Читать книгу Galan - Giovanna Lombardo - Страница 6
Kapitel 3
ОглавлениеDie Sonne schien warm vom Himmel, während ich auf der Bank saß und in dem Buch las. Es müssen Stunden vergangen sein, die Sonne hatte bereits ein sattes Rot angenommen, als ich plötzlich meinen Namen rufen hörte. Es war Calena. „Da bist du ja. Ich habe dich schon überall gesucht.“ Sie lachte mich an und umarmte mich stürmisch. Ich drückte sie fest an mich. Ich war froh, sie zu sehen. Sie trug einen mit Lilien bestickten, violetten Rock und dazu eine fliederfarbene Bluse mit Puffärmeln. Ihr Haar fiel in üppigen langen Wellen über ihren halben Rücken. Sie sah wunderschön aus.
„Gibt es etwas zu feiern, du bist so elegant gekleidet?“, wollte ich wissen.
Sie stand mir gegenüber und strahlte wie die Sonne. „Brasne war bei meinem Vater und hat um meine Hand angehalten, und mein Vater hat eingewilligt.“
Wir fielen uns in die Arme. Ich freute mich so sehr für die beiden. Meine Augen füllten sich mit Freudentränen. Endlich hatten sie es geschafft. Ich mochte Calena sehr, sie war für mich wie eine Schwester. Wir lösten uns voneinander.
Mir fiel ein, dass sie eigentlich noch abwarten wollten, weil die Seherin ein Unheil prophezeit hatte. „Wolltet ihr nicht noch warten?“
Calena nickte. „Ja, das wollten wir. Aber wie lange hätte das gedauert? Es könnten noch Jahre vergehen, bis das eintrifft, was die Seherin gesehen hat. Heute Mittag sagte Brasne plötzlich, dass er keine Sekunde länger warten will und ging geradewegs zu Vater. Ach Isma, ich bin so glücklich. Das ist der schönste Tag in meinem Leben. Komm, lass uns ins Haus gehen. Brasne wartet schon auf uns. Er möchte, dass wir es allen gemeinsam sagen.“ Sie zog mich von der Bank hoch und wir hüpften freudig erregt ins Haus.
Dort warteten schon alle auf uns. Sie unterhielten sich leise. Aaron kniete vor dem Kamin und war damit beschäftigt, das Brennholz zu entzünden. Es wurde langsam dunkel. Die Sonne war fast verschwunden und am Himmel schimmerte bereits die blasse Mondsichel.
Brasne stand an der Türschwelle. Seine Nervosität war ihm deutlich anzusehen. Als er uns sah, zwinkerte er mir zu und nahm Calena in die Arme. Ich setzte mich zu Aaron an den Kamin.
Brasne begann zu sprechen: „Calena und ich möchten euch etwas mitteilen.“
Plötzlich war es mucksmäuschenstill. Alle blickten gespannt auf Brasne und Calena.
„Ich habe um Calenas Hand angehalten und ihr Vater hat eingewilligt. Wir wollen so schnell wie möglich heiraten.“
Dann sprangen wir alle gleichzeitig auf.
Mutter war die erste, die das Paar in die Arme schloss. Sie weinte vor Freude. „Ich bin ja so glücklich. Endlich hat einer meiner Söhne eine Frau gefunden. Ich hatte wirklich die Hoffnung schon aufgegeben.“
Brasne lächelte schief, doch Calena und Mutter lagen sich bereits in den Armen.
Vater drückte fest Brasnes Hand. „Ich bin stolz auf dich, mein Sohn.“ Und an Mutter gerichtet meldete er: „Ich möchte sie auch mal umarmen.“ Langsam löste sich meine Mutter von Calena. Nun nahm mein Vater Calena in die Arme. Von der Seite erhaschte ich einen Blick auf ihn. Auch er hatte Freudentränen in den Augen. Aaron, Theran, Talon, Jazem und Casper nahmen reihenweise Brasne und Calena lachend in die Arme. Alle waren so glücklich und zufrieden. Was für ein Glück die beiden doch hatten!
