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Der Ramadan-Krieg im Oktober 1973: Das Öl als Waffe und der Protodschihad

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Anwar as-Sadat, der Nasser noch im September 1970 nachfolgte, war der Kompromisskandidat, auf den sich der zerstrittene ägyptische Generalstab einigen konnte. Er begann sein Amt als Staatspräsident unter schwierigen Bedingungen: Das Volk stellte ihn mit nukat (Witzen) als dumm dar. Der auf Sadat lastende Druck war umso größer, als er kaum die Mittel hatte, die Schmach der Niederlage vom Juni 1967 durch eine Offensive wettzumachen. Aus einem Dorf im Nildelta stammend, war Sadat jedoch schlau genug zu wissen, wie er über all jene zu regieren hatte, die ihn unterschätzten – nur die Dschihadisten zu beherrschen gelang ihm nicht, und sie waren es dann auch, die ihn schließlich ermorden sollten. Da Sadat in seiner Jugend den Muslimbrüdern nahegestanden hatte, entließ er ihre Anhänger nun aus den Gefängnissen und unterstützte heimlich ihren Bekehrungseifer an den Universitäten, wo Marxisten und linke Nasser-Anhänger zu seinen gefährlichsten Gegnern gehörten. In wenigen Jahren gelang es ihm, diese aus dem Weg zu räumen, woraufhin die al-Dschamaa al-islamiyya (Islamische Vereinigung) in der Nachfolge von Qutb die Kontrolle über die studentische Bewegung gewann.

Sadats sowjetische Militärberater, seine Verbindungsleute zum syrischen Präsidenten Hafiz al-Assad, der wie er nach der Niederlage von 1967 an die Macht gekommen war, halfen ihm bei der Vorbereitung des Angriffs auf israelische Stellungen. Er erfolgte am 6. Oktober 1973, da das jüdische Jom-Kippur-Fest an diesem Fasten- und Ruhetag den Staat Israel verwundbarer machte. Ägyptische Soldaten durchbrachen die befestigte Bar-Lev-Linie am Sueskanal, während Syrien auf die seit 1967 von Israel besetzten Golanhöhen vorrückte. Dieser Anfangserfolg brachte den beiden Staatslenkern Ehrennamen ein, »Held der Überquerung« (batal al ubur) für Sadat und »Oktoberlöwe« (assad tichrine) für Assad, dessen Familienname auf Arabisch »Löwe« bedeutet. Allerdings hätte der Krieg, der die Ehre der arabischen Führer rettete, ohne die entscheidende Intervention Saudi-Arabiens und der Ölmonarchien der arabischen Halbinsel ein anderes Ende gefunden. Denn sie trugen dazu bei, die Situation nach der erfolgreichen Gegenoffensive der israelischen Verteidigungsstreitkräfte (Zahal) zu stabilisieren: Die israelische Armee hatte den Sueskanal wieder überschritten, die dritte ägyptische Armee eingekesselt und war bis zum Kilometer 101 auf der Straße zwischen Sues und Kairo vorgerückt. In Syrien stand sie derweil schon 40 Kilometer vor Damaskus. Ermöglicht worden war dieser Vormarsch durch eine Luftbrücke der US-Amerikaner, die den jüdischen Staat täglich mit Versorgungsgütern belieferten. Am 16. und 17. Oktober 1973 beschlossen die in Kuwait versammelten arabischen Erdölförderländer eine unilaterale Erhöhung der Rohölpreise um 70 Prozent und eine monatliche Senkung der Ausfuhren um fünf Prozent, die so lange gelten sollten, bis die besetzten Gebiete wieder geräumt und die Rechte der Palästinenser anerkannt würden. Am 20. Oktober verkündete der saudische König Faisal ein Lieferembargo für die Vereinigten Staaten und die Niederlande, die »Israel unterstützen«.

Damit war die entscheidende Waffe gefunden – sie wahrte den arabischen Kriegsführern auf dem Schlachtfeld das Gesicht und sorgte über diese politisch-militärische Episode hinaus für eine Erschütterung der Weltordnung. Die Ölrente bestimmte fortan maßgeblich die Kräfteverhältnisse auf dem Globus und verlieh jenen, die über Erdöl verfügten, eine exorbitante Macht. Der Ölpreis kletterte binnen weniger Tage um das Vierfache. Der ökonomische Druck, der aus dem israelisch-arabischen Konflikt für alle Erdöl importierenden Länder eine innenpolitische Angelegenheit machte, hatte unmittelbar zur Folge, dass die erfolgreiche Gegenoffensive für Israel enttäuschend endete: Sadat und Assad waren von Faisal und dem Erdöl-Emiren gerettet worden, und Tel Aviv musste unter dem Druck der Vereinigten Staaten und des Westens dem Waffenstillstand zustimmen, denn deren Wirtschaftsbilanzen waren wegen des Ölpreisanstiegs durcheinandergebracht worden. Von nun an würden die Ölmonarchien ihre Dominanz durch den Einsatz ihres märchenhaften Reichtums festigen und konnten dank der hohen Ölpreise überall in der sunnitischen Welt ihre strenge und konservative Ideologie verbreiten. Sie sollten sich allerdings schwer damit tun, den Geist des Dschihad zurück in die Flasche zu bekommen, nachdem er einmal freigelassen worden war – und eines Tages fielen sie ihm schließlich selbst zum Opfer.

