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Kapitel 2
ОглавлениеWie sollte ich das alles deuten, was gerade um mich herum geschah? Die Seherin sprach von drohendem Unheil. Wollte sie nicht oder konnte sie sich nicht präzise ausdrücken?
Ich lag auf meinem Bett, mein Tagebuch zwischen meinen Händen aufgeschlagen.
War ich auch eine Seherin?
Nein, das konnte nicht sein, denn in meiner Familie gab es diese Gabe nicht. Die Seherinnen träumten nicht, sondern hatten Visionen. Ich jedoch träumte.
Jede Nacht - schon seit Wochen - erlebte ich eine andere Welt, die so real erschien. Es waren doch nur Träume. Ich sah das Leben von jemand anderem, ich sah Jeremias Leben. Ich war eine Beobachterin. Nie konnte ich an dem Geschehen in meinem Träumen teilnehmen. Kaum schlief ich ein, traf ich auf Jeremia. War er nur eine wünschenswerte Fantasievorstellung, die entstand, weil ich mir die Liebe eines Mannes wünschte?
Ich blätterte in meinem Tagebuch, um die Stelle zu finden, wo ich mir die zweite Begegnung mit Jeremia notiert hatte. Ich las und las bis ich bemerkte, wie schwer meine Lider wurden. Der Schlaf legte sich über mich und schon fing ich an, zu träumen. Nur dieses Mal träumte ich nicht von der Stadt Castar.
Ich fand mich in einem geräumigen Saal wieder. So einen hohen Raum hatte ich noch nie zuvor gesehen. An den großen Fenstern fielen Vorhänge aus schwerem, rubinrotem Samt bis zum Boden. An den Wänden hingen Wandleuchter, die den Raum in ein warmes Kerzenlicht tauchten. Über mir an der Decke entdeckte ich einen riesigen Kronleuchter mit unzähligen brennenden Kerzen und glitzernden, tropfenförmigen Glaskristallen, in denen sich das Kerzenlicht spiegelte. Die beiden Saaltüren waren beinahe so hoch wie Stadttore. Sie bestanden aus purem Gold und waren mit feinen Ornamenten verziert. Über jeder Tür prangte ich ein auffälliges Wappen mit einem goldenen Adler auf rubinrotem Grund. Der Kerzenschein spiegelte sich in den Türen wider.
Der Fußboden bestand aus weißem Marmor. Ich fühlte mich wie in einer Kathedrale. Dies war sicherlich Teil eines der prunkvollsten Herrschaftspaläste von Galan.
Mitten im Raum stand ein großer, rechteckiger Tisch mit zwanzig Stühlen, die aus dunklem Mahagoni kunstvoll gefertigt waren. An den Stuhllehnen erkannte ich wieder diese goldenen, feinen Ornamente. Die Sitzflächen bestanden aus rubinrotem Samt.
Am Tisch saßen zwei Männer, die sich unterhielten. Plötzlich fing mein Herz an, wie wild zu klopfen. Ich fühlte es, ich wusste es, einer der beiden Männer musste Jeremia sein.
Warum reagierte ich so sehr auf ihn?
Ich näherte mich, stellte mich neben die sitzenden Männern und erkannte Jeremia, der mit einem älteren Mann sprach. Dieser Mann war kein Krieger, auch wenn seine stolze Haltung erkennen ließ, dass er einmal einer gewesen sein musste. Er trug, wie ein Herrscher, eine Robe aus dunkelblauem Samt. Der Kragen und die Knopfleisten waren mit Goldfäden durchzogen, die goldenen Knöpfe mit leuchtenden Rubinen besetzt. Er hatte einen weißen Bart. Seine kurzen Haare, die mal braun gewesen sein mussten, waren größtenteils ergraut. Seine Ohren liefen spitz zu, das kannte ich bereits von den Bewohnern aus der Stadt meiner Träume. War er der Herrscher dieser Stadt, dieses Territoriums? An seinen Augen blieb mein Blick haften. Solche Augen hatte ich noch nie zuvor gesehen. Sie waren wie Eis. Ein helles Blau mit silbernen Sprenkeln.
Die Kalanten hatten meist grüne oder braune Augen.
Dann drehte ich mich zu Jeremia um.
