Читать книгу Ich war eine Ärztin in Auschwitz - Gisella Perl - Страница 14

»Ich will mit ihnen gehen …«

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Heute – wo alles so hilflos erscheint in unserer chaotischen Welt, wo nach all dem Blutvergießen, all dem Leid der letzten Jahre Frieden und Sicherheit überall noch immer unbekannte Segnungen sind – stellen sich Menschen wie ich, die durch die Hölle gegangen sind, oft die Frage: Wo soll das enden? Werden Güte, Liebe und Gerechtigkeit niemals wieder auf dieser Welt regieren? Werden der Hass und das Böse immer das Zepter schwingen?

Meine Fragen bleiben ohne Antwort, doch wann immer ich sie stelle, kommt mir eine Geschichte in den Sinn, die mir beweist, dass die Verantwortung für die Welt, in der wir leben, dem Menschen nicht angeboren ist, sondern sich seiner Erziehung verdankt. Wenn ich mich an ein junges Mädchen erinnere, Elisabeth, wird mein Glaube an den inneren Adel eines Menschen, der als Reaktion auf Freundlichkeit zum Ausdruck kommen kann, neu belebt.

Es geschah in einer kalten, windigen Dezembernacht, in einem Tal der schneebedeckten Karpaten. Das langanhaltende, heftige Läuten der Türglocke durchbrach die nächtliche Stille. Dann die Stimme einer Krankenschwester: »Sie haben eine Frau gebracht. Sie blutet. Kommen Sie, Frau Doktor?«

Wenige Minuten später war ich im Operationssaal. Ein junges Mädchen, etwa sechzehn Jahre alt, blutüberströmt, lag auf dem Operationstisch, das Opfer einer Vergewaltigung. Rasch habe ich sie genäht, und die Wunde wurde gesäubert. Dann lag sie still im weißen Krankenhausbett. Ich stellte ihr keine Fragen. Es war Nacht; sie musste schlafen; am nächsten Tag wäre genügend Zeit.

Elisabeth blieb eine Woche im Krankenhaus, und während dieser Woche erzählte sie mir ihr ganzes trauriges junges Leben. Sie war Waise, Protestantin, Ungarin. Sie lebte bei Verwandten, wo harte Arbeit und Schläge ihre Tage bestimmten. Selbst in ihren Nächten fand sie keine Ruhe; sie wurden von den lautstarken, betrunkenen Ausbrüchen des Hausherrn gestört. In solch einer Nacht, verrückt vor alkoholisierter Begierde, vergewaltigte er das kleine Mädchen, das nicht die körperliche Kraft besaß, sich seiner Brutalität zu erwehren.

»Lassen Sie mich nicht wieder dorthin zurückgehen, Doktor …«, wiederholte sie Tag für Tag. »Lieber sterbe ich, als dass ich zurückgehe.«

Sie blieb bei mir. Ich schickte sie in eine Schule, damit sie kochen lernte, und sie wurde meine Haushälterin. Mein Sohn war ihr wie ein Bruder. Sie lernten zusammen Latein, Französisch und Literatur, trugen gemeinsam Gedichte vor, studierten Geschichte und Geografie; und während sie mir half, Marmeladen und Gelees für den Winter vorzubereiten, pfiff sie Melodien von Beethoven und Mozart, die mein Sohn auf der Geige für sie spielte. Wir behandelten sie wie eine Tochter. Sie nannte meine Eltern »Großmutter« und »Großvater«. Sie und mein Sohn heckten zusammen so manchen kindischen Streich aus, erdachten so manche süße Überraschung. Sie teilte unsere Freuden und Sorgen, unsere Träume und Sehnsüchte, unseren Kummer.

Nach einer Weile begann sie, mich zu meinen Patientinnen zu begleiten. Ihre Freundschaft mit meinem Sohn wurde so eng, dass sie es war, der er seine kleinen Geheimnisse anvertraute. Sie nahm an unserem streng jüdischen Leben teil – blieb aber Protestantin. Darauf bestand ich. Ich kaufte ihr eine Bibel und ein Psalmbuch und schickte sie jeden Sonntag zum Pfarrer. Wenn die Glocken der alten protestantischen Kirche zu den Gottesdiensten läuteten, achtete ich darauf, dass sie daran teilnahm. Am Karfreitag fastete sie, und zu Weihnachten bekam sie immer ihren schönen, hell leuchtenden Weihnachtsbaum. Sie fastete aber auch an den jüdischen Feiertagen, und wenn wir die Chanukka-Kerzen der alten Makkabäer entzündeten, sang sie zusammen mit meinem Sohn die alten Lieder, in perfekter Harmonie.

