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Kapitel 5

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Am nächsten Tag. Nach dem Gespräch am vorherigen Tag mit meiner Mutter war nichts Besonderes mehr passiert. Während des Abendessens hatten wir über belanglose Dinge gesprochen. Mein Problem mit der Seelenwanderung wurde nicht erwähnt. Mutter wollte erst mit Vater darüber sprechen, bevor wir es dann meinen Brüdern mitteilen wollten. Das war mir sehr recht, denn ich selbst musste es erst begreifen und verarbeiten. Nach dem Abendessen spurtete ich direkt in mein Zimmer und setzte mich an den Schreibtisch. Ich holte mein Tagebuch heraus, um die Neuigkeiten festzuhalten und mir meine Sorgen von der Seele zu schreiben. Indem ich meine Erlebnisse niederschrieb, konnte ich sie am besten verarbeiten. Ich hatte sehr viel zu schreiben. Stunden später überkam mich wieder eine Müdigkeit, die sich wie Nebel über meine Gedanken legte. Ich gähnte und beendete den letzten Satz, bevor ich das Tagebuch zuklappte. Schließlich machte ich mich bettfertig und krabbelte unter die Decke.

Jeremia musste die Nacht ohne mich auskommen. Natürlich wollte ich ihn sehen, aber ich befürchtete, dass ich etwas sehen könnte, was mir missfiel. Allein der Gedanke, Jeremia mit Narissa zusammen zu sehen, versetzte mich in Panik. Ich wollte nicht noch einmal verletzt werden.

Also nahm ich mir vor, nicht meinen Körper zu verlassen. Und so sollte es dann auch sein.

Am nächsten Morgen schnellte ich noch vor Sonnenaufgang hoch. Schnell kleidete ich mich an, um vor meiner Familie in der Küche zu sein. Ich stellte Wasser auf den Herd, deckte den Tisch und bereitete in aller Ruhe das Frühstück. Kurze Zeit später trat meine Familie in die gute Stube.

Mein Vater umarmte mich und lächelte vielsagend. Mutter hatte mit ihm gesprochen, und er wollte mir mit dieser Geste zeigen, dass er Bescheid wusste.

„Guten Morgen, kleine Isma.“ Brasne grinste mich an.

„Du siehst ja richtig erholt aus. Hast du endlich mal durchgeschlafen?“

Ich nickte. „Ja, und ich fühle mich wirklich besser.“

„Gut so, du sahst nämlich schrecklich aus in den letzten Tagen. Es freut mich, dich wieder ausgeruht zu sehen.“

Auch Aaron, die Zwillinge und Casper wünschten mir einen Guten Morgen, bevor sie sich auf das Essen stürzten. Nach dem Frühstück verlief alles wie gewohnt. Sie zogen sich warm an, denn draußen war es morgens schon recht kühl.

Schweigend halfen Casper und ich meiner Mutter noch in der Küche. Ich beobachtete Casper und fragte mich, worüber er grübelte. Manchmal schien es, dass er in seiner eigenen kleinen Welt lebte.

Als wir fertig waren, nahm auch ich meinen Mantel und wanderte in den Stall, um meiner täglichen Arbeit nachzugehen. Heute sollte Aaron meinem Vater und den Zwillingen helfen, deswegen war ich alleine im Stall. Ich beeilte mich, die Kühe zu melken, die Tiere zu füttern und die frischen Eier zu holen. Die Milch und die Eier brachte ich ins Haus. Anschließend schleppte ich Strohballen vom Karren in den Stall. Diese Arbeit war eher für kräftige Männer, aber Aaron war nicht da, deswegen machte ich mich selber daran. Ich hatte keine Angst vor schwerer Arbeit. Wie oft musste ich hören, dies sei nichts für Frauen, aber das spornte mich nur noch mehr an. Ich konnte anpacken, das hatte ich gelernt. Irgendwann machten die Jungs Bemerkungen, dass an mir ein Junge verloren gegangen sei.

Na und!

