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Das Jahr 1989: der Dschihad und der Zusammenbruch des Kommunismus

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Als 1989 das Jahrzehnt endete, hatte sich im internationalen System ein islamisch geprägter Raum fest etabliert. Während die Aufteilung zwischen der von Washington geführten freien Welt und dem von Moskau gelenkten sozialistischen Raum nach der Konferenz von Jalta 1945 als Hauptantrieb für die Dialektik der Welt galt, schuf 1989 eine neue Wasserscheide. Die von den Einkünften aus dem Ölverkauf getragene Islamisierung ist ein umso stärkeres Symbol des kulturellen Bruchs, als in diesem Jahr auch der 200. Jahrestag der Französischen Revolution begangen wurde, der Geburtsstunde des Laizismus par excellence. In Frankreich belastete eine erste Auseinandersetzung um das Tragen des Schleiers in einer Schule in Creil (Region Paris) die Feierlichkeiten. Damit war der Startschuss für zahlreiche juristische Auseinandersetzungen gegeben, die von islamistischen Verbänden gegen den Staat angestrengt wurden, bis ein Gesetz im März 2004 endgültig das Tragen von »offensichtlichen religiösen Kennzeichen« in öffentlich finanzierten Schulen verbot. Bedenkt man die Aufregung in Großbritannien um die Anfang desselben Jahres gegen Rushdie ausgesprochene Fatwa, standen sich damit in gewisser Weise zwei dominante Auffassungen gegenüber: Doch sowohl der britische multikulturelle Säkularismus als auch der französische Laizismus entstammen der modernen europäischen Aufklärung und wurden beide mit voller Wucht von der Islamisierung der gesellschaftlichen und moralischen Werte getroffen, zum einen aus Richtung der schiitischen Revolution, zum anderen vom sunnitischen Konservatismus.

Es war ein bedeutsamer Zufall, dass sich die »Schleier-Affäre« von Creil, bei der sich am 18. September 1989 drei muslimische Schülerinnen in einem Pariser Vorort weigerten, den hijab im Unterricht abzulegen, wenige Wochen vor dem Fall der Berliner Mauer am 9. November ereignete. Als Augenzeuge erinnere ich mich, dass die französische Presse und Öffentlichkeit sich über die Verschleierung der Schülerinnen mehr erregten als über den Mauerfall. Wie bereits erwähnt, hatte auch Chomeinis Urteil über den Verfasser der Satanischen Verse am Valentinstag 1989 in den Medien den sowjetischen Rückzug aus Kabul am folgenden Tag, dem 15. Februar, völlig überdeckt. Der von einem Stück Stoff vor dem Gesicht von Teenagerinnen hervorgerufene Vorfall nahm trotz seiner Trivialität in der französischen Öffentlichkeit einen solchen Raum ein, dass der Zusammenbruch der UdSSR und des Kommunismus und damit das Ende des Kalten Krieges kaum wahrgenommen wurden. Auch wenn Beobachter aus dem englischen Sprachraum Gefallen daran fanden, die Aufregung in Frankreich zu verspotten, so spürte die französische Gesellschaft doch eine gewisse Angst vor dem schleichenden Bruch auf kultureller Ebene, der sich darin zeigte, dass die Vororte nach und nach islamisiert wurden. Der Bruch ersetzte jene Spaltung auf sozialer Ebene, die sich in der Politik in der Opposition zwischen links und rechts ausdrückte. Dies spiegelte das Ende der weltweiten Konfrontation zwischen Ost und West, zwischen Kommunismus und freier Welt wider und läutete eine Lesart der Gegenwartsgeschichte ein, bei der sich im »Kampf der Kulturen« der Westen und der Islam wie zwei unversöhnliche Einheiten gegenüberstanden, wie es Harvard-Professor Samuel Huntington in seinem gleichnamigen Bestseller von 1996 nannte. Drei Jahrzehnte später muss man festhalten, dass sich dieser kulturelle Bruch deutlich verstärkt hat und, über seine Steigerung in den dschihadistischen Terrorismus, zu einer der großen Verwerfungen der französischen Gesellschaft (wie auch des übrigen Europas) geworden ist. Dieses Phänomen konnte Frankreich bereits 1989 aus nächster Nähe in Algerien beobachten – einer Region, mit der Frankreich durch eine unerfreuliche, 130-jährige Kolonialgeschichte und mehrere Millionen Einwohner algerischer Herkunft verbunden ist, von denen die meisten bereits französische Staatsbürger waren oder es werden wollten.

