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Die schrittweise Islamisierung der Gesellschaften

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Durch die weltweite Verbreitung der wahhabitischen und konservativen sunnitischen Glaubensrichtung trat die saudische Außenpolitik jenen Missionaren der al-Azhar-Universität Kairo entgegen, die Nasser in alle Winkel der Erde ausgesandt hatte, um die Vereinbarkeit von Islam und Sozialismus zu verkünden – ein Nebenprodukt des Kalten Kriegs, in dessen Verlauf sich jede Seite bemühte, den Islam für eigene Zwecke einzuspannen. Kronprinz Faisal gründete dazu am 15. Dezember 1962 in Mekka die Islamische Weltliga, just in dem Moment, in dem die von der Sowjetunion trainierten ägyptischen Truppen im Jemen eintrafen und die Grenze zu Saudi-Arabien bedrohten. Bis 1973 spielte die Islamische Weltliga im großen ideologischen Kampf zwischen Moskau und Washington und ihren jeweiligen Verbündeten jedoch nur eine untergeordnete Rolle, als in der Auseinandersetzung ein sprachliches Register gezogen wurde, das der Religion nur einen nachrangigen Platz zuwies. Nach dem Untergang des Nasserismus erhielt die Islamische Weltliga dank des gestiegenen Ölpreises bedeutende Geldmittel zu ihrer Verfügung, um den saudischen Einfluss weltweit zu verbreiten. Saudi-Arabien wurde, regional wie international, zum Herz des neuen, islamischen Raums, der auf der arabischen Halbinsel sein Zentrum hatte. Fortan kam es darauf an, die entstehende Hegemonie zu festigen und durch ein karitatives und zielgerichtetes Mäzenatentum die Rechtfertigung dafür zu schaffen, dass die Ölrente von den radikalsten Sunniten als Lohn für ihren strengen Glaubenseifer vereinnahmt wurde. Die Liga ließ sich jedoch nicht in die internen Streitigkeiten hineinziehen, die ihren Glanz beschädigt hätten: Sie beschränkte sich auf das Ziel, gegen die »Neuerungen« zu kämpfen, die die »reine und authentische Botschaft des ursprünglichen Islam« entstellten – was vor allem auf den mystischen Sufismus abzielte –, und überließ den Muslimbrüdern ihren Platz. Damals galten diese als Verbündete im globalen Bemühen um die Islamisierung der Gesellschaften und als Akteure, welche die zu bekehrende moderne Welt besser kannten als die etablierten saudischen Ulemas.

In der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre, als viele Muslime in Europa, vor allem Gastarbeiter, massiv von der Wirtschaftskrise und Arbeitslosigkeit betroffen waren, zu denen die Vervierfachung des Ölpreises maßgeblich beigetragen hatte, eröffnete die Liga erste Büros und Moscheen auf dem alten Kontinent. Ziel war es, die entstehende Islamisierungsbewegung in diesen von einer Identitätskrise erschütterten Milieus zu flankieren, also bei Millionen von eher zufällig sesshaft gewordenen Individuen, die sich dafür entschieden hatten, in ihren Aufnahmeländern zu bleiben, auch wenn dort die unqualifizierten Arbeitsplätze immer weniger wurden.