Ungewollt schob sich Jeremia in meine Gedanken. Es wäre schön, mit ihm zusammen zu sein, hier bei meiner Familie. Und wir wären diejenigen, die unsere Hochzeit bekanntgeben würden. Was für ein törichter dummer Wunschgedanke. Wie kam ich denn darauf? Wir kannten uns nicht einmal. Ich schob meine Sehnsüchte zur Seite und wollte mich über Calena und Brasnes Verlobung freuen.
„Lasst uns feiern“, verkündete mein Vater strahlend. „Hol den besten Wein aus dem Keller.“, bat er Theran. „Isma, bringe uns die Gläser aus der Küche, wir wollen anstoßen!“
Kurze Zeit später hockten wir prostend vor dem Kamin, lachten und sprachen über die Hochzeit, dabei vergaßen wir die Zeit, bis Mutter aufschreckte und in die Küche hastete. „Jetzt habe ich vor lauter Aufregung das Essen vergessen. Isma, komm schnell und hilf mir!“, rief sie aus der Küche.
Ich erhob mich, eilte zu ihr, half ihr, den Braten zu retten und deckte den Tisch. Nach einer Weile saßen alle gemeinsam beim Festmahl. Ich schaute in die Runde und sah lauter glückliche Gesichter. Wir hatten einen großen langen Holztisch in der Mitte der Küche stehen, und jeder hatte seinen Stammplatz. Ich neben meiner Mutter, links von mir Casper. Mein Vater saß natürlich am Kopfende, rechts von ihm Brasne und mir gegenüber heute Calena, wo eigentlich Aaron seinen Platz hatte. Sie hielten Händchen und flüsterten sich Liebkosungen ins Ohr, wobei Calena leicht errötete. Sie waren so glücklich, dass es mir schon fast das Herz brach. Warum konnte es nicht immer so sein? Bald, recht bald würde sich alles ändern, schneller als wir es für möglich hielten. Ein schreckliches Gefühl überkam mich und eine Stimme in meinem Kopf wiederholte diese qualvollen Worte: Unheil, Krieg.
Nach dem Essen verabschiedete sich Calena von uns und Brasne begleitete sie nach Hause.
Ich wünschte allen eine gute Nacht und zog mich in mein Zimmer zurück. Als einziges Mädchen unter sechs Brüdern hatte ich ein eigenes Zimmer – nur für mich ganz alleine. Meine Mutter hatte vor einigen Jahren darauf bestanden.
Sie fand es nicht schön, wo ich doch zu einer Frau herangereift war, weiterhin ein Zimmer mit einem meiner Brüder teilen zu müssen, und da wir ein ziemlich großes Haus besaßen, konnte Vater das für mich umsetzen. Ich war Mutter dafür mehr als dankbar. Mein Zimmer hatte ich mir nach meinem Geschmack eingerichtet. Immer stand eine Vase mit frischen Blumen auf dem großen Tisch, es hingen mit Blumen bestickte Vorhänge am Fenster und an den Wänden schön gemalte Landschaftsbilder von Casper, der sich als begabter Maler entpuppt hatte und mir mehrere seiner Gemälde schenkte. Wegen seiner Leidenschaft für die Natur, die ich mit ihm teilte, malte er gerne die Wälder und Blumenfelder aus unserer Region.
Den restlichen Abend wollte ich nutzen, um mir Gedanken über das Buch zu machen, das ich im Garten gelesen hatte. So wusch ich mich schnell, zog mein weißes, knielanges Nachthemd an und setzte mich an meinen Schreibtisch. Draußen stand die schmale Mondsichel bereits hoch am Himmel. Bald würden wir Neumond haben.
Ich schlug mein Tagebuch auf und begann zu schreiben. Nicht nur die Verlobung von Brasne und Calena ging mir durch den Kopf, sondern in erster Linie das Gespräch mit Aaron über Seelenwanderer. Auch die Geschichten, die ich in diesem alten Buch darüber fand, schrieb ich auf.