Im März 1989 gründete ein Konglomerat aus unterschiedlichen Aktivisten, islamistischen Predigern, Salafisten und Dschihadisten verschiedenster Richtungen in der Ben-Badis-Moschee in Algier die Front islamique du salut (FIS, Islamische Heilsfront). Zu diesem Zeitpunkt kehrten algerische Afghanistan-Kämpfer in ihr Heimatland zurück und wurden für ihren Sieg gegen die Sowjetunion gefeiert – dabei hatte Moskau, einer der wichtigsten Förderer der in Algerien regierenden FLN, in seinen Universitäten und Militärakademien zahlreiche algerische Kader ausgebildet und Algeriens Armee ausgerüstet. Dank der Einkünfte aus dem Öl- und Gasverkauf hatte Algerien »den Sozialismus aufgebaut«, kontrolliert durch eine Oligarchie von Generälen, die sich mit dem Geldsegen Ruhe und Frieden erkauften. Im Zuge dessen zerstörten sie jedoch jeglichen Ansatz einer Zivilgesellschaft und trugen zur Zerschlagung der wirtschaftlich entscheidenden Klasse bei. Diese Strategie entließ die Bevölkerung, deren starkes Wachstum eine hartnäckige Konkurrenz zu Marokko um die Vorherrschaft im Maghreb auslöste, aus jeglicher Verantwortung und machte das Land für Schwankungen im Ölpreis anfällig, da der Verkauf von Rohstoffen die gesamte Wirtschaftsleistung bestimmte. Der konjunkturelle Einbruch 1986, der den Staatshaushalt halbierte, führte zu Entbehrungen und einer Senkung des Lebensniveaus. Misswirtschaft, Korruption und die Allgegenwart des trabendo (Schwarzmarkt) verschlimmerten die Lage zusätzlich.

In diesem schwierigen Umfeld brachen am 4. Oktober 1988 Unruhen aus, deren Niederschlagung mehrere Hundert Tote forderte. Die urbane, arme, revoltierende Jugend beschimpfte die Polizisten dabei als »Juden«, die sich den Israelis angenähert hätten, denn das Staatsfernsehen übertrug Bilder der gleichzeitig stattfindenden Repressionen gegen die Intifada. Wie im Iran 1978 hatte der algerische Aufstand anfangs keinen religiösen Charakter, doch die Staatsführung selbst appellierte an die Prediger. Am 10. Oktober empfing Staatspräsident Chadli Bendjedid muslimische Geistliche, um die Situation zu entschärfen, denn es war schon zu Plünderungen gekommen. In den 1980er-Jahren war die islamistische Bewegung in Algerien, wie übrigens in der gesamten sunnitischen Welt, stark angewachsen. 1982 schloss sich Moustapha Bouyali nach der Lektüre von Sayyid Qutbs Texten der Führung des Mouvement islamique armé (MIA) an (ganz ähnlich wie die FLN während des Unabhängigkeitskriegs gegen Frankreich agiert hatte), um durch einen Dschihad die Scharia im Land durchzusetzen. Sein Erfolg blieb jedoch bescheiden, und er wurde fünf Jahre später getötet – wohingegen die Regierung all jene bestärkte, die nach Afghanistan gehen und den Kämpfern nacheifern wollten, denn damit konnte sie sie loswerden … Zur gleichen Zeit kämpften konservative Kreise gegen linke Universitätsstudenten und forderten die allgemeine Abschaffung des Französischen zugunsten des Arabischen sowie die Anwendung der Scharia, wozu sie öffentliche Gebete abhielten: Auch sie bekamen Repressalien zu spüren. Das Regime folgte dem Beispiel Sadats, der ein Jahrzehnt zuvor in Ägypten dieser Bewegung den Wind aus den Segeln hatte nehmen wollen, indem er eine vom Staat kontrollierte Islamisierung förderte. Eine vom Koran inspirierte Familiengesetzgebung wurde verabschiedet, im Land eröffneten überall Moscheen, Bücher und Tonbänder wahhabitischer Prediger überschwemmten die Buchmesse in Algier und verdrängten Texte auf Französisch. Die Regierung lud den ägyptische Scheich Yusuf al-Qaradawi ein (der später als Fernsehprediger im Sender Al Jazeera ein großes Publikum erreichen und einer der wichtigsten Akteure bei der Islamisierung des Arabischen Frühlings 2011 werden sollte), damit er als Ansprechpartner vor Ort das »islamische Erwachen« begleitete.