Mein Herz schlug so hart gegen meine Brust, als wollte es zerspringen. Blitzartig musste ich den Atem anhalten. Ich hatte ihn zuvor nur aus der Ferne gesehen, als wir in der schwach beleuchteten Gasse standen und danach durch das Fenster der Taverne, wo er gesessen hatte. Später sah ich ihn in meinen Träumen, als er in der Universität der Stadt mit seinem Kommilitonen lernte, ein anderes Mal beim Kampftraining, das die Krieger auf einem großen Platz ausführten. Mehrfach begegnete ich seinen Kollegen und ihm, als sie durch die Stadt zogen und herumalberten, aber ich hatte ihn bisher noch nie aus nächster Nähe begutachten können. Ich traute mich nie wirklich näher an ihn ran. Warum eigentlich nicht, fragte ich mich jetzt. Wochen über Wochen träumte ich immer wieder nur von ihm. Er war mir schon so vertraut.
Es schien, als würde er meine Gegenwart spüren. So kam es mir vor oder ich hoffte, dass er es tat. Immer wieder suchte er nach etwas. Das erkannte ich an seinen Bewegungen. Nach mir? Seine Kameraden machten sich lustig darüber, bis er es aufgegeben hatte, ihnen etwas zu sagen.
Aber was ich jetzt fühlte, als ich ihn nun vor mir sah, konnte ich wirklich nicht in Worte fassen. Mein Körper war wie gelähmt und ich musterte ihn, prägte mir jedes einzelne Detail ein. Er war wunderschön. Einfach alles an ihm war perfekt. Seine Haltung entsprach dem eines stolzen Kriegers, sicher und beherrscht. Jeremia war groß und kräftig gebaut, hatte leicht gewelltes, braunes Haar, das ihm bis zum Nacken reichte. Eine Strähne fiel ihm ins Gesicht. Er hatte makellose, helle Haut, hohe Wangenknochen, eine gerade Nase und wunderschöne, geschwungene Lippen. Und da waren noch seine Augen, die das gleiche Eisblau hatten wie die Augen des Mannes, der ihm gegenüber saß. Sie mussten verwandt sein. Jeremia war schwarz gekleidet und die oberen Knöpfe seines Hemdes standen offen.
Ich spürte meine Schmetterlinge im Bauch und hatte das Gefühl, als gehöre er zu mir.
Mein Verstand sagte mir, natürlich musste es so sein. Es war ja auch mein Traummann, mein Wunschgedanke, meine Sehnsucht.
Die Wirklichkeit sieht oft ganz anders aus, aber warum sollte ich mir einen hässlichen Mann vorstellen, in den ich mich verlieben sollte, wenn ich die Wahl hatte, mir einen schönen Mann auszusuchen? Ich musste schmunzeln. Natürlich ist Schönheit nicht alles - das Innere zählt viel mehr - aber wie könnte so ein edler, ritterlicher und stolzer Mann wie Jeremia, grob, grausam oder sogar böse sein?
Unerwartet hob Jeremia seinen Kopf und blickte in mein Gesicht. Für einen Moment dachte ich, er würde mich sehen. „Ich kann deine Meinung nicht teilen, Vater. Um die Territorien auf unsere Seite zu bekommen, muss es andere Mittel und Wege geben. Sie müssen doch die Gefahr erkennen.“ Jeremia war wütend.
Sein Vater schaute ihn mit müden Augen an. „Wir haben alle fünf Territorien informiert. Ich bin überall persönlich hingereist und habe mit allen Herrschern gesprochen. Sie hoffen, dass es nicht zu einem Krieg kommen wird. Sie hoffen, dass sie die Capitaner besänftigen können.“
„Capans Herrscher Netan hat keine Angst vor uns. Er ist ein wahrhaftes Monster und hat seine Armee aufgestockt und aufmarschieren lassen. Seine Krieger könnten jederzeit die Grenzen überschreiten. Und Vater, bedenke, sie sind nicht wie wir. Sie sind grausame Bestien, die neben ihren herkömmlichen Waffen ihre Reißzähne benutzen, um ihre Opfer bei lebendigem Leib zu zerfetzen. Ich habe gesehen, wie ihre Klauen sich durch Fleisch und Rippen bohrten und das Herz eines Gegners aus seiner Brust rissen. Sie sind kaltblütige Barbaren. Unsere einzige Möglichkeit, sie abzuwehren, liegt in dem Zusammenhalt aller sechs Galanterritorien, die gemeinsame Streitkräfte bilden.“
„Ich weiß, mein Sohn. Fast alle haben die Situation erkannt, nur Herrscher Verson vom Territorium Nalada sträubt sich noch. Da Nalada an der Grenze zu Capan liegt, hat Verson mit Netan ein Friedensabkommen geschlossen. Sie leben seit Tausenden von Jahren friedlich nebeneinander. Verson will die Gefahr nicht sehen und bagatellisiert die Gewalt, die von den Capitanern ausgeht, behauptet gar, Gewalttaten kämen in seinem Territorium nie vor.“
Einen Moment herrschte Stille. Dann redete sein Vater weiter. „Du weißt, dass sogar die Gefahr besteht, dass Nalada und Capan sich zusammenschließen könnten.“ Jeremia schluckte, während sein Vater fortfuhr.