Die Seiten des Buches waren bereits vergilbt und manche Passagen schlecht lesbar. Der Autor, ein Gelehrter, hatte es vor Hunderten von Jahren geschrieben und vervielfältigen lassen. Zu seinen Lebzeiten gab es noch viele Seelenwanderer in den Territorien. Zu ihnen zählte auch seine Ehefrau, die ihre Gabe dazu nutzte, anderen Menschen zu helfen. Ihre Seele verließ ihren Körper und gelangte an Orte, an denen sich bestimmte Menschen aufhielten, an die die Seelenwanderin zuvor gedacht hatte. So konnte sie Informationen über weit entfernt wohnende Verwandte erfahren oder sogar vermisste Personen ausfindig machen. Leider blieben die guten Taten nicht unbemerkt. Schnell sprach es sich herum, wer ein Seelenwanderer war und wo er wohnte. Erfuhr ein Herrscher von einem Seelenwanderer, so wurde dieser zwangsverpflichtet und musste dem Regenten zu Diensten sein. Den entdeckten Wanderern blieb keine andere Wahl. Sie wurden genötigt, ihr eigenes Volk auszuspionieren und zu verraten. Ob unterschlagene Steuergelder, Schwarzarbeit, verborgene Schätze oder kriminelle Missetaten, die Aufdeckungsquote lag zeitweise bei hundert Prozent. Kein Wunder also, dass beim Volk der Unmut wuchs und sich der Hass auf die Seelenwanderer ausbreitete. Es begann eine Zeit, in der die Wanderer von ihren eigenen Gefolgsleuten verfolgt und ermordet wurden.
Die Frau des Gelehrten versuchte sich, vor dem Mob zu verstecken, doch sie wurde entdeckt und mit Gewalt weggeschleift. Auch der Versuch des Gelehrten, seine Frau vor der Meute zu retten, schlug fehl. Er wurde gewaltsam niedergeschlagen. Erst nach langer, komplizierter Suche konnte er, mithilfe eines letzten Seelenwanderers ihre Leiche auf dem Grund eines Sees ausmachen. Der Schmerz und die Ohnmacht, die an ihm nagte, bewegte ihn dazu, dieses Buch zu schreiben und zu verbreiten, damit sich die nächsten Generationen daran erinnern sollten, dass den Seelenwanderern schweres Unrecht angetan wurde und dass ihre Fähigkeiten kein Teufelswerk seien. Er beschrieb ausführlich, wie die Seelenwanderung funktionierte und berichtete von den guten Taten und den Vorteilen, warb um mehr Verständnis.
Die beschriebene Fähigkeit der Seelenwanderer kam mir sehr bekannt vor. Ich verstand jedoch nicht, warum es Jeremia war, den ich besuchte, da ich ihn nie zuvor gesehen hatte. Wie konnte ich herausfinden, ob ich wirklich eine Seelenwanderin bin? Ich schloss mein Tagebuch und schob es unter mein Kopfkissen. Dann löschte ich das Licht und legte mich in mein Bett. Ich lag auf dem Rücken und starrte in die Dunkelheit.
Es gab nur eine Möglichkeit herauszufinden, ob ich eine Seelenwanderin war oder nicht. Ich musste mir eine Person vorstellen, die ich sehen wollte. Wenn ich es schaffen konnte, zu ihr zu gelangen, würde ich diese Gabe besitzen. Aber an wen sollte ich bloß denken?
Lange überlegte ich, bis mir eine Person einfiel, die ich persönlich nicht kannte, die ich aber gerne sehen wollte.
Narissa.
Ich wollte sie sehen. Wie sah sie aus? Leider konnte ich nicht einschlafen, ich war zu aufgeregt. Meine Gedanken kehrten immer wieder zu Jeremia zurück. Ich stellte mir sein Gesicht vor. Wie sehr wünschte ich mir, dass seine Hände mich berührten und seine weichen Lippen mich küssten. Wie konnte das sein? Warum fühlte ich mich so von ihm angezogen? Mir war bewusst, dass er mich niemals würde haben wollen. Ich war nichts Besonderes, und ich fand mich auch nicht schön.
Langsam wurden meine Lider schwer. Ich musste aufhören, an Jeremia zu denken.
Narissa, Narissa, an nichts anderes durfte ich jetzt denken!
Und dann schlief ich ein.
