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Kapitel 6

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Ich fand mich mitten im stockdunklen Wald wieder. Zu Beginn fehlte mir jegliche Orientierung. Meine Augen mussten sich erst an die Dunkelheit gewöhnen. Der Mond spendete kaum Licht, deswegen brauchte ich eine Weile, um zu begreifen, wo ich gelandet war. Das Heulen eines Wolfes ließ mich aufschrecken, meine Nackenhaare richteten sich auf. Ich fröstelte beim Anblick der riesigen, schattenhaften Bäume, die im Wind schaukelten. Die Blätter raschelten bedrohlich. Über mir schrie zu allem Überfluss auch noch eine Eule.

Was machte ich hier? Ich hatte mir doch ganz fest Jeremia vorgestellt, bevor ich eingeschlafen war. Ich trippelte langsam, vorsichtig vorwärts und versuchte zu ertasten, wo ich hintrat. Der Boden fühlte sich gefährlich weich an. Erst als ich ein schwaches Licht erblickte, spürte ich Erleichterung. Umso näher ich kam, desto deutlicher hörte ich die Stimmen. Einige dunkle Gestalten hockten um ein loderndes Feuer, von dem Funken emporstiegen, winzige Lichtpunkte, die in die Dunkelheit schossen.

Plötzlich stellte sich das Gefühl ein, dass Jeremia da war.

Es war unbeschreiblich. Ich fühlte eine Anziehung, als suchte meine Seele die seine. Ohne darüber nachzudenken, steuerte ich seine Richtung an. Zwischen Gebüschen, in der Nähe eines Felsens, fand ich acht Männer kreisförmig um ein Lagerfeuer hocken. Jeremia saß mit dem Rücken zu mir, aber ich wusste sofort, das ist er, der da gelangweilt mit einem Stock im Feuer herumstocherte. Zu seiner Rechten sein bester Freund Gerrit. Sie waren zusammen aufgewachsen, hatten gemeinsam die Universität besucht. Noch während ihrer Militärausbildung stiegen sie von Kriegern zu Mastern auf. Dies hatte ich während früherer Wanderungen erfahren.

Ich schlich mich noch näher heran, bis ich unmittelbar hinter Jeremia stand, dabei bemerkte ich sofort, dass seine Haltung sich veränderte. Sogleich drehte er sich zu mir um. Er blickte durch mich hindurch in die Dunkelheit und lauschte. Um sein Gesicht besser sehen zu können, kniete ich mich vor ihn. „Hier bin ich“, hauchte ich ihm zu, während er weiterhin in den Wald stierte. Mit meiner Hand strich ich ihm über seine Wange. Instinktiv hob auch er seine Hand und legte sie darauf, wie das letzte Mal, als wir bei Narissa und ihrem Vater gewesen waren.

Er fühlte etwas. Er fühlte mich. Ich war entzückt.

„Ich wünschte, du wüsstest, wie sehr ich dich brauche“, sagte ich.

Sein Blick veränderte sich. Es sah so aus, als ob er mich anschaute.

„Kannst du mich sehen?“ Ich bekam natürlich keine Antwort auf meine Frage, er konnte mich ja nicht hören, trotzdem schien er mich anders wahrzunehmen.

„Was tust du da, Jeremia?“, schnaubte Gerrit verächtlich.

„Ich weiß auch nicht. Ich habe das Gefühl, dass wir beobachtet werden. Dass ich beobachtet werde. Ich verstehe das nicht“, antwortete Jeremia verwirrt.

„Geht das schon wieder los. Ich dachte, das hätten wir abgehakt. Wir befinden uns im Krieg, wahrscheinlich bist du nur überempfindlich.“

„Das hat nichts mit dem Krieg zu tun. Ich fühle nichts Unangenehmes. Es fühlt sich gut an. Als würde etwas über mich wachen“, beschrieb Jeremia.

Ich hörte seine Worte, und es löste in mir ein Kribbeln aus. Es freute mich, dass er mich als etwas Positives wahrnahm.

„Wenn du meinst. Vielleicht wachen Schutzgeister über uns. Das soll mir recht sein, Jeremia. Wir brauchen in diesem Krieg jede Hilfe, die wir bekommen können.“

Jeremia schaute noch einmal zu mir rüber und wandte sich langsam wieder dem Feuer zu. Er wirkte nachdenklich. Die Flammen loderten nun kleiner als zuvor. „Es wird Zeit, dass wir endlich schlafen. Morgen ist ein anstrengender Tag. Wir werden die Brücke nach Kalander überqueren, und wir sollten ausgeruht sein, wenn wir dem Volk begegnen“, gähnte Jeremia.

Die Männer nahmen eine liegende Position ein und deckten sich mit ihren Mänteln zu. Die harten Satteltaschen dienten als Kopfunterlage.

Ich beobachtete sie, bis sie alle außer Jeremia schliefen. Er lag auf dem Rücken und starrte in den Himmel.