Ägypten war zwar durch seine enormen Militärausgaben und das demografische Gewicht gehemmt, blieb aber dennoch weiterhin ein potenzieller Gegenpol zur Ausbreitung des Wahhabismus, vor allem dank der langen glanzvollen Geschichte der al-Azhar-Universität, in der die von den Salafisten verabscheute Sufi-Bruderschaft stark vertreten war. So blieb Ägypten ebenfalls im Visier der Liga. Ägypten musste stabil, aber auch in ständiger Abhängigkeit gehalten werden, damit es nie auf die Idee käme, sich der neuen saudischen Führungsrolle entgegenzustemmen. Bevor Sadat wegen seiner Reise nach Jerusalem und seiner Rede vor der Knesset am 20. November 1977 von der arabischen Welt mit einem Bann belegt wurde, hatte er selbst das Spiel der Islamisierung gespielt. Er trug die berühmte zabiba (»Rosine«), wie man in Ägypten den Gebetsfleck auf der Stirn eines Gläubigen nennt, der sich fünf Mal am Tag zum Gebet auf den Boden niederwirft. Auch ergänzte er seinen offiziellen Titel um den vormals nicht verwendeten Vornamen Mohamed und verfügte, dieser müsse vor dem offiziellen Titel des »gläubigen Präsidenten« (al rais al moumin) genannt werden. In Ägypten entstanden zahlreiche neue Moscheen, riesige, neongrün gestrichene Bauten, deren aufgedrehte Lautsprecher die städtische Kakofonie übertönten. Auf sämtlichen Flügen von Egypt Air wurde Alkohol verboten, und bald investierten die unter Nasser an den Golf emigrierten Muslimbrüder ihre Petrodollar wieder in islamische Banken, die schariakonforme Geschäfte betrieben. Das Jahrzehnt von Sadats Präsidentschaft veränderte auch das Erscheinungsbild der Menschen im Land, denn immer mehr Ägypterinnen trugen nun einen Schleier.

All diese Maßnahmen hatten prophylaktische Funktion: Das mit antizionistischer Propaganda übersättigte Volk sollte die Kehrtwende akzeptieren, die 1979 mit dem ägyptisch-israelischen Friedensvertrag eingeleitet wurde. Sie konnten freilich nicht verhindern, dass sich die islamistische Protestbewegung radikalisierte, im Gegenteil. Diese fand einen fruchtbaren Boden vor, in dem sie tiefe Wurzeln schlagen konnte. Und sie sollte dem »gläubigen Präsidenten« zum Verhängnis werden: Am 6. Oktober 1981 wurde Sadat während einer Militärparade zu Ehren der »Helden der Überquerung« des Sueskanals von der »Organisation al-Dschihad« ermordet. Dass dem unbeliebten ägyptischen Pharao in seinem Heimatland kaum jemand eine Träne nachweinte, habe ich in Kairo, meinem damaligen Wohnort, selbst miterleben können. Unter den für den ägyptischen Humor so typischen zynischen Witzen gehörte die Geschichte eines Straßenfegers zu den bekanntesten. Dieser säubert am Tag nach dem Attentat auf Sadat den Boden vor der Ehrentribüne und findet eine Art Rosine auf dem Boden: »Was ist denn das? Ach so, ja, die zabiba des Präsidenten!« Der Gebetsfleck auf der Mitte der Stirn, mit dem Sadat seine Frömmigkeit zur Schau stellte, war also nur aufgeklebt.

Ein weiterer Meilenstein in der schrittweisen Islamisierung des Nahen und Mittleren Ostens war der libanesische Bürgerkrieg, der das Repertoire der politischen Mobilisierung in religiöse Kategorien überführte. Die politische Mobilisierung war bis dahin vom Nationalismus bestimmt gewesen, angestachelt von der zentralen Bedeutung des »palästinensischen Widerstands« gegen den »zionistischen Feind«, und hatte sich in die globale Auseinandersetzung zwischen dem sowjetischen und dem US-amerikanischen Block eingefügt. Die palästinensische Militärpräsenz im Libanon war durch eine am 3. November 1969 in Kairo unterschriebene, geheime Vereinbarung zwischen dem Chef der libanesischen Armee und Jassir Arafat zustande gekommen. Mit ihr wurde im Süden des Landes, an der Grenze zu Israel, eine Art Staat im Staate geschaffen, dem sich nach den Massakern des »Schwarzen Septembers« 1970 immer mehr Kämpfer aus Jordanien anschlossen, die mit Unterstützung der arabischen Staaten schrittweise in den Libanon umgesiedelt wurden. Für die arabischen Staaten ging es darum, gegenüber ihrer Bevölkerung eine gesichtswahrende Lösung zu finden, indem sie nahe der »zionistischen Einheit« ein Zentrum errichteten, von wo aus sie den nötigen Druck eines Guerillakampfes mittlerer Intensität aufrechterhalten konnten. Die Vorstellungswelt des Widerstands hatte damit ihren Zenit erreicht, verstärkt noch durch das jämmerliche Bild, das die arabischen Armeen während des Sechs-Tage-Kriegs geboten hatten. Die linken Zeitungen im Quartier Latin, wo ich Schüler gewesen war, lieferten in diesen Tagen Überschriften wie »Der palästinensische Widerstand wird den Vertrag von Kairo hinwegfegen« oder »Der Weg nach Jerusalem geht über Amman, Beirut und Kairo«. Im weltweiten Kampf für die Durchsetzung des Sozialismus wurde hier die »zionistische Einheit« mit der »arabischen Bourgeoisie« gleichgesetzt.