Ich war schließlich mit sechs Brüdern aufgewachsen. Leider hatte ich nicht oft die Gelegenheit, meine weibliche Seite zu zeigen. Es gab jährlich zwei Dorffeste, die wir gemeinsam aufsuchten. Ich sah aber keinen Grund, hübsche Kleider anzuziehen oder mich aufzutakeln. Warum auch? Die jungen Männer schauten fast nie zu mir herüber, aus Angst, dass meine Brüder es bemerkten. Zwischendurch erhaschte ich Blicke einiger junger Männer, die aber sofort wegschauten, wenn ich es bemerkte. Immer wieder stellte ich mir die Frage, ob ich überhaupt attraktiv war? Klar, meine Eltern, wie auch meine Brüder machten mir oft Komplimente, aber das zählte nicht wirklich.

Narissa hatte bildschön in ihrem kostbaren, eleganten Kleid ausgesehen. Ihre Schönheit und ihr Kleid ließen mich neidvoll schwärmen. Es gab keine vergleichbare Frau wie sie. Die Schönste aller Schönen. Und was war ich dagegen? Ein hässliches Entlein. Ich hatte keine Chance, ihr einen Mann auszuspannen, so sehr ich mich auch anstrengen würde.

Vergiss es, redete ich mir ein. Trotzdem wurmte es mich, dass ich Jeremia abschreiben sollte. Ein tiefer Seufzer kam aus meinem Mund. Dieser starke Krieger, dieser anbetungswürdige Ehrenmann, Sohn eines Herrschers, reich und berühmt. Er war so stattlich, männlich, verwegen, gutaussehend, prächtig und attraktiv. Eine kleine nichtssagende graue Maus, wie ich eine war, würde er auf jeden Fall übersehen. Und doch gefiel mir die Vorstellung, dass ich an seiner Seite schritt. Ich mit meiner armseligen saloppen Kleidung und er mit seiner eindrucksvollen eleganten schwarzen Uniform. Wie grotesk! Ich sah sein Gesicht, seine makellose Schönheit und dann sah ich mich. Nein, es war unmöglich, dass er sich je für mich interessieren könnte.

Außerdem war er vergeben. Ich durfte nicht darüber nachdenken. Was für einen Sinn hatte es eigentlich, dass ich in meinen Träumen zu ihm geführt worden war? Wollten die Götter mir einen Streich spielen oder gab es noch eine höhere Aufgabe, als sich zu verlieben?

Trotz dieses Widerspruchs sehnte sich mein ganzer Körper, diesen Mann zu berühren und zu küssen. Ich war ihm verfallen. Ich begehrte ihn so sehr, dass es schmerzte, als würde meine Seele ihm gehören und ich wäre nur noch eine leere Hülle.

Erschöpft durch das Tragen der Strohballen, setzte ich mich einen Moment auf das ausgebreitete Stroh. Es piekste auf meiner Haut. Trotz allem machte ich es mir so bequem wie möglich. Ich legte mich hin, verschränkte die Arme hinter meinem Kopf und wollte einfach nur nachdenken. Ich, eine Seelenwanderin!

Das veränderte alles. Dank meines Großvaters hatte ich nicht nur Schreiben und Lesen gelernt, sondern auch ein umfangreiches Wissen von ihm gelehrt bekommen. Diese Möglichkeit blieb den einfachen Leuten normalerweise verwehrt. Zusätzlich wusste ich jetzt, dass ich außerdem die besondere Gabe einer Seelenwanderin besaß. Es öffnete sich mir eine neue Welt. Ich war jetzt etwas ganz Besonderes.

Vielleicht hatte ich eine göttliche Aufgabe zu erfüllen? Dies gab mir neuen Mut. Uns würden schwere Zeiten bevorstehen, aber ich würde mich dagegen wappnen und meinen Platz in dieser Geschichte finden.

Ich durfte Jeremia nur als Krieger sehen, und die Gefühle, die ich für ihn empfand, musste ich ausblenden. Ich war stark, ich musste stark sein. Und das würde ich auch sein. Entschlossen stand ich auf und ging Richtung Wohngebäude. Als ich ins Freie trat, fuhr mir der kalte Wind ins Gesicht. Instinktiv schloss ich meine Arme um meinen Körper, um die Wärme unter meinem Mantel zu halten.