Ein Großteil der populären arabischen Literatur vergleicht die Niederlage von 1967 mit dem »Sieg« von 1973, indem sie die Niederlage auf die Gottlosigkeit des Nasser-Regimes und den Sieg auf die klar bekundete Frömmigkeit der arabischen Kriegsparteien zurückführt, schließlich wurde der Krieg im Ramadan und mit der rechtmäßigen Dimension eines Dschihad geführt. Tatsächlich muss während des heiligen Monats Ramadan von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang gefastet werden – ein Umstand, der sich nur schlecht mit militärischen Operationen verträgt. Dieses Fastengebot darf jedoch im Falle eines Dschihad aufgehoben werden, denn sollte die Gemeinschaft der Gläubigen zu schwach sein für den Kampf, droht sie im Angesicht des Feindes unterzugehen, was den Fortbestand des Islam insgesamt infrage stellen würde. Auf Druck der Machthaber hin hatten folglich die ägyptischen und syrischen Ulemas, islamische Rechtsgelehrte, den Ramadan-Krieg zum Dschihad erklärt, sodass die Soldaten ihre Rationen zu sich nehmen konnten. Jenseits der Instrumentalisierung dieser Fatwa wurde diese Konfrontation im Zuge der weltweiten Bewegung ipso facto wirksam, da schlussendlich die Ölmonarchien siegten, die für ihre religiöse Strenge bekannt waren. Weitere, aufschlussreiche Kommentare mit ähnlicher Stoßrichtung vergleichen den Schlachtruf Allahu akbar, der die siegreichen Truppen 1973 zum Sieg führte, mit dem »Zu Land! In der Luft! Zu Wasser!«, den die »gottlose« Regierung 1967 ausgegeben und der sie in die unvermeidliche Niederlage geführt hatte.

Der Einsatz der Waffe Öl im Oktober 1973 erfolgte zudem vor dem Hintergrund einer sich verschlechternden Beziehung zwischen Saudi-Arabien und den Vereinigten Staaten. Formell hatten die Beziehungen beider Staaten durch die Einigung zwischen Franklin D. Roosevelt und König ibn Saud am 14. Februar 1945 an Bord des Kreuzers USS Quincy begonnen, der in den Bitterseen des Sueskanals vor Anker gegangen war. Direkt aus Jalta angereist, wollte Roosevelt angesichts einer konfliktreichen »Aufteilung der Welt« mit der feindlichen Sowjetunion, die mit reichen Erdölvorkommen in Aserbaidschan und Sibirien gesegnet war, die Versorgung des Westens mit Erdöl sichern und trat damit die Nachfolge des im Zweiten Weltkrieg ausgebluteten Großbritannien an. Im Gegenzug für die Nutzung der Ölfelder durch die amerikanische ARAMCO (Arabian American Oil Company) sicherte Roosevelt der saudischen Monarchie den Schutz der Vereinigten Staaten zu. Diese Verabredung wurde am Valentinstag geschlossen – ein für ewige Versprechen sehr günstiges Datum – und bildete den wichtigsten Grund für die amerikanische Präsenz im Nahen Osten. Der Bund mit Saudi-Arabien hatte damit auch Vorrang vor den Beziehungen zu Israel, das bis zum Krieg 1967 vor allem von Frankreich ausgerüstet wurde (die Mirage-Flieger der Firma Dassault galten als entscheidend für den damaligen israelischen Sieg). Während der Sueskrise 1956 hatten die Vereinigten Staaten den Abzug der israelischen Truppen aus dem Sinai wie auch den Rückzug der anglo-französischen Fallschirmjäger verlangt und damit deutlich gemacht, dass in ihren Augen die israelischen Interessen keine Priorität besaßen. Dies änderte sich erst nach der berühmt gewordenen Pressekonferenz vom 27. November 1967, bei der de Gaulle die Besetzung der im Sechs-Tage-Krieg eroberten Gebiete kritisiert und die Belieferung Tel Avivs mit Waffen eingestellt hatte. Daraufhin sprang Washington ein: Erst jetzt setzten sich die Vereinigten Staaten über die Quincy-Vereinbarung hinweg, übernahmen die militärische Unterstützung Israels und räumten dem Schutz Israels Vorrang vor dem Öl-Deal ein. Die saudische Seite fühlte sich auch deshalb frei genug, im Gegenzug im Oktober 1973 der Quincy-Vereinbarung einen Schlag versetzen zu können, da die Preiserhöhung beim Rohöl auf mittlere Sicht den texanischen Ölförderfirmen in die Hände spielte, darunter auch der Zapata Petroleum Company, die 1953 vom späteren US-Präsidenten George H. W. Bush gegründet worden war. So hoffte sie, weiterhin fruchtbare Beziehungen zu den Vereinigten Staaten pflegen zu können. In jedem Fall gaben die veränderten Kräfteverhältnisse den Erdöl produzierenden Ländern die Gelegenheit, die ausländischen Ölfirmen im eigenen Land zu verstaatlichen. Damit sicherten sie sich deren Einkünfte, anstatt sich mit den Förderabgaben begnügen zu müssen, die sie bis dahin von den sieben »Majors« (auch Seven Sisters genannt) erhalten hatten. Die Ölmonarchien mehrten ihren Reichtum zusätzlich und vergrößerten ihre Einflussmöglichkeiten, den Nahen und Mittleren Osten umzugestalten und die Reislamisierung der regionalen politischen Ordnung voranzutreiben.

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