Im Zusammenhang mit der allgemeinen, von den Ölmonarchien der arabischen Halbinsel seit 1973 geförderten Islamisierung der politischen Ordnung entstand in Algerien eine Art Gegen-Elite – womit sich in Nordafrika mit Verspätung das durchsetzte, was im Nahen und Mittleren Osten bereits geschehen war. An diese Gegen-Elite wandte sich Staatspräsident Chadli, mittlerweile der traditionellen Verbindung zur einzigen, inzwischen aber schwächelnden und im Mittelpunkt der Proteste stehenden Partei, der FLN, beraubt, um Ruhe und Ordnung wiederherzustellen. Am 10. Oktober empfing er den Prediger Sahnoun, einen ehemaligen Schüler Bouyalis und leidenschaftlichen Tribun des Dschihadisten Ali Belhadj, sowie den Führer der Muslimbrüder, Mahfoud Nahnah. Nach ihrem Aufruf endeten die Plünderungen – was bestätigt, wie groß ihr Einfluss war. Im Gegenzug erlaubte Chadli ein Mehrparteiensystem und eröffnete damit die Möglichkeit zur oben erwähnten Gründung der Islamischen Heilsfront FIS 1989. Sie wuchs ungemein rasch, zumal es ihr gelang, unter der Führung einer islamistischen Intelligenz zwei sich antagonistisch gegenüberstehende soziale Klassen zu vereinen: zum einen die arme, urbane Jugend – im Dialekt mit dem Spitznamen hittistes versehen (»die die Mauer festhalten«, wegen ihrer Untätigkeit) – und zum anderen die fromme Mittelschicht. Dieser revolutionäre Prozess erinnerte an die Anfänge im Iran in den Jahren 1978–1979. Die FIS forderte bald von der »gottlosen« Justiz die Freilassung von inhaftierten MIA-Dschihadisten, organisierte unaufhörlich Protestmärsche und Sit-ins und gewann hohes Ansehen, als sie nach dem Erdbeben in Tipasa im September die Aufgaben des schwachen Staats übernahm. Die FIS gewann mit großem Vorsprung die Kommunalwahlen im Juni 1990 und errichtete daraufhin ein Netz von »islamischen Gemeinden«. Auch im ersten Wahlgang zur Parlamentswahl im Dezember 1991 siegte sie. Dann jedoch schritt die Armee ein und verweigerte der Partei ihren Sieg, was, wie im Folgenden beschrieben werden wird, einen Dschihad in Gang setzte, der bis in das Staatsgebiet Frankreichs hineinwirkte.

Auch wenn in Algerien die Machtübernahme durch die Islamisten trotz ihrer anfänglichen Erfolge verhindert werden konnte, so übernahm im Jahr 1989 zum ersten Mal eine sunnitisch geprägte Persönlichkeit mit islamistischer Überzeugung die Führung eines arabischen Landes: Hasan at-Turabi im Sudan. Der charismatische Intellektuelle entstammte einem religiösen Milieu, erhielt seine Ausbildung allerdings in England und Frankreich, wo er mit der Dritte-Welt-Bewegung in Kontakt kam. Wie Ali Schariati auf schiitischer Seite wollte er die Islamisierung der Gesellschaft »von oben« erreichen. So wandte er sich vornehmlich an die sudanesische Intelligenz, die zu großen Teilen der außergewöhnlich mächtigen Kommunistischen Partei angehörte. Nach Verbüßung einer siebenjährigen Haftstrafe übernahm er einen pragmatischeren Ansatz und unterwanderte sowohl den Staatsapparat als auch die Armee und das islamische Bankenwesen, das Saudi-Arabien im Land aufgebaut hatte. In den letzten Jahren des Regimes unter General Numairi, also in der ersten Hälfte der 1980er-Jahre, wuchs sein Einfluss. Er ergriff Maßnahmen zum Verbot von Alkohol sowie zur Einführung der Scharia und traf sich im Januar 1985 mit dem Intellektuellen Mahmud Muhammad Taha, der eine neue, kritische Lesart des Koran vorschlug. Nachdem im selben Jahr Numeiri gestürzt worden war und ein Bürgerkrieg zwischen dem muslimischen Norden und dem animistischen und christlichen Süden das Land verwüstete, gründete Turabi die Nationale Islamische Front. Er lieferte der Armee die Legitimation für ihre Taten und wurde, als der militärische Rückschlag Khartums im Süden am 30. Juni 1989 zum Staatsstreich durch Umar al-Baschir führte, zu dessen grauer Eminenz.

Während das sowjetische Regime und die kommunistische Ideologie Ende 1989 in sich zusammenbrachen, eilte der politische Islamismus von Sieg zu Sieg – angefangen bei seiner Rolle beim Triumph über die Rote Armee in Kabul bis hin zur Machtübernahme in Khartum. Hinzu kamen die Affären rund um Rushdie in Großbritannien und den Schleier in Frankreich, bei denen der Islam in Bereiche der säkularisierten Kultur zweier europäischer Demokratien eindrang, um religiöse Werte umzusetzen. Nicht zu vergessen die Vereinbarung von Taif, mit der die sunnitische Vorherrschaft im Libanon gefestigt wurde, sowie die Gründung der FIS und der Hamas. Die Auswirkungen dieser Entwicklung sollten noch lange spürbar bleiben, auch wenn es zunächst nicht danach aussah. In Algerien wurde der Dschihad ausgerufen, als die Armee kurz vor dem erwarteten Sieg der FIS die Wahlen für beendet erklärte. Hier geschah das, was das letzte Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts prägen sollte und auch für den zeitgleich stattfindenden Dschihad in Ägypten und Bosnien galt: Alle drei scheiterten.

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