Schnelle Hufschläge näherten sich unserem Hof und ließen mich aufblicken. Ich erspähte auf dem Hügel ein galoppierendes Pferd mit meinen Bruder Jazem als Reiter. Er kam von seiner Geschäftsreise zurück. Zwei Tage war er weg gewesen und nichts war mehr so wie vorher. Ich hatte mich verändert. Freudig erregt lief ich ihm entgegen, froh, ihn heil wiederzusehen.

Als ich ihn erreichte, schwang er sich graziös von seinem Pferd und umarmte mich stürmisch. „Am Schönsten ist es doch immer zu Hause“ sagte er mehr zu sich selber als zu mir. „Ich bin so froh, dich zu sehen. Es waren zwei harte Tage und es gibt Neuigkeiten. Ich habe euch so viel zu berichten, aber lass uns warten, bis wir alle beisammen sind“, keuchte er aufgeregt. Er führte das Pferd am Zügel zum Stall, wo er es absattelte und in seine Box entließ.

Ich schlenderte neben ihm her, um dann gemeinsam mit ihm die Türschwelle des Wohngebäudes zu übertreten.

Prompt kam Mutter uns freudestrahlend entgegen gelaufen. Sie umarmte meinen Bruder auf Herzlichste und zog ihn mit sich in die Küche.

Wie ein drittes Rad am Wagen trottete ich hinterher. Aus dem Ofen kam uns warme Luft entgegen, so dass wir uns eiligst unserer Mäntel entledigten. Es duftete lecker. Wir setzten uns an den gedeckten Tisch. Mein Magen fing an zu knurren.

„Wie war es?“, wollte Mutter von Jazem wissen.

„Die Reise war anstrengend, aber Herr Valisi und ich haben gemeinsam den Vertrag ausgehandelt und er hat unterschrieben“, antwortete Jazem stolz.

„Da wird sich dein Vater freuen. Aber erzähl mal. Gibt es Neuigkeiten in Kanas?“

Kanas ist die Hauptstadt von Kalander. In der dicht besiedelten Stadt lebten viele Menschen unterschiedlicher Klassen. Auf den Anhöhen und Hügeln standen die Villen und Prachtbauten der Reichen, in erster Linie waren das Gelehrte, Gesandte und wohlhabende Geschäftsleute. Auf dem höchsten Hügel stand der Palast unseres Herrschers Fisius. Er war ein Mann mittleren Alters, der erst seit kurzem sein Amt als Herrscher angetreten hatte, da sein Vater vor zwei Jahr verstarb. Damals, bei der Amtseinführung und Titelverleihung, wurde ein riesiges Fest gefeiert, zu dem alle Einwohner von Kalander eingeladen wurden. Auch wir waren angereist und besuchten, bei der Gelegenheit, Tante Lana, die Schwester meines Vaters. Fisius galt als gütig und gerecht. Das Volk war ihm sehr zugetan. Dementsprechend groß fiel der Jubel aus, als er die Regentschaft übernahm.

„Es gibt besorgniserregende Ereignisse, die sich zugetragen haben, aber das erzähle ich euch nach dem Essen. Ich möchte mich kurz etwas frisch machen und bis die anderen da sind, gehe ich hoch, um mich ein wenig auszuruhen“, sagte Jazem zu uns.

Mutter nickte enttäuscht. Besorgnisfalten zogen sich über ihr Gesicht. Sie ahnte, dass es nicht nur gute Neuigkeiten gab. Wusste er mehr über die Kriegsgerüchte?

Jazem stand auf und verschwand aus der Küche, während Mutter und ich uns schweigend anschauten. Keiner sprach ein Wort. Was hätten wir auch sagen sollen? Wir wussten beide, dass jetzt die schwere Zeit kam, die alles verändern würde. Wir rührten uns erst wieder, als wir draußen unsere Männer hörten. Schnell erhob sich Mutter und trat an den Herd.

„Jazem ist wieder da“, rief ich mit einem aufgesetzten Lächeln. Natürlich freuten sich alle darüber.

„Wo ist er denn?“, wollte Vater wissen.

