dem Fall der Berliner Mauer im November 1989 nicht mehr als Supermacht gelten. Israel wiederum war gehindert worden, auf die irakischen Scud-Raketen zu antworten, denn womöglich hätten die arabischen Staaten ansonsten ihre Abneigung untereinander überwunden, um sich mit Bagdad gegen eine »zionistische Offensive« zur Wehr zu setzen, was die Aufgabe der internationalen Koalition verkompliziert hätte. Israel wurde von den Vereinigten Staaten unter Präsident George H.W. Bush, dem »ölfreundlichsten« aller US-Präsidenten, gebremst und aus einer Position der Schwäche heraus zu Verhandlungen gezwungen.

Aus Sicht der Vereinigten Staaten fanden diese Gespräche unter günstigen Vorzeichen statt: Mit ihnen könne, so hoffte man in Washington, das Ende des verbitterten israelisch-palästinensischen Konflikts erreicht sein. Zumal die von US-Soldaten vor der unmittelbaren Bedrohung durch irakische Truppen geretteten Ölmonarchien sich, anders als nach dem Krieg 1973, dazu verpflichtet fühlten, die Waffe Öl niederzulegen und entsprechend den Anweisungen des Weißen Hauses zur Einsicht zu gelangen. Jimmy Carter hatte 1979 den Abschluss eines Friedensvertrags zwischen Israel und Ägypten gefördert und damit Kairo vom Schlachtfeld geführt. Nun hoffte man im Umfeld von Präsident Bush senior, er könne die störende PLO entsorgen und zugleich den Einfluss der israelfreundlichen Gruppen im Kongress mindern (was ihm deren Feindschaft einbrachte und auch zu seiner Niederlage bei der Präsidentschaftswahl 1992 führte). Damit hätte er über ein ausgezeichnetes Mittel verfügt, das Verhältnis zwischen der israelischen und palästinensischen Führung zu normalisieren. Diese Hoffnung wurde durch die Konferenz in Madrid im Dezember 1991 genährt, zu der im Rahmen der jordanischen Delegation auch offizielle PLO-Abgesandte gehörten. Allerdings verlor diese Organisation angesichts des Aufstiegs der Hamas immer mehr an Boden.

Die islamistische Bewegung, unter anderem dank ihrer Vertreter in den Handelskammern bereits in der frommen Mittelschicht verankert, bildete auch für die arme, städtische Jugend ein Ventil: Diese war durch die fehlgeschlagene Intifada radikalisiert und erhöhte nun die Anzahl der Attentate auf israelische Zivil- und Militärpersonen. Am 13. Dezember 1992 entführte die Hamas einen israelischen Unteroffizier in Lod, den man zwei Tage später erstochen und gefesselt im Westjordanland auffand. Dies führte zur Verhaftung von 417 Funktionären und Aktivisten der Hamas und des Islamischen Dschihad durch die Regierung Rabin. Man deportierte sie in den Südlibanon, in die Bergstadt Marj al-Zuhur – wo die Freigelassenen dann, mit den Füßen im Schnee, die internationale Presse empfingen: Ingenieure, Mediziner und Professoren gaben auf Englisch Interviews, in denen sie die Politik Israels und die Zugeständnisse der PLO kritisierten. Sie gründeten in ihrer Behelfsunterkunft die Universität Ibn Taimiya (dieser sehr strenge sunnitische Kleriker wurde zum Namenspatron, um auf die radikalen Islamisten der Gegenwart zu verweisen) und knüpften fruchtbare Beziehungen zur in dieser schiitischen Gegend gut verankerten Hisbollah. Davon ließ sich die Hamas inspirieren, die nun die Strategie der Partei Gottes übernahm, da sie gesehen hatte, wie erfolgreich Selbstmordattentate sein konnten. Außerdem stärkte sie ihre Verbindungen zum Iran.