Die grandiosen Projekte eines marxistischen Messianismus führten nirgendwohin; im Gegenteil, das zerbrechliche konfessionelle Gleichgewicht des Libanon wurde durch den Aufbau einer bewaffneten Bewegung durcheinandergebracht. Die nach ihrer nationalen Identität ganz und gar palästinensische Bewegung war eine muslimische und sunnitische Kraft – also weder christlich noch schiitisch. Im Mosaik des Zedernstaats wurde der Bevölkerungsanteil der Maroniten stetig kleiner, dabei war doch für sie 1920 unter französischem Völkerbundmandat der Libanon gegründet worden, und ihm verdankten viele Maroniten ihren Wohlstand und Aufstieg in die Mittelschicht. Im Gegenzug wuchs die Bedeutung der verarmten und marginalisierten schiitischen Bevölkerung deutlich an, was zu einer Landflucht und dem Entstehen eines gigantischen »Vororts« (dahiye) im Süden Beiruts führte. In der ersten Hälfte der 1970er-Jahre – also vor der iranischen Revolution 1978–1979, die die besondere Identität dieser Gruppe herausstellte – betrachtete man die Schiiten im Libanon eher undifferenziert als Muslime und zählte sie damit zur Klientel der sunnitischen Würdenträger, aus deren Mitte der Ministerpräsident bestimmt wird (der Staatspräsident, der die Regierungskontrolle in Händen hielt, muss laut Verfassung maronitischer Christ sein). Parallel dazu verstärkte die Ansiedlung der bewaffneten palästinensischen Organisationen die Muslime im Land insgesamt, die auf eine Reform des politischen Systems zu ihren Gunsten und auf Kosten der Christen drangen. In der Tat entwickelten die Palästinenser, die nahe der Grenze zu Israel im Süden des Libanon lebten, zur dort vorherrschenden schiitischen Bevölkerung eine ganz besondere Beziehung. Abu Dschihad, ein Stellvertreter Arafats, half Mitte der 1970er-Jahre dabei, die ersten schiitischen Parteien zu gründen wie etwa Amal oder die »Bewegung der Entrechteten« des Imam Musa as-Sadr. Wegen Gebietsstreitigkeiten und den vom Libanon aus abgeschossenen palästinensischen Katjuscha-Raketen, die israelische Bombardements auf den ganzen Süden des Landes nach sich zogen, traten nun allerdings Spannungen zutage. Während der Iranischen Revolution bot Arafat Chomeini 1978 organisatorische Mitarbeit an und erbat später Fatwas zugunsten der »palästinensischen Revolution«, um die Feindseligkeiten mit der schiitischen Bevölkerung zu verringern. Mit der Ausweitung der israelischen Angriffe nach 1972 verschlechterte sich insgesamt das Verhältnis zwischen dem libanesischen Staat, insbesondere dem christlichen Bevölkerungsanteil, und den Palästinensern.