„Er ist auf sein Zimmer gegangen, um sich ein wenig auszuruhen. Er sagte, wenn ihr zurück seid, sollen wir ihn rufen.“

„Isma, Liebes, würdest du ihn bitte für uns holen“, bat mich Vater.

Ich ging hoch zu Jazems Zimmer und klopfte leise an die Tür. „Darf ich reinkommen?“

Als er bejahte, trat ich ein. Er saß immer noch in seiner Reisekleidung auf der dem Fenster zugewandten Seite des Bettes. Er sah traurig und nachdenklich aus.

Mir wurde mulmig. Ich eilte zu ihm und nahm neben ihm Platz. „Ein Krieg gegen Capan steht uns bevor und Netan will ihn anzetteln, stimmt's?“, fragte ich vor Neugier platzend.

Verdutzt schaute er mich an. „Woher weißt du von dem Krieg, und dass Netan damit zu tun hat?“

„Das ist eine lange Geschichte. Nicht nur du hast viel zu berichten, auch hier ist viel passiert. Ich denke, beim Essen werden wir uns einiges zu erzählen haben.“

„Ich weiß nicht, wie ich mein Anliegen unseren Eltern erklären soll. Bei mir hat sich was geändert.“ Auf seiner Stirn machten sich tiefe Falten sichtbar.

Ich ergriff seine Hand und hielt sie fest. „Zerbrich dir nicht zu sehr den Kopf. Sag es einfach frei heraus und du wirst sehen, sie werden dich verstehen. Aber jetzt wird es Zeit, dass wir runter gehen. Das Essen ist fertig und die anderen wollen dich willkommen heißen.“

„Klar, lass uns gehen.“

Als wir in die Küche kamen, wurde Jazem von allen begrüßt. Nach Umarmungen und Schultern klopfen, setzten wir uns zum Essen. Vater unterhielt sich mit Jazem über geschäftliche Dinge. Er wollte auch wissen, ob Jazem bei seiner Schwester Lana gewesen war, und wie es ihr ging. Wir anderen lauschten gespannt der Unterhaltung.

Später zogen sich Vater und meine Brüder ins Wohnzimmer zurück, während ich Mutter beim Abräumen half. Danach gesellten wir uns zu ihnen. Im Kamin brannte ein Feuer und einige Kerzen erhellten zusätzlich den Raum. Alles wirkte so harmonisch und friedfertig, aber ich wusste, dass es nur die Ruhe vor dem Sturm war. Doch was jetzt kommen würde, hätte ich nicht für möglich gehalten.

Mein Vater saß wie immer in seinem Ohrensessel, meine Mutter setzte sich in ihren Schaukelstuhl und ich nahm Platz zwischen Casper und Aaron auf der großen Bank.

Als wir alle saßen, stand Jazem auf und stellte sich an den Kamin. Sein Gesicht wie auch sein Körper waren angespannt. Die Flamme warf Schatten auf sein hübsches Gesicht, wodurch er älter wirkte, als er eigentlich mit seinen 22 Jahren war.

Draußen wurde es langsam dunkel.

Wir starrten gebannt auf seine Lippen, und er begann zu sprechen. „Als ich nach einem halben Tagesritt abends in die Stadt kam, fühlte ich schon die Angst und die Sorge der Menschen. Alle waren in Aufruhr, denn am Tag zuvor hatte es einige Terroranschläge mit Toten und Verletzten gegeben. Dies erfuhr ich später von einem Gastwirt in einer Taverne, die beinahe menschenleer war, weil die besorgten Bürger nach Sonnenuntergang lieber Zuhause hockten. Sie hatten sich sogar verbarrikadiert, in der Hoffnung, so sicher vor Gefahren zu sein. Der Wirt erzählte mir, dass einige Krieger aus Capan urplötzlich aus dem Nichts auftauchten und Menschen angriffen und töteten. Keiner hatte damit gerechnet. Es muss schrecklich gewesen sein.“ Jazem holte tief Luft und sprach dann weiter. „Natürlich haben alle schon Geschichten über die Capitaner gehört. Es sollen wahre Bestien sein. Die Bürger von Kanas hatten sie jedoch bis zu diesem Tage noch nie zu Gesicht bekommen. Wenn Herrscher Netan und seine Leibgarde in Kalander zu Gast waren, hielten sie ihre Gestalten stets verhüllt. Nur Herrscher Fisius bekam sie zu Gesicht. Aber was die Bürger nun erleben, erschüttert mich bis aufs Mark. Die Capitaner haben keine Ähnlichkeit mit Menschen. Sie sehen aus wie Bestien, mit langen Reißzähnen und starker Körperbehaarung. Ihre Hände gleichen Pranken mit tödlichen Krallen. Und das Abscheulichste sind ihre blutunterlaufenen roten Augen.