Morgen sollte er nach Kalander kommen. Mein Herz machte einen Freudensprung. Ich musste ihn sehen, aber wie sollte ich es anstellen? Wahrscheinlich besuchten sie unsere Hauptstadt Kanas, um mit unserem Herrscher Fisius zu verhandeln. Danach würden sie die frisch registrierten Rekruten begutachten. Also auch meine Brüder. Ich nahm mir fest vor, meine Eltern zu überreden, dass wir sie begleiten sollten, um noch so lange wie möglich mit ihnen zusammen sein zu können. Tante Lana würde sich über unseren Besuch ganz sicherlich freuen. In meinem Kopf setzte sich schon ein Plan zusammen.

Ich wollte ihm leibhaftig gegenübertreten. Ich musste.

Ich kniete mich neben ihn. So schön sah er aus. Er drehte seinen Kopf in meine Richtung. Er schlief immer noch nicht.

Worüber grübelte er?

War es der Krieg oder das Gefühl, jemanden zu spüren?

Ich sah ihn im schwachen Licht des Feuerscheins an und mein Verstand setzte kurz aus. Mein Verlangen, ihn zu berühren und ihn zu küssen, nahm Überhand. Vorsichtig näherte ich mich seinem Gesicht. Seine Lippen standen leicht offen. Er schaute mich an, zumindest stellte ich mir das vor. Ich hauchte ihm einen leichten Kuss auf den Mund und auch wenn ich ihn nicht wirklich berühren konnte, löste dieser Kuss wahren Zauber in mir aus. Wärme füllte meine Seele. Ich musste lächeln, es machte mich glücklich.

Wie es wohl wäre, wenn ich ihn wirklich küssen könnte, wie würde sich das erst anfühlen? Aber es war nur ein Traum, im Moment nur ein Wunschdenken. Wie töricht ich mich benahm.

Sein Gesichtsausdruck veränderte sich, stirnrunzelnd erhob er seinen Oberkörper und stützte sich auf seine Arme. „Was geht hier vor?“, murmelte er. „Werde ich jetzt verrückt? Es fühlt sich an, als hätte mich jemand geküsst.“ Er sprach so leise, dass ich es kaum verstand. Aber endlich erfuhr ich, dass er mich wirklich fühlen konnte. Kopfschüttelnd legte er sich wieder hin. Ich beobachtete ihn noch eine ganze Weile, bis auch ihm die Augen zufielen. Er schlief ein mit einem Lächeln auf seinen Lippen.

Nun stand ich auf und spazierte unbekümmert durch den Wald. Auf einer Lichtung fand ich ihre Pferde. Ich nahm nichts außer meinen Gedanken an Jeremia mit, als ich erwachte.

Es war noch dunkel, trotzdem sprang ich gutgelaunt aus dem Bett, um mich anzukleiden. Ich musste mich darauf vorbereiten, meine Eltern zu überreden, meine Brüder nach Kanas zu begleiten. Total aufgewühlt beschloss ich zuerst in die Küche zu gehen und mir einen starken Kaffee aufzubrühen. Meine Pläne würden mit wachem Verstand eher Form annehmen. So schlich ich auf Zehenspitzen durch den dunklen Flur, die Treppe runter in die Küche, dort entzündete ich eine Kerze. Ich setzte den vollen Wasserkessel auf den Herd. Als es kochte, goss ich langsam den Kaffee auf und füllte mir mit der Kanne einen Becher. Die Wärme und der Duft des Kaffees weckten meine Sinne. Ich nahm vorsichtig einen kleinen Schluck aus der Tasse.

Auf nach Kanas! Ich sollte sie einfach darum bitten und ihnen den wahren Grund nennen.

Würden sie es verstehen?

Meine Mutter sicherlich. Sie selbst hatte gesagt, dass es einen Grund gäbe, dass mich meine Wanderungen zu Jeremia geführt haben. Ich sollte mit ihr alleine sprechen. Genauso wollte ich es machen. Was sich dann ergeben könnte, darüber würde ich mir Gedanken machen, wenn es so weit wäre, auch wenn ich mich am Ende aus dem Haus schleichen müsste, um den Weg alleine nach Kanas zu nehmen.

Der Hahn krähte draußen und Mutter kam aus dem Schlafzimmer. Ihre Augen waren geschwollen. Sie hatte kaum geschlafen, das sah man ihr an. Ich erhob mich und näherte mich. Sie stand im Türrahmen und hielt sich mit ihren Armen fest umschlungen. Wie egoistisch ich war. Ich dachte nur noch an Jeremia und wie ich ihn treffen könnte, und dabei hatte ich meine eigenen Brüder ganz vergessen. Das schlechte Gewissen quälte mich. Ich nahm meine Mutter in die Arme und schweigend kullerten uns Tränen über das Gesicht. Schmerz und Hoffnungslosigkeit überrollte uns wie eine Flut. Lange standen wir so da.

Oben in den Schlafzimmern hörten wir Schritte, die Männer waren wach. Sie packten sicherlich ihre Reisesäcke. Der traurige Abschied nahte wie ein böser heranschleichender Feind.

Ich führte meine Mutter zum Tisch, reichte ihr eine Tasse Kaffee und setzte mich zu ihr. „Mama, ich weiß, dass es dir nicht gut geht, aber ich muss dich dringend um etwas bitten. Du musst Papa überreden, dass wir die Jungs nach Kanas begleiten.“

Mutters trauriger Blick war verflogen, doch bevor sie etwas sagen konnte, fuhr ich fort.