All diese Gründe erklären den Ausbruch des libanesischen Bürgerkriegs am 13. April 1975, als ein Angriff von Phalange-Milizionären (Maroniten) auf einen Bus mit Palästinensern 27 Todesopfer forderte. Mit seiner Reaktion sicherte sich das »islamisch-progressive« Lager, dem die Palästinenserorganisationen die entscheidende Feuerkraft verliehen, die militärische Überlegenheit, und zwar zunächst mit syrischer Billigung. Im Juni 1976 jedoch ließ Hafiz al-Assad seine Armee in den Libanon einmarschieren, um das Gleichgewicht wiederherzustellen und Kapital daraus zu schlagen. Die syrische Besetzung eines Großteils des Landes dauerte fast drei Jahrzehnte und endete erst im April 2005. Von den vielen Wendungen des Bürgerkriegs, zu denen unter anderem der Einmarsch Israels im Südlibanon 1978 und zwischen 1982 und 1985 dann im gesamten Land bis an die Grenzen der Hauptstadt gehören, aber auch die Entführung westlicher Geiseln sowie die Bruderkriege zwischen christlichen Fraktionen, sind für meine Betrachtungen zwei Ereignisse entscheidend. Erstens die Gründung der Hisbollah Ende 1982, die seit 1985 offiziell existiert. Auf Betreiben von Chomeinis Iran gegründet, sollte diese schiitische Partei drei Jahrzehnte später das politische Leben des Libanon bestimmen, nachdem sie den Widerstand gegen Israel von der PLO übernommen hatte. Zweitens besiegelte das 1989 im saudi-arabischen Taif geschlossene Abkommen die Niederlage der Christen, indem es die politische Macht vom maronitischen Staatspräsidenten auf den sunnitischen Ministerpräsidenten übertrug. Der bedeutendste Profiteur dieser Regelung war der libanesisch-saudische Milliardär Rafiq al-Hariri, der ab 1992 wiederholt den Posten des Ministerpräsidenten einnahm und die zerstörte Innenstadt von Beirut wiederaufbauen ließ. Dieses »Solidere« genannte Projekt sollte die Wirtschaft des Landes ankurbeln – bis zu Hariris Ermordung am 14. Februar 2005 durch einen Anschlag auf seine Fahrzeugkolonne in eben dem Stadtteil, dem er so sehr seinen Stempel aufgedrückt hatte.

Die deutliche Umgestaltung des Libanon in einen sunnitischen Raum spiegelte sich an der Demarkationslinie zwischen der christlichen und der muslimischen Zone der Hauptstadt, im zerstörten Suq-Viertel und sichtbar im Bau der »Hariri-Moschee« wider, die so gewaltig ist, dass sie die benachbarte maronitische Kathedrale beinahe erdrückt. Paradoxerweise stellte das Abkommen von Taif, obwohl es ausdrücklich darauf abzielte, Muslime auf Kosten der Christen zu stärken, in Wirklichkeit doch einen schwachen Versuch der Sunniten dar, dem unaufhaltsamen Aufstieg der schiitischen Gemeinschaft einen Riegel vorzuschieben. Diese war zur inzwischen größten Bevölkerungsgruppe des Landes herangewachsen und wurde über den Umweg der Hisbollah vom Iran unterstützt und bewaffnet. Um die Logik des Aufstiegs einer schiitischen Macht in Konkurrenz zu Saudi-Arabien im islamischen Raum zu verstehen – aus dem sich letzten Endes auch der syrische Bürgerkrieg 2018 als Konsequenz ergab –, müssen wir uns in die Perspektive der Ereignisse des Schlüsseljahrs 1979 begeben. Es begann mit der Rückkehr Chomeinis nach Teheran im Februar und endete am Weihnachtstag mit dem Einmarsch sowjetischer Truppen in Afghanistan sowie dem dortigen Beginn des sunnitischen Dschihad. Unterdessen hatten im März Israel und Ägypten in Washington auch ihren Friedensvertrag unterzeichnet.

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