Ich nahm mir ein Zimmer in der Taverne und konnte vor Angst kein Auge schließen. Am nächsten Morgen ritt ich zu Herrn Valisi. Er wohnt in einem prächtigen Haus auf einem der Hügel. Auf dem Weg dorthin, sah ich Menschen, die ihre Köpfe geduckt hielten und die bei jedem Geräusch zusammenzuckten. Es war so leise, dass ich nichts hörte fast nichts, erst recht kein Lachen. Kein einziges Kind spielte auf den Straßen. Es war gespenstisch. Überall, wo ich hinschaute, waren Krieger postiert, um die Stadt vor den Capitanern zu schützen. Ich erledigte schnell das Geschäftliche und machte mich dann auf den Weg zurück zur Taverne. Am Marktplatz gab's eine größere Versammlung. Von dem Rednerpult aus verkündete einer der Master, dass Capan Kalander frühmorgens den Krieg erklärt hat und mit Truppen einmarschiert sei. Ein schockierendes Raunen ging durch die Menge. Netan, der Herrscher aus dem Territorium Capan, hatte in alle sechs Territorien Gesandte geschickt, die Kriegserklärungen übergaben.“ Jazem holte tief Luft.

Uns stockte der Atem.

Nun war es so weit. Ich dachte, dass Jeremia Recht behalten hatte, wobei er mit Sicherheit nicht ahnte, dass Netan so schnell handeln würde. Ich wusste durch Jeremia, dass wir zum jetzigen Zeitpunkt keine Chance haben würden, gegen die starke, blutrünstige Armee von Netan vorzugehen. Mir ging es von Minute zu Minute immer schlechter.

Nach einem kurzen Räuspern fuhr mein Bruder fort. „Wir erfuhren, dass aus allen sechs Territorien, Master unterwegs sind. Die Master werden in den nächsten Tagen in den Hauptstädten erwartet, um alle Freiwilligen, die bei der Verteidigung helfen sollen, in die Kampfkunst zu unterweisen. Der Master von Kalander bat alle Männer, sich registrieren zu lassen. Im ganzen Territorium werden Krieger gesucht. Da wir nur eine kleine, relativ schwache Armee haben, genauso wie die übrigen Territorien, haben die Herrscher einen Sechserpakt geschlossen, um ihre Armeen gemeinsam gegen Netans Truppen in den Kampf zu entsenden. Trotz allem wird es schwierig werden, das Heer zu koordinieren, um dem übermächtigen Aggressor standzuhalten. In der kurzen Zeit wird es zudem schwierig, die neuen Krieger auszubilden.“ Er schluckte schwer und fuhr sich mit der Hand durch sein volles, helles Haar. Ganz sachlich und nüchtern erzählte er: „Am nächsten Morgen ging ich zu den ausgewiesenen Kasernen und habe mich registrieren lassen. Ich bin nur noch mal zurückgekommen, um euch meine Entscheidung persönlich mitzuteilen.“

Danach starrte Jazem meinen Vater an, und sein Blick machte mir Angst. Nichts konnte ihn mehr aufhalten, das wusste ich jetzt. Meine Mutter schlug sich die Hände vor dem Mund und mein Vater fuhr sich nachdenklich mit einer Hand über den Bart. Wir anderen glotzten Jazem mit offenen Mündern an. Niemand sprach, nur das Schluchzen meiner Mutter war zu hören, die ihren Gefühlen plötzlich freien Lauf ließ.