Überrascht fand ich mich in einem riesigen Ballsaal wieder. Damen mit den schönsten und raffiniertesten Abendkleidern und Herren in maßgeschneiderten Smokings tummelten sich um mich herum. Vor einer großen Fensterfront, durch die das Mondlicht fiel, spielte eine Gruppe von Musikern auf ihren Instrumenten. Musik, Gelächter und Wortfetzen drangen an meine Ohren. Einige Paare schwangen ihr Tanzbein auf dem Parkett und andere Leute standen in Gruppen beisammen und plauderten angeregt. Was für ein herrliches Fest.
Ich fragte mich, warum sie so ausgelassen feierten. Wussten sie denn nicht, dass es bald Krieg geben würde?
Vollkommen irritiert nahm ich zur Kenntnis, dass dieser Traum so gar nicht meinen üblichen Träumen ähnelte, welche ich in den vorangegangenen Nächten hatte.
Langsam schritt ich den Saal ab und beobachtete die feine Gesellschaft. Dann meinte ich den Herrscher dieses Territoriums ausgemacht zu haben, denn er saß erhobenen Hauptes auf einem Thron im Zentrum des Geschehens. Zu seiner Linken, wie auch zu seiner Rechten sah ich zwei Frauen sitzen. Die ältere Frau zur Rechten musste seine Gemahlin sein, die andere und jüngere war wahrscheinlich seine Tochter, denn beide Damen hoben sich mit ihren königlich anmutenden Festgewändern und den wertvollen Schmuckstücken, die sie trugen, von der Gesellschaft ab. Die Jüngere trug ein goldenes, mit unzähligen echten Perlen besticktes Kleid, das ein Vermögen wert sein musste. Es war einzigartig, sogar prachtvoller und glänzender als das der Herrscherin.
Ich stellte mir mich in diesem Kleid vor, wie ich den Stall ausmistete und die Schweine fütterte. Wie absurd. Bei der Vorstellung musste ich grinsen. Um etwas von der Unterhaltung der edlen Damen mitzubekommen, näherte ich mich ihnen zaghaft.
„Du hast es mir versprochen“, sagte die junge Frau in dem goldenen Kleid fordernd. Sie musste in meinem Alter sein. Vielleicht ein oder zwei Jahre jünger.
„Ja, ich hatte es dir versprochen. Ich kann ihn aber nicht zwingen, an dem Ball teilzunehmen“, entgegnete der Herrscher.
Erst jetzt sah ich, wie gebrechlich und alt der Mann aussah. Er schien erschöpft und müde zu sein.
„Vater, ich glaube nicht, dass du dich wirklich bemüht hast. Er hätte jetzt hier sein müssen, aber er ist es nicht und das ist deine Schuld!“ Dabei hob sie trotzig den Kopf.
„Narissa, Liebling, ich bin bereit alles zu tun, damit diese Verlobung zustande kommt. Ich habe mehrere Gespräche mit Jeremia und seinem Vater geführt. Ich habe ihnen sogar gedroht, dass ich mich mit Netan verbünden würde, wenn er nicht um deine Hand anhält. All dies hat Jahred und Jeremia nicht interessiert. Jeremia denkt, ihr würdet euch noch nicht gut genug kennen und deswegen wäre es verfrüht für einen Heiratsantrag. Kind, versteh doch, ich brauche jemanden, der meinen Thron an deiner Seite besteigen wird, denn ich werde nicht mehr lange sein“, hüstelte er mit gebrochener Stimme. „Aber wir können Jeremia nicht zwingen.“
„Natürlich kannst du ihn zwingen, Vater!“ Wütend verschränkte sie die Arme vor ihrer Brust.
Das war also Narissa.
Ich war schockiert, nicht nur weil sie so rücksichtslos und egoistisch war. Nein, ich war schockiert, weil sie eine perfekte Schönheit, eine regelrechte Augenweide war. Sie entsprach dem Schönheitsideal.
Ihr langes, lockiges blondes Haar umspielte ihr ovales, wohlgeformtes Gesicht. Sie hatte große graue Augen, eine zierliche Nase und volle rote Lippen, die ihren Mund sinnlich aussehen ließen. Ihr ebenmäßiges Gesicht sah aus wie in Stein gemeißelt. Ihre Körperhaltung hatte etwas Majestätisches. Ihr atemberaubend attraktives Kleid betonte ihre grazile Figur.