„Ja, das wäre entsetzlich. Die Armeen von Nalada und Capan zusammen sind einfach zu stark und uns weit überlegen. Wir müssen Verson umstimmen und Nalada auf unsere Seite bekommen. Wir dürfen auf keinen Fall zulassen, dass sie sich vereinen. Das wäre verheerend. Deswegen bitte ich dich, Jeremia, willige ein in die Verlobung mit Versons Tochter Narissa. Dies ist die einzige Möglichkeit, Nalada zu einem Bündnis mit uns zu verpflichten. Du würdest als Versons Nachfolger den Thron besteigen. Verson ist schon alt. Er wünscht sich, dass seine Tochter einen Mann heiratet, der ihrer würdig ist, und Narissa liebt dich, das weiß ich.“
Ich konnte es nicht glauben. Er gehörte zu mir! Ich fühlte es.
Was war das für ein absurder Traum?
Sogar in meinen Träumen drohte eine andere Frau, mir meinem Traummann wegzunehmen.
„Nein Vater, ich will das nicht. Ich begehre sie nicht und von Liebe kann keine Rede sein.“ Jeremia schlug mit der Hand auf den Tisch.
Uff! Das war eine Erleichterung. Mir fiel ein Stein vom Herzen. Ich hätte ihn fast verloren, bevor ich ihn überhaupt besaß.
„Wie du willst, mein Sohn, aber denke darüber nach, denn anders werden wir sie nicht überzeugen können. Es ist zum Wohle aller. Lass uns nun zu Bett gehen. Die Ereignisse machen mich alten Mann sehr müde und ich kann mich nicht mehr konzentrieren.“
Bevor er den Raum verließ, blieb er kurz bei seinem Sohn stehen und legte eine Hand auf Jeremias Schulter. Dann entfernte er sich.
Jeremia blieb sitzen. Er vergrub sein Gesicht zwischen seinen Händen. Ich konnte seine Verzweiflung spüren. Plötzlich stand er auf und hechtete mit schnellen Schritten zur Tür. Ich folgte ihm. Er schritt mit seinen langen Beinen so schnell voran, dass ich teilweise sogar rennen musste. Während wir zwei weitere Räume durchquerten, hörte ich ihn laut mit sich selbst sprechen. „Wie kann man so etwas von mir erwarten? Sie kennt mich doch gar nicht. Wir sind uns erst ein paar Mal begegnet, schon redet sie von Liebe. Sie ist ein verwöhntes, kleines Biest. Sie weiß doch gar nicht, was Liebe bedeutet. Sie will doch nur ein neues Spielzeug und ihr Vater gibt ihr immer alles, was sie will. Unser aller Leben steht auf dem Spiel, und alles hängt von diesem Weibsbild ab.“
Wütend lief er weiter voran und ich hinterher.
Diese Narissa machte mich auch wütend, dabei kannte ich sie noch nicht einmal.
Abrupt blieb er stehen. Wir befanden uns in einem Schlafzimmer. An der gegenüberliegenden Wand stand ein riesiges Bett. Auf der Matratze lagen ein cremefarbener Überzug aus Seide und vier passende Kissen. Ein riesiges Regal mit Hunderten von Büchern nahm eine ganze Wand ein.
Das war das Paradies. So viele Bücher, davon konnte ich nur träumen. Upps! Das tat ich doch gerade.
Auf der anderen Seite stand eine Kommode, darüber hing ein großer Spiegel mit goldenem Rahmen. Die Möbel waren aus dunklem Mahagoni. Am Fenster stand ein gemütlicher Ohrensessel, auf dem ein aufgeschlagenes Buch lag. Der Kerzenleuchter auf dem Beistelltisch tauchte den Leseplatz in sanftes Licht.
Jeremia ging in einen Nebenraum. Ich setzte mich aufs Bett. Es war so hoch, dass ich meine Beine baumeln lassen und nur mit meinen Fußspitzen den Boden berühren konnte.