„Warum?“, schnaubte Aaron verächtlich und brach die Stille im Raum.

„Was warum?“, fragte Jazem erstaunt.

Aaron räusperte sich: „Warum dieser Krieg? Was will Netan?“

Jazem versuchte, eine Antwort zu finden. „Kannst du in die Köpfe dieser Bestien reinschauen, um sie zu verstehen? Keiner kann das. Sie sind rachsüchtig und böse. Sie wollen die Menschen vernichten.“

„Ich komme auch mit!“, entfuhr es Casper.

Entsetzt drehte ich mich zu meinem jüngsten Bruder Casper um. Seine Miene zeigte Entschlossenheit. Ich konnte es einfach nicht glauben. Er war viel zu schwächlich, um in den Krieg zu ziehen. Bei Theran und Talon hätte ich weniger Sorgen gehabt, aber doch nicht Casper - unser kleiner Bruder.

Das Schluchzen meiner Mutter endete abrupt. Sie fixierte ihn entsetzt. Sie konnte es kaum fassen.

„Nein, du kannst nicht gehen. Mama und Papa brauchen dich hier. Das überlebst du nicht“, sagte ich brüsk zu ihm.

„Ich werde gehen und ihr werdet mich nicht aufhalten!“, entgegnete er entschieden. „Ich will euch und auch mir beweisen, dass ich es kann. Ihr habt mich immer von allem ferngehalten. Der arme kleine Junge, der es noch nicht einmal schafft, bei der Feldarbeit zu helfen. Nie habt ihr mich gefragt, ob mir das überhaupt recht war. Ich habe nur nichts gesagt, weil ihr mich eh nicht verstanden hättet. Nun werde ich euch allen beweisen, dass auch in mir ein ganzer Kerl steckt, und deswegen werde ich Jazem begleiten.“

Brasne erhob sich und schaute Casper direkt in die Augen; seine Stimme klang sanftmütig. „Du brauchst niemanden etwas zu beweisen, Casper. Du hast doch absolut keine Ahnung, was dich im Krieg erwartet. Überlege doch bitte, bevor du eine Entscheidung triffst. Du bestrafst nicht nur deine Familie damit, sondern könntest auch mit deinem Leben bezahlen.“

„Ich brauche euren Schutz nicht. Ich gehe und stelle mich der Gefahr. Spare dir dein Mitleid, Brasne“, raunzte Casper trotzig. Er stand jetzt direkt vor Brasne und seine Augen funkelten vor Zorn.

Ich suchte Caspers Nähe, berührte vorsichtig seinen Arm und flehte ihn an. „Bitte Casper, tu mir das nicht an. Ich brauche dich hier bei mir. Bitte bleib.“ Mehr als ein Flüstern kam nicht über meine Lippen. Ich hätte alles gegeben, damit er bliebe. Er musste niemanden etwas beweisen und das wusste er. Warum er plötzlich aus Trotz diesen Entschluss fasste, konnte und wollte ich nicht verstehen. ‚Lass ihn ziehen.’ Eine schwache Stimme in meinem Kopf versuchte mich zu erreichen.

„Dann kommen wir auch mit“, riefen Theran und Talon wie aus einem Mund.

„Und wer hilft Zuhause das Land zu bewirtschaften?“, wollte ich wissen.

„Das Land ist zu groß und wir können es nicht alleine schaffen“, erklärte Aaron frustriert. „Gerade jetzt hat Jazem einen Vertrag mit Herrn Valisi abgeschlossen. Ich weiß, der Krieg steht bevor und wir könnten alles verlieren, aber vielleicht trifft es Salin gar nicht. Wir müssen doch weiterleben.“ Aaron war verzweifelt.

„Lass sie gehen“, bat mein Vater. „Dieser Krieg geht uns alle etwas an, und damit wir überleben können, muss es Freiwillige geben. Ich würde auch gehen, wenn ich nicht so alt wäre. Ich weiß, dass ich keinen Kampftag überstehen könnte.“

Mutter schaute ihn ungläubig und wütend an. „Wie kannst du nur so etwas sagen! Du schickst gerade unsere Söhne in den sicheren Tod!“, schrie sie aufgebracht mit zittriger Stimme. Sie war aufgesprungen und wollte zu meinem Vater.