Jene traurige Dezembernacht, als sie blutend auf meinem Operationstisch lag, hinterließ in ihrem Herzen einen tiefen Respekt für mich – einen Respekt, stärker noch als Liebe.

Mit den Jahren wurde Elisabeth zu einer attraktiven jungen Frau. Dem Brauch gemäß begannen wir, ihre Aussteuer vorzubereiten. Und dann, an einem Tag, den ich nie vergessen werde, betrat der Horror unser Haus.

Brutale Polizisten und Gestapoleute brachen ein, rissen Spinde und Schränke auf, zerstörten, was sie nur konnten, trieben uns mit schmutzigen Flüchen an, uns fertig zu machen. Eine schwere Hand schlug meinen weißhaarigen Vater, ein junger deutscher Held ohrfeigte meinen Mann, und einer der Polizisten schob mich ungeduldig zur Tür. Über all dem chaotischen Lärm lag Elisabeths Stimme, scharf und drohend wie ein Nebelhorn:

»Lasst Großvater in Ruhe. Wagt nicht, die Ärztin anzufassen. Ihr seid keine Ungarn, ihr seid unmenschlich! Verbrecher! Mörder! Diese Leute sind gute Ungarn, ehrbare Menschen! Nehmt eure Hände von ihnen, ihr seelenlosen Diebe!«

Verzweifelt, ohne einen einzigen Gedanken an ihre eigene Sicherheit, streckte sie ihre schwachen Arme aus und versuchte, sich mit ihrem jungen Körper zwischen uns und unsere Verfolger zu werfen.

Ein hoher Zaun trennte das Ghetto von der Welt des Todes und der Gewalt draußen. Wir kauerten hinter ihm, verängstigt und verzweifelt, und fragten uns, wie lange dieser Zaun uns wohl schützen würde. Tag für Tag erschien Elisabeth am Tor, mit einem Essenspaket für uns. Sie wurde dünner und dünner, es war ersichtlich, dass sie auf ihr Essen verzichtete, um für uns zu sorgen.

Dann kam der letzte Nachmittag, den wir in unserer kleinen Stadt verbringen sollten. Wir waren bereits in den Viehwaggons und Wachen vernagelten die Türen, die man hinter uns geschlossen hatte, als sich zwischen den Gitterstäben eine wohlbekannte Hand nach uns ausstreckte, Elisabeths Hand. Sie brachte uns Milch und Brot für die Reise, doch als sie mich dort stehen sah, eingezwängt zwischen meinen Leidensgefährten, verlor sie den Kopf. Weinend, schreiend, begann sie mit den Fäusten gegen die starken Eisentüren zu hämmern, als hoffte sie, sie durch die Kraft ihrer Verzweiflung zum Nachgeben zu bringen. »Ich will mit ihnen gehen!«, weinte sie, »lasst mich mit ihnen gehen …«

Die Wachen ergriffen sie und zogen sie vom Zug weg, schlugen sie, traten nach ihr, um ihre hoffnungslosen Schreie zum Verstummen zu bringen. Der Zug fuhr los, der Glockenturm des protestantischen Gymnasiums und die Kirche verschwanden in der Ferne, doch Elisabeths herzzerreißende Schreie folgten mir den ganzen Weg nach Auschwitz und werden mir für immer folgen, wohin ich auch gehe. »Ich will mit euch gehen … Lasst mich mit ihnen gehen …«

Ja, die Verantwortung für die zukünftige Welt liegt bei den Lehrern und Erziehern. Wenn wir es wollten, wenn wir wirklich und aufrichtig versuchten, eine bessere Welt aufzubauen, dann würde das Gute der Menschheit überwiegen, dann würden die Elisabeths keine seltenen, denkwürdigen Ausnahmen sein.

Ich war eine Ärztin in Auschwitz

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