Ich war in SEINEM Zimmer.
Ich sorgte mich um ihn, um uns. Das Gespräch zwischen den beiden Männern hatte mich schockiert. Konnte es sein, dass dies das Territorium Cavalan war? Cavalan grenzt an unser Territorium und der Herrscher dieses Territoriums heißt Jahred Nahal. War dieser alte Mann wirklich Jahred Nahal und Jeremia sein Sohn?
Verständnislos blickte ich die Tür an, hinter der Jeremia verschwunden war. Eine Bauerntochter aus einem kleinen Dorf träumte von einem Prinzen aus einem fernen Land. Niemals würden wir zusammenkommen. Schade. Plötzlich ergriff mich eine tiefe Traurigkeit. Auch wenn meine Träume von Jeremia nur Fantasien waren, so würde er als Erhabener von Cavalan niemals eine einfaches Mädchen aus dem Volk Kalanders freien, weder in meinen Träumen noch in der Wirklichkeit. Wenn meine Träume irgendetwas mit dem wahren Leben gemein hatten und das vielleicht wirklich alles gerade passierte, dann gab es nichts, was uns verband.
Ich fühlte mich beraubt.
Auf einmal ging die Tür auf und ich erblickte einen Mann, der nichts weiter trug, als ein Handtuch um seine Hüften.
Du lieber Himmel, sah Jeremia gut aus!
Meine negativen Gedanken waren wie weggefegt.
Das Licht spiegelte sich in jedem einzelnen Wassertropfen auf seiner glatten Haut wider. Im dämmerigen Licht der Kerze sah ich, wie sich seine Muskeln wölbten und streckten. Er kam langsam auf mich zu und setzte sich neben mich aufs Bett. Er saß ganz gelassen neben mir mit beiden Füßen auf dem Boden. Er musste ein ganzer Kopf größer sein als ich.
Er war mir so nah, dass ich seinen Geruch wahrnehmen konnte. Er roch süßlich und doch herb.
Er saß einfach nur da. Wahrscheinlich dachte er gerade nach. Ich konnte meine Augen nicht von ihm lassen, beobachtete ihn. Nur Zentimeter trennte mein Gesicht von seinem. Sein markantes Gesicht war unfassbar und unerträglich schön. Ich wollte ihn so sehr küssen. Er konnte bestimmt gut küssen. Ich sah seine vollen Lippen und hätte sie gerne berührt.
Sein Körper drehte sich langsam zu mir. Er lauschte.
Nahm er mich gerade wahr? Ich war wie gebannt und wartete ab, was er jetzt machen würde. Dann schüttelte er den Kopf und stand auf. Er ging einmal um das Bett herum und ließ das Handtuch fallen. Jetzt war er nackt. Ich spürte, wie mir die Röte ins Gesicht schoss. Im gleichen Moment drehte er sich um und ich sah sein Hinterteil. Vor Scham wandte ich mich ab, hörte Schritte und sah, wie Jeremia die Bettdecke zur Seite zog und sich nackt unters Laken legte. Nur sein Oberkörper und sein Gesicht ragten heraus. Die Arme verschränkte er hinter seinem Kopf und so starrte er zur Decke. Der Ausdruck in seinem Gesicht war fahl und bekümmert. Was ging jetzt in ihm vor? Wie gerne würde ich seine Gedanken mit ihm teilen. Auch ich machte mir Sorgen. Was sollte ich jetzt tun?
Ich wechselte zur anderen Seite des Bettes und legte mich einfach neben ihn. Die ganze Nacht würde ich ihn anschauen und über ihn wachen, dachte ich mir.
Irgendwann schlief er ein und ich wachte auf.
Der Hahn krähte draußen. Schnell stieg ich aus dem Bett, denn es war schon spät für mich. Auch wenn die Sonne nur leicht sichtbar am Horizont stand, hätte ich längst meiner Mutter in der Küche helfen müssen. Das Leben auf einem Bauernhof begann sehr früh.
Ich war in meiner gestrigen Kleidung eingeschlafen. Schnell streifte ich mir den langen Rock und die Bluse ab, hüpfte rüber ins Bad und wusch mir die Augen und das Gesicht, während ich sehr intensiv an Jeremia dachte und an seinen vollkommenen, makellosen Körper.