Schmerzhaft wurde mir klar: Sie würde sehr gut zu Jeremia passen. Genauso sollte das perfekte Paar aussehen.
Wieder traf mich die Erkenntnis, dass ich nie so formvollendet und erstklassig sein würde wie Narissa.
„Hast du ihm denn zumindest die Einladung zukommen lassen?“, wollte Narissa von ihrem Vater wissen.
„Ja, das habe ich, und Jahred hat mir vergewissert, dass Jeremia kommen würde.“
„Wo bleibt er denn? Ich warte schon seit Stunden.“
Müde wandte sich der Herrscher ab. Das Gespräch hatte ihn deutlich angestrengt.
Plötzlich wurde die große Saaltür geöffnet. Ein Diener klopfte mit einem goldenen Stab zweimal auf den Boden. „Meine Damen und Herren, Jeremia Nahal aus dem Territorium Cavalan!“
Mir stockte der Atem und mein Herz raste. Entsetzt blickte ich zur Tür. Er war wirklich gekommen, er war hier.
Jeremia schritt elegant und mit aufrechter Haltung durch die Menge. Die Musik hatte aufgehört zu spielen und die Leute im Saal schauten ihn an. Er trat vor den Herrscher und verbeugte sich. „Verson von Nalada, es ist mir eine Freude, Euch wiederzusehen.“ Er verbeugte sich auch vor der Gemahlin des Herrschers. Schließlich nahm er Narissas Hand und hauchte einen angedeuteten Kuss auf ihren Handrücken.
„Es ist uns eine Freude, Euch willkommen zu heißen. Wir haben Euch schon erwartet.“ Verson deutete einem Diener, Jeremia ein Glas Wein zu reichen. „Setzt Euch bitte zu uns und erzählt von Eurer Anreise. Gab es Probleme an den Brücken oder in Eurem Territorium?“
„Es gab Ausschreitungen an den Grenzen einiger Territorien. Wir mussten zuerst das Problem an der cavalanischen Grenze klären, bevor ich zu Euch kommen konnte“, erklärte Jeremia.
Ich hatte fast vergessen, wie gut er aussah und wie angenehm seine Stimme klang, trotz allem spürte ich auch die Anspannung in seiner Stimme. Ich blickte zu Narissa und sah, wie sie nach ihm schmachtete und ihn begierig anstarrte. In meinem Inneren wuchs die Eifersucht.
Während seiner Unterhaltung mit Verson schaute Jeremia immer wieder zu Narissa hinüber, aber ich erkannte keine Gefühlsregung in seinem Gesicht. Ich konnte nicht feststellen, was er fühlte, wenn er sie anblickte, er hatte sein Gesicht unter Kontrolle. Eigentlich wusste ich ja, dass er sie nicht liebte, aber dass er überhaupt hier war, bereitete mir Sorge. Würde er die Verbindung mit Narissa eingehen, um Galan zu retten? Hoffentlich war er nicht deswegen gekommen.
Er war vornehm, chic, extravagant gekleidet, schwarze Hose, schwarzes Hemd, silbergraue Krawatte und schwarzes Jackett. Ich spürte, wie Schmetterlinge in meinem Bauch kribbelten und die Sehnsucht mich erfasste. Ich rückte noch näher an ihn heran und setzte mich auf die Lehne seines Stuhls. Als hätte er mich gespürt, drehte er sich zu mir um. Wir waren uns so nah, dass sein warmer Atem meinen streifte. Mein Herz schlug schneller. Er wirkte verwirrt, wandte sich aber nach kurzer Zeit wieder dem Gespräch zu. Was passierte hier? Meine Hand näherte sich langsam seinem Gesicht. Ich musste ihn unbedingt berühren und strich ihm sanft über seine Wange. Es war seltsam, dass ich ihn fühlen konnte, seine weiche Haut. Ich konnte auch sein Herz spüren, das sich meinem Rhythmus anzupassen schien.
Gleichzeitig hob auch er seine Hand und legte sie auf meine. Nicht wirklich, denn sie glitt durch meine hindurch. Jetzt wirkten beide Hände ineinander verschmolzen. Seine wunderschönen blauen Augen weiteten sich.