Der internationale Skandal, der eine Resolution des UN-Sicherheitsrats mit der Forderung zur Rückführung der Deportierten in ihre Heimat nach sich zog, sorgte für eine symbolische Umkehrung. Die Hamas hatte eine der PLO gleichrangige, wenn nicht gar überlegene Position erreicht und stand nun exemplarisch für die palästinensische Sache beziehungsweise in der Folge auch für die Islamisierung dieses Konflikts im arabischen Raum und international. Um die Angelegenheit zu ihren Gunsten zu retten, begann die PLO noch im Dezember 1992 Geheimverhandlungen mit Israel, die in den sogenannten »Oslo-Friedensprozess« mündeten. Am 13. September 1993 unterzeichneten Arafat und Rabin im Weißen Haus unter der Schirmherrschaft von Bill Clinton die dazugehörige »Prinzipienerklärung«. Neben der Verwirklichung eines palästinensischen Traums von einem autonomen Territorium im Westjordanland und Gazastreifen erhoffte sich die nationalistische Organisation auch einen wichtigen politischen Vorteil von der Vereinbarung. Doch die von Israel durchgesetzten Knebelbedingungen, die vielen Hindernisse bei der Umsetzung des Vertrags und die Zersplitterung des Westjordanlands durch die Siedlungen schwächten die PLO. Am 25. Februar 1994 tötete ein israelischer Siedler mehr als 30 betende Muslime im Heiligtum von Hebron: Die Hamas verstand dies als Blankovollmacht des Volkes, die Toten zu rächen, und in den folgenden Monaten rissen die ersten Selbstmordanschläge mehr als zehn Israelis in den Tod. Daraufhin nahmen die Repressionen zu. Mit der Errichtung der Autonomiegebiete im Juli standen die palästinensischen Sicherheitskräfte nun auch der Hamas gegenüber – sie übernahmen anstelle der Israelis die Polizeiaufgaben. Am 18. November kam es zu einem ersten Zusammenstoß, als palästinensische Sicherheitskräfte das Feuer auf Demonstranten eröffneten, die in Gaza aus einer Moschee strömten, und dabei 16 Menschen töteten. Arafat verlor in der arabischen Welt deutlich an moralischem Ansehen.

Der Mord an Jitzchak Rabin am 4. November 1995 durch einen rechtsgerichteten Juden, der die Vereinbarung von Oslo ablehnte, beraubte den Führer der PLO seines wichtigsten politischen Gesprächspartners auf israelischer Seite. Im Januar 1996 starb dann der Sprengmeister der Hamas und Gründer der Kassam-Brigaden, »der Ingenieur« Yahya Ayyasch, der auch für die Ausarbeitung der »Märtyrer-Operationen« verantwortlich war, durch die Explosion seines Mobiltelefons, was dem israelischen Geheimdienst zur Last gelegt wurde. Bei aufsehenerregenden Vergeltungsanschlägen starben 63 Israelis. In der Folge siegte der Likud bei den Wahlen im Mai 1996, und Benjamin Netanjahu kam an die Macht. Netanjahu verfolgte eine harte Linie gegenüber den Palästinensern und verstärkte den Siedlungsbau. Die Terrorstrategie hielt bis 1998 an – und nahm nach 2000 noch an Intensität zu, als die Zweite Intifada losbrach. Neben den politischen Streitereien über den palästinensischen Grund und Boden erzielten die »Märytrer-Operationen«, die inzwischen als erhabenste Waffe galten, große Aufmerksamkeit und galten all jenen als absolut legitim, die im ersten Schritt Israel und anschließend den gesamten Westen in Unordnung stürzen wollten. Es waren dann Osama bin Laden und al-Qaida, die diesen Typus islamistischen Terrors weltweit bekannt machen sollten, indem sie ihn am 11. September 2001 vom Territorium des »zionistischen Feinds« auf das der Vereinigten Staaten von Amerika übertrugen.

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