„Ich bin heute Nacht wieder zu Jeremia gewandert. Er wird heute in Kanas eintreffen und mit größter Wahrscheinlichkeit auf den Marktplatz kommen, um die Freiwilligen zu mustern. Dort müssen wir sein, es ist wichtig. Es ist mein Schicksal. Ich muss gehen, das spüre ich. Ich weiß, dass nur du das verstehen kannst. Mama, ich brauche deine Hilfe.“

Meine Mutter blieb ruhig. Sie dachte darüber nach, was ich meinte. Dass sie nicht direkt nein gesagt hatte, war schon mal ein Grund zu hoffen. Endlich sprach sie mit einem aufkeimenden Hoffnungsschimmer. „Ich glaube an unsere Gabe, und ich glaube auch an dich. Ich denke, du könntest wirklich ein Teil der Geschichte Galans sein, und wie schmerzhaft es auch ist, meine Kinder ziehen lassen zu müssen, so hoffe ich, dass du etwas Gutes bewirken kannst, damit deine Brüder wieder heil nach Hause kommen. Ich weiß nicht, welche Rolle du in diesem Krieg spielen wirst, aber wir werden nach Kanas gehen. Ich spreche mit Keleb. Aaron und Brasne bleiben auf dem Hof. Dein Vater, du und ich, wir werden zwei Tage Lana besuchen. Mögen die Götter mit uns sein“, verkündete sie andächtig und verließ sie die Küche.

Zur gleichen Zeit hörte ich Schritte auf der Treppe und Türen, die sich zum letzten Mal für lange Zeit schlossen. Meine Brüder kamen herunter. Casper, Jazem, Theran und Talon stellten ihr Gepäck an die Haustür, betraten die Küche und nahmen wie gewohnt am Tisch Platz. Ich begann, ihnen das Frühstück zu servieren. Es herrschte Schweigen. Während sie aßen, lief ich nach oben, um schnell zu packen. Ich war voller Zuversicht, dass Mutter Vater überreden würde. Nachdem ich Kleidung für zwei Tage und mein Tagebuch in meine große Reisetasche gestopft hatte, legte ich meinen Reiseumhang über das Gepäck.

Aus der Küche vernahm ich eine rege Unterhaltsamkeit. Mein Vater teilte gerade meinen Brüdern mit, dass wir sie nach Kanas begleiten würden. Er wies Aaron und Brasne an, solange den Hof zu leiten und verließ die Küche, um seine Sachen zusammenzusuchen. Meine Brüder redeten alle durcheinander.

„Versteht ihr, warum er mitkommen will?“, fragte Talon.

„Mama und Papa wollen miterleben, wenn ihr euren Dienst antretet“, mischte ich mich in die Unterhaltung ein.

„Das verstehe ich, aber warum nehmen sie dich mit? Du könntest doch Aaron und Brasne auf dem Hof helfen?“, wandte Theran ein. Aaron starrte mich an, er schien es zu begreifen.

„Vielleicht wollen sie, dass sie hier mal rauskommt. Isma war bisher so selten in Kanas“, kommentierte Aaron die Situation.

„Nun ja, dann soll sie eben mitkommen. Vater will es ja unbedingt. Ich spanne die Pferde vor die Kutsche. Sorgt dafür, dass alle in einer Stunde abreisefertig sind“, pflichtete Jazem bei. Alle bis auf Aaron folgten ihm nach draußen, in Richtung Stall. Die anderen würden die Pferde satteln.

„Deine Seele hat heute Nacht deinen Körper verlassen und du hast Informationen erhalten, stimmt‘s?“, wollte Aaron unbedingt wissen.

„So ungefähr. Jeremia wird heute Abend in Kanas sein, und es ist unser Schicksal, dass ich ihm begegne“, erklärte ich ihm und er schien zu verstehen. Ich hoffte, meine Prophezeiung würde eintreffen. Ich wollte uns allen helfen, denn wahrscheinlich waren es nicht nur meine Gefühle zu Jeremia, die ich falsch auffasste und somit vielleicht einen schweren Fehler beging.

Nach einer Stunde standen wir abreisebereit auf dem Hof. Als Aaron mich zum Abschied umarmte, flüsterte er mir ins Ohr, dass ich auf mich aufpassen solle. Ich drückte ihn noch fester und versprach es ihm.

„Kommt bald wieder“, brüllte Brasne.

Als die Kutsche mit Vater, Mutter und mir anfuhr, winkten uns Aaron und Brasne mit Tränen in den Augen zu.

Jazem, Theran, Talon und Casper folgten auf ihren Pferden, hoben kurz jeder eine Hand zu einem stummen Gruß, um so ihre beiden daheimbleibenden Brüder zu verabschieden.

Ich schaute noch lange zurück. Unser Wohngebäude wurde immer kleiner, bis es ganz hinter einem Hügel verschwand. Erst dann drehte ich mich um.

Meine Reise hatte begonnen.

Galan

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