Vater erhob sich ebenfalls, kam Mutter entgegen und nahm sie in die Arme. In diesem Moment brach sie zusammen. Beide fielen auf die Knie, wobei Vater Mutter stützte.

„Bitte Keleb, lass es nicht zu. Ich würde das nicht überleben. Lass nicht meine Söhne fortgehen. Bitte Keleb!“ Dann schluchzte sie verzweifelt und verbarg ihr Gesicht an seiner Schulter.

Ihr Verzweiflungsruf füllte den Raum und meine Augen mit Tränen. Ich wollte sie nicht gehen lassen. Ich wollte diesen Krieg nicht, aber er war da.

Warum ließen das die Götter zu?

Meine Familie würde nicht mehr die sein, die sie bis heute gewesen war. Etwas zerbrach in mir. Ich stand mitten im Raum und sah, wie meine Brüder sich hinknieten, um meine Eltern zu umarmen. Ich beobachtete die Szene, als wäre das alles nicht wirklich. Ich fühlte mich leer. Ich war starr vor Angst. Meine Beine wollten sich einfach nicht bewegen, um zu ihnen zu gehen. Also blieb ich dort stehen und schaute auf meine Familie. Ich weiß nicht, wie lange ich so da stand, bis sie sich langsam voneinander lösten. Ich weiß nur, dass es draußen schon dunkel geworden war.

Vater stützte immer noch Mutter. Ihr Kopf lehnte an seiner Schulter und ihr Gesicht hatte eine aschgraue Farbe angenommen. Sie stand unter Schock.

„Ich werde jetzt eure Mutter zu Bett bringen, damit sie sich erholen kann. Es ist spät. Geht ins Bett. Wir besprechen uns morgen.“

„Aber wir müssen packen“, setzte mein Bruder Talon an, doch mein Vater brachte ihn mit einem Blick zum Schweigen.

Nachdem meine Eltern das Wohnzimmer verlassen hatten, setzten wir anderen uns alle noch einmal hin. Über das, was passiert war, brachte keiner mehr ein Wort hervor.

Als erster fand Theran seine Stimme wieder. „Na kleiner Bruder, wer hätte das gedacht. Nie sagst du etwas und dann so was.“ Er klopfte Casper auf die Schulter. „Ich bin beeindruckt, aber es versteht sich von selbst, dass wir auf dem Schlachtfeld auf dich aufpassen werden“, meinte er grinsend. Casper schaute ihn nur empört an.

„Ich komme nicht mit und bleibe hier. Für unsere Eltern, Isma und Calena“, räumte Brasne mit fester Stimme ein. „Falls der Krieg bis Salin durchdringt, sollen sie hier nicht alleine sein. Ich werde sie beschützen.“

„Ich auch“, stimmte Aaron stirnrunzelnd mit ein. „Ich denke, dass nicht alle gehen sollten. Wir werden auf euch warten und währenddessen das Land bewirtschaften.“

„Also lasst uns schon mal packen gehen“, schlug Theran vor. Casper, Jazem, Theran und Talon gingen auf ihre Zimmer.

Brasne verließ das Haus, um Calena zu besuchen und ihr die Neuigkeiten zu überbringen.

Aaron blieb bei mir sitzen. Wir lauschten, wie sie alle fortgingen, dann wandte sich Aaron mir zu, damit er mir ins Gesicht schauen konnte. „Ja, es stimmt. Ich denke, es könnte sein, dass du wirklich eine Seelenwanderin bist“, gab er zu.

„Ich bin eine, dass weiß ich jetzt.“

„Woher nimmst du diese Sicherheit?“, zuckte er die Achseln.

Ich plapperte drauf los. „Eigentlich wollten wir es euch heute sagen. Leider lief der Abend nicht so, wie wir es uns vorgestellt haben, so dass wir nicht mehr dazu gekommen sind. Ich bin eine Seelenwanderin, weil Mama auch eine ist.“

Ungläubig zog er seine Augenbrauen hoch. „Das glaube ich jetzt nicht“, kam es aus ihm raus.