In meinen Träumen hatte ich nie zuvor andere Menschen spüren können, sie waren einfach durch mich hindurch gelaufen und ich durch sie, ohne das etwas passierte.
Mitten im Satz hörte er auf zu sprechen. Er fühlte mich, so wie ich ihn, dessen war ich mir sicher, nicht körperlich aber es war ein Gefühl von Erwartung und Vorfreude, das sich im Inneren langsam ausbreitete. Plötzlich strömten seine Gedanken wie eine Flut in mich ein. Ich konnte sie ganz klar und deutlich hören, als ob er sie mir selber leise ins Ohr flüsterte. Nie zuvor hatte ich so etwas empfunden, und es überwältigte mich. Jeremias Gefühle waren ein Meer von Aufruhr: Traurigkeit, Resignation, Verlangen, Mut und Hingabe. Doch die Resignation stand im Vordergrund und seine Hilflosigkeit ließ mich erschaudern. Seine Traurigkeit füllte meine Augen mit Tränen. Ich hätte alles darum gegeben, ihn aus diesem Tief zu befreien und ihm klarzumachen, dass er nicht alleine ist. Ich glaubte, dass seine Seele in diesem Moment die meine streifte.
Langsam ließ er seine Hand sinken; unsere Hände lösten sich voneinander. Ich wusste, was er tun würde. Ich wusste es und mein Herz schmerzte.
„Verson, würdet Ihr mir erlauben, mit Eurer Tochter alleine zu sprechen?“ Auf Jeremias Bitte hin nickte der Herrscher wohlwollend. Jeremia blickte Narissa an. „Würdest Du mich bitte auf die Terrasse begleiten. Wir müssen miteinander sprechen.“
Sie lächelte ihn an und erhob sich. Er ergriff ihre Hand und gemeinsam schritten sie durch die Menschenmenge zu einem Seitenflügel, wo zwei hohe Türen zur Terrasse führten.
Ich folgte ihnen. Sie gemeinsam zu sehen, Hand in Hand, schmerzte mich. Sie lehnten sich an das Geländer. Wenn Jeremia mit mir hier alleine gewesen wäre und nicht mit Narissa, hätte ich diesen Ort sehr romantisch empfunden. Das machte alles noch viel schlimmer.
Die Terrasse befand sich im ersten Stock des Hauses. Unter der ihr erstreckte sich eine gigantische Parkanlage mit sorgfältig angelegten Zierteichen, Spazierwegen und Blumenbeeten. Ich konnte das Ende der Anlage nicht erkennen, so groß war sie, atemberaubend prachtvoll. Das Orchester spielte gedämpft im Hintergrund eine einschmeichelnde Melodie. Der Sternenhimmel spannte sich über uns wie eine glitzernde Decke. Glühwürmchen flogen in den Gärten umher. Alles wirkte perfekt. Leider war es Narissa, die mit ihm hier oben stand und ich durfte nur dabei zusehen. Ich fühlte mich wie ein Eindringling und am liebsten wäre ich diesem Augenblick der Zweisamkeit entflohen, aber ich musste ihn sehen, bei ihm sein, wenn er diesen schrecklichen Schritt in sein Unglück tat.
Jeremia stand ihr gegenüber und sie blickten sich tief in die Augen. Seine Nervosität war ihm nicht anzusehen, aber ich bemerkte sie und konnte erkennen, wie sein Gesicht zu einer Maske erstarrte, herzlos und ohne Gefühle.
