Читать книгу Ich war eine Ärztin in Auschwitz - Gisella Perl - Страница 11

Bedeutung der Memoiren von Gisella Perl

Оглавление

Die Versuche, Gisella Perls Bericht in verkitschter Überhöhung ihrer Person zu rezipieren, wie es in einigen Essays getan wurde, wo vom »Engel von Auschwitz« und »der Leiterin des Häftlingskrankenbaus in Auschwitz« die Rede ist, sind wenig zielführend. Sie versuchen, Aufmerksamkeit zu erheischen, aber verfehlen durch ihre Schwarz-Weiß-Zeichnung oftmals den Kern des Geschehens. Wie der Theaterkritiker Andrzej Wirth schrieb, verlangt die Wahrheit über den Massenmord im 20. Jahrhundert den Verzicht auf die Dämonisierung der Täter und die Apotheose der Opfer.45 In Auschwitz-Birkenau gab es unzählige Menschen, die vor Entscheidungen gestellt waren, die niemals einem Menschen zugemutet werden dürfen, und diese dennoch so verantwortungsvoll wie möglich trafen. Gisella Perl war kein »Engel«, sondern ein Mensch mit menschlichen moralischen Ansprüchen, die sie wie ihre Mithäftlinge in einem unmenschlichen System auf den Prüfstand gestellt sah. Sie lässt uns an ihren Gedanken, ihrer Wut und ihren Fragen teilhaben und gibt mit ihrem Bericht nicht nur der historischen Forschung wichtige Einblicke in das Innenleben des Lagers. Wir sollten die Berichte der Überlebenden in ihrer menschlichen Größe wahrnehmen und ihre natürliche Begrenztheit anerkennen.

Seit Jahrzehnten wird darüber nachgedacht, wie die Bildungsarbeit zu den Themen der nationalsozialistischen Judenverfolgung und -ermordung angesichts des Aussterbens der Generation der Zeitzeugen und Zeitzeuginnen in zukunftsfähige Formate übertragen werden kann. Neben den zahlreichen Anstrengungen, moderne Kommunikationstechnologien wie Hologrammformate und Videointerviews nutzbar zu machen, kann auch die Relektüre der in Vergessenheit geratenen frühen Berichte einen großen Lerneffekt freisetzen, da ihnen gerade durch ihre Unmittelbarkeit ein hohes Potenzial innewohnt. Die Zugänglichmachung und Übersetzung, Kontextualisierung und Bereitstellung von Hintergrundwissen auf Grundlage der geschichtswissenschaftlichen Forschungsergebnisse sind gute Möglichkeiten, den unverzichtbaren Stimmen der Überlebenden Geltung zu verschaffen, neue Fragen an ihre Berichte zu stellen, Leerstellen zu diskutieren und sie im Dialog und vielstimmigen Akkord mit anderen Texten zu erhellen. In solchen Fällen können uns die frühen, ebenso wie die später entstandenen Berichte noch sehr viel Neues und Unbekanntes vermitteln.

Andrea Rudorff

Ich war eine Ärztin in Auschwitz

Подняться наверх