„Es ist aber so. Gestern, nachdem du mit Mama gesprochen hattest, kam sie zu mir. Du dachtest, sie hätte mich getröstet, was sie auch vorhatte, aber nicht so wie du denkst. Sie hat mir ihr Geheimnis verraten. Ihre Mutter war ebenso eine, wie auch ihre Oma. Die Gabe liegt in der Familie. Sie hatte gehofft, es würde mich überspringen, aber nachdem du ihr von meinen Träumen erzählt hast, hat sie es mir gebeichtet. Vati weiß es schon. Wir wollten es euch heute Abend sagen, aber dazu ist es nicht gekommen. Du bist nun der Erste, der es erfährt. Es sollte ein Familiengeheimnis bleiben, denn wir wissen nicht, was uns die Zukunft bringt.“

„Selbstverständlich, aber fürchtest du dich nicht vor den Auswirkungen?“, wollte er von mir wissen.

„Ja, aber ich lerne damit umzugehen. Ich kann durchschlafen, wenn ich es will. Außerdem hat Mama mir versprochen, dass sie mir alles Wichtige beibringen wird. Ich weiß nur nicht, was es bedeuten soll, dass ich gerade jetzt diese Gabe entwickle, wo der Krieg ausgebrochen ist.“ Ich kräuselte meine Lippen. „Und ich frage mich, ob es eine Erklärung gibt, warum ich im Traum immer zu Jeremia gehe.“, sagte ich mehr zu mir als zu ihm.

„Lass uns jetzt zu Bett gehen. Wir müssen morgen früh aufstehen.“ Aaron nahm meine Hand und zog mich mit einem Ruck hoch. Nebeneinander stiegen wir die Treppe hinauf. Vor meiner Zimmertür kurz verharrend wünschte mir Aaron eine gute Nacht und küsste mich auf die Stirn.

Ich wünschte ihm ebenfalls eine gute Nacht und betrat mein Zimmer. Während ich die Kerze anzündete, wurde ich von Trauer und Einsamkeit überwältigt. Ich weinte bitterlich, denn ich begriff, dass dies für lange Zeit die letzte Nacht sein würde, in der wir alle zusammen waren. Diese Erkenntnis traf mich, wie ein Schlag ins Gesicht, mit voller Wucht. Ich hätte am liebsten laut aufgeschrien, wollte aber nicht, dass mich jetzt jemand hörte. Ich musste einen klaren Kopf bekommen. Ich durfte keine Angst zeigen; ich wollte stark sein. Wie würde ich meine Traurigkeit los?

Ich setzte mich an meinem Schreibtisch, holte mein Tagebuch heraus und schrieb mir meine Sorgen von der Seele. Ab und zu benetzte eine Träne die Seiten, sodass die Tinte verschmierte. Es war mir egal.

Danach blies ich die Kerze aus und krabbelte unter meine kuschelige Daunenbettdecke. Ich fühlte mich erschöpft und kraftlos und fand keine Ruhe. Mir ging so vieles durch den Kopf und der Schlaf ließ auf sich warten. Gedämpfte Stimmen hallten durch die Wände, die ohne Zweifel von Casper und Jazem stammten, da ihr Zimmer direkt neben meinem lag. Dass Casper uns verlassen würde, gefiel mir gar nicht. Ich würde ihn fürchterlich vermissen, aber ich beschloss, dass ich ihn mit meiner neuen Gabe bewachen würde. Erleichterung machte sich in mir breit.

Schon ertappte ich mich dabei, meiner tief in meinem Inneren ruhenden, unstillbaren Sehnsucht nachzugeben. Jeremia. Was er wohl gerade machte? Sollte ich es wagen, ihn heute Nacht zu besuchen? Nach allem, was ich wegen ihm durchgemacht hatte? Mein Verlangen, ihn zu sehen war stärker als meine Vernunft. Ich musste ihn sehen, denn er fehlte mir. Vielleicht als Freund dachte ich noch und schloss die Augen. Mit dem Gedanken an sein schönes Gesicht schlief ich ein.

Galan

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