„Bitte tu’ es nicht. Bitte!“ Ich flehte ihn an. Ich wusste, dass er mich nicht hören konnte, aber ich ahnte, was als nächstes kommen würde und ich hielt es nicht mehr aus. Ich hatte Angst, Angst vor dem, was er sagen würde. So streifte ich um die beiden herum, stetig meinen Blick auf Jeremia gerichtet, während kleine Tränen ihren Weg über meine Wangen suchten. „Bitte Jeremia, ich weiß, dass du mich fühlst. Mach es nicht, bitte!“ Meine Verzweiflung brach aus mir heraus. Ich fiel auf meine Knie, begrub mein Gesicht in meinen Händen und schluchzte. Der Kloß in meinem Hals ließ mich kaum noch atmen. Die Eifersucht wuchs und breitete sich in mir aus. Du bist eine Idiotin, Isma, sagte ich zu mir. Wie konntest du dir einbilden, dass du Jeremias Leben steuern und zu deinen Gunsten lenken könntest? Was passiert mit dir? Das bist nicht DU! Eifersucht - es erfüllte mich mit Grauen. Ich versuchte, mich zu entspannen und atmete gleichmäßig durch die Nase ein und aus. Jeremias Worte erreichten mich wie ein weites und leises Echo, das in meinem Kopf widerhallte. Niemals hätte ich gedacht, dass seine Worte mich so verletzen und einen fürchterlichen Stich in meinem Herzen hinterlassen könnten.
„Ich werde dich zur Frau nehmen. Du sollst aber wissen, dass ich keine Gefühle für dich hege. Vielleicht wird der Tag kommen, an dem wir uns lieben werden. Ich werde mich bemühen, dich glücklich zu machen. Kannst du diesen Vorschlag akzeptieren? Ich werde versuchen, dir ein guter Ehemann zu sein, der dich respektiert und der dir dazu ein guter Freund sein wird.“
Sie zögerte kurz und dann legte Narissa besitzergreifend ihre Arme um seinen Nacken. Sie gab ihm einen flüchtigen Kuss auf den Mund. „Komm, wir erzählen es meinem Vater“, sagte sie freudestrahlend und zog ihn hinter sich her.
Jeremias Lippen verzogen sich.
Was tat er da nur? Für Galan gab er sein Leben, seinen Glauben an die wahre Liebe auf. Mein Verstand sagte mir, dass ich nicht seine Liebe werden würde, aber mit Narissa würde er bestimmt unglücklich sein und das zerbrach mir das Herz. Ich schaffte es nicht, aufzustehen. Ich folgte den beiden nicht mehr. Noch mehr davon wollte ich nicht hören. Ich sank immer tiefer und weinte, bis meine Trauer meine Seele zerfraß. Dann schrie ich. Ich schrie den Himmel und die Sterne an. Ich schrie ganz Galan an.
Schreiend erwachte ich aus diesem Albtraum. Sofort stürmten Brasne und Aaron ins Zimmer. Schweißgebadet und mit Tränen im Gesicht saß ich auf meinem Bett, die Hände meinen Bauch haltend, als hätte ich Schmerzen. Mein Atem ging stoßweise. Aaron nahm mich in seine Arme. Die Angst und Sorge war ihm ins Gesicht geschrieben.
„Isma, es wird alles gut. Beruhige dich bitte, es war nur ein Traum“, sprach Brasne leise auf mich ein, aber ich wusste es jetzt besser.
Ich war wirklich eine Seelenwanderin und was noch viel schlimmer war, ich würde nie glücklich werden, denn ich hatte Jeremia gerade an eine andere Frau verloren - für immer.
Aaron starrte mich nur an. Ich wollte etwas sagen, aber kein Wort kam über meine Lippen. Er begriff auch ohne Worte, dass es nicht nur ein Traum gewesen war. Schweigend sahen wir uns in die Augen. Wir mussten nichts sagen, er verstand mich auch so.
„Versuche wieder zu schlafen“, empfahl Aaron. „Morgen früh unterhalten wir uns. Gute Nacht!“ Er gab mir einen Kuss auf die Stirn und erhob sich von meinem Bett. Ich schaute den beiden noch hinterher, als sie leise die Tür schlossen, sank erschöpft in meine Kissen zurück und blieb mit meiner Verzweiflung allein.
Wie konnte ich jetzt nur schlafen?
Ich war so aufgewühlt, dass ich keinen klaren Gedanken fassen konnte. Traurig vergrub ich mein Gesicht im Kopfkissen und fing wieder an zu weinen. Warum passierte das alles? Warum passierte das ausgerechnet mir? Mein Kopf fühlte sich schwer an. Irgendwann hörte ich auf zu weinen und fiel in einen leichten und unruhigen Schlaf.