Zurück in meinem Zimmer nahm ich Unterwäsche aus der Kommode, einen langen braunen Rock und eine weiße Bluse aus dem Kleiderschrank. Die getragene Wäsche legte ich in meinen Wäschekorb neben der Tür, zog mich an, bürstete mein Haar und band es zu einem Zopf zusammen. Ich setzte mich auf das Bett und streifte mir noch schnell meine braune Strumpfhose und meine Arbeitsstiefel über. Schon rannte ich hinunter in die Küche.
Meine ganze Familie saß schon am Frühstückstisch. Der Geruch von Kaffee und der Duft von frischem Brot drangen mir in die Nase.
„Guten Morgen, Liebes“, wünschte mir meine Mutter.
„Guten Morgen, alle zusammen. Entschuldigt, dass ich verschlafen habe“, nuschelte ich, da ich schon ein Stück Brötchen zwischen meinen Zähnen kaute. Ich war so hungrig.
„Hast du gut geschlafen?“, wollte mein Bruder Brasne mit einem bissigen Unterton wissen.
„Ja, warum grinst du so hämisch?“
„Nur so!“ Seine wilden Haarlocken standen ihm noch zu Berge. Er musste auch gerade erst aufgestanden sein. „Ich bin gestern Abend an deinem Zimmer vorbeigegangen, und dabei habe ich dich stöhnen gehört. Hattest du schon wieder einen Traum?“
Auch meine anderen Brüder fingen an zu grinsen, außer Aaron. „Lasst sie in Frieden“, verteidigte er mich. „Ihr wisst ganz genau, dass sie seit Wochen unter ihren Träumen leidet.“
„Woher sollten wir das wissen?“, fragte Talon schelmisch und schob sich ein ganzes Spiegelei in den Mund. Fünf Eier zum Frühstück waren für meine Brüder nichts Ungewöhnliches. „Sie spricht toch mirtt diiich mur ... aaahhh heisssss...“
„Was??“ Aaron lachte. „Du bist zu gierig, Talon!“
„Es reicht jetzt“, herrschte mein Vater. „Wir sind schon spät dran. Talon und Theran, kümmert euch um die Saat, die wir eingekauft haben! Sie muss heute noch gesät werden. Ihr werdet heute den ganzen Tag damit zu tun haben. Jazem, hast du schon deine Sachen gepackt und die Unterlagen bereit gelegt?“
„Ja, Vater, ich habe auch das Pferd schon gesattelt und aus dem Stall geholt. Ich suche nur noch die Verträge raus, und bin in einer Stunde abreisefertig.“
Mein Bruder Jazem musste für zwei Tage verreisen. In einer Nachbarstadt, einen Tagesritt von hier entfernt, wollte er sich mit einem Kaufmann treffen, um mit ihm Verträge auszuhandeln. Da die Strecke dorthin sehr weit war, würde er in einer Herberge übernachten.
„Casper, du hilfst heute deiner Mutter in der Küche und dann im Garten, und Aaron, du und Isma, ihr kümmert euch um die Tiere und den Stall!“, ordne Vater an.
Alle standen auf und machten sich ans Werk.
Aaron und ich gingen hinüber in den Stall. Die Kühe mussten zuerst gemolken werden, danach brachte Aaron die vollen Milcheimer zu unserer Mutter in die Küche. Die Hühner wurden gefüttert und ebenso die Schweine.
Als Aaron zurückkam, kämpfte ich mit einer Mistgabel, die zwischen zwei Holzbalken steckte. „Mist, du blödes Ding, wer war so schlau und hat die Mistgabel dort hineingesteckt?“ schimpfte ich. Mit einem festen Ruck zog ich an der Mistgabel und fiel rücklings auf den Boden.
An der Stalltür angelehnt, fing Aaron an, laut zu lachen.
„Sehr witzig, Aaron, anstatt so blöd zu schauen, hilf mir, aufzustehen!“
„Du bist so süß, wenn du dich aufregst“, er unterdrückte ein weiteres Kichern, während er mir aufhalf.
„Hilf mir bitte, die Heuballen rüber zu den Boxen zu bringen“, bat ich ihn.
„Wird sofort erledigt.“
Gemeinsam machten wir uns an die Arbeit.
Ich schwieg die ganze Zeit und Aaron pfiff fröhlich vor sich hin. Nach getaner Arbeit ließen wir uns auf das Heu fallen. Es war schon fast Mittag. Mutter würde uns bald zu Tisch rufen. Während wir erschöpft dasaßen, fragte Aaron neugierig, was ich heute Nacht Schlimmes geträumt hätte. Aaron wusste über meine Träume Bescheid. Er war der Einzige, den ich eingeweiht hatte. Er war immer ein guter Zuhörer und er versuchte, mir zu helfen, die Träume zu verstehen. Ich informierte ihn über meinen gestrigen Traum, ließ aber die Sache in Jeremias Zimmer aus. Dies brauchte er nicht zu wissen.
„Was denkst du?“, fragte ich stirnrunzelnd.
„Es ist wirklich seltsam. Ich verstehe, was du meinst mit den Parallelen. Gestern war ich auch sehr überrascht, als Brasne von den Weissagungen der Seherin erzählte. Ich musste sofort an deine Träume denken. Nun träumst du, dass Jeremia der Sohn von Jahred Nahal ist, der Herrscher aus dem Nachbarterritorium Cavalan. Jahred Nahal gibt es. Das wissen wir. Dass er einen Sohn mit dem Namen Jeremia hat, wusste ich nicht, aber wir erfahren ja auch nicht alles. Der Krieg ist vorhergesagt worden und in deinen Träumen sprachen sie auch darüber. Wie gesagt, es ist recht seltsam“, schloss er.
„Was hat das alles zu bedeuten?“ wollte ich wissen. „Ich bin doch keine Seherin.“
„Vielleicht hast du eine andere Gabe.“, antworte Aaron.
„Und welche sollte das sein?“
„Es gibt Geschichten über Seelenwanderer. Das habe ich in einem Buch gelesen, und Großvater hat mir Geschichten darüber erzählt.“
„Von Seelenwanderern habe ich noch nie etwas gehört.“ Ich wurde hellhörig.
„Die gibt es auch nicht mehr, zumindest denken das die Leute. Vor langer Zeit gab es Seelenwanderer in allen Territorien. Sie zählten zu den Vertrauten der Herrscher und hatten sehr viel Macht, waren aber auch sehr gefürchtet.“
„Warum waren sie gefürchtet?“ Ich wollte mehr hören.
„Nun ja, man erzählte sich, dass, wenn ihre Körper ruhten, ihre Seele wanderte. So beobachteten und belauschten sie die Leute im Auftrag ihrer Herrscher. Mit ihren Informationen konnten die jeweiligen Herrscher Abtrünnige ausfindig machen und sie dann bestrafen oder sogar töten lassen. Die Angst der Menschen wurde so groß, dass sie die Seelenwanderer jagten und ermordeten. Mit der Zeit gerieten Seelenwanderer in Vergessenheit.“
„Das ist eine sehr traurige und grausame Geschichte, aber ich glaube nicht, dass ich eine Seelenwanderin bin.“
„Warum glaubst du das?“, wollte Aaron wissen.
„Weil ich in meinen Träumen nicht beeinflussen kann, wo ich hingehe. Ich habe noch nie zuvor von Jeremia gehört“, erwiderte ich.
„Das mag sein, aber trotzdem wäre das eine Erklärung für das, was du erlebst.“
Schweigend saßen wir da. So viele Gedanken schwirrten mir durch den Kopf. Konnte ich eine Seelenwanderin sein?
Und warum hatte ich noch nie zuvor davon gehört?
Mein Großvater hatte mir so viele alte Geschichten erzählt, warum nicht diese? So viele Fragen, die ich gerne beantwortet hätte. „Leihst du mir das Buch, in dem du über die Seelenwanderer gelesen hast“, bat ich ihn.
„Natürlich, du kannst es haben, aber zerbrich dir bitte nicht zu sehr dein hübsches Köpfchen. Es wird einen Grund geben, warum das alles passiert und den wirst du früher oder später ergründen.“
„Aaron, du brauchst dir keine Sorgen zu machen.“ Ich ergriff seine Hand, um ihn zu beruhigen. Aber meine innere Stimme sagte mir, dass ich insgeheim diese Sorgen teilte.
Wir hörten Mutter nach uns rufen. Langsam erhoben wir uns und kehrten zum Haus zurück.
Beim Mittagessen unterhielten sich alle angeregt. Nur ich schaffte es einfach nicht, den Gesprächen zu folgen. Meine Gedanken kreisten immer wieder um die Seelenwanderer.
Nach dem Essen überreichte Aaron mir auf seinem Zimmer das Buch. Jetzt brauchte ich ein stilles Plätzchen, und wie so oft, fand ich die Ruhe auf meiner kleinen Holzbank am Brunnen bei meinen Blumen im Garten.