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Die Situation von Häftlingsärzten und -ärztinnen in Auschwitz-Birkenau

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Die SS hatte schon sehr früh begonnen, in den Konzentrationslagern eine medizinische Minimalversorgung einzurichten; sie diente zunächst vor allem der Seuchenprävention, da die SS sich selbst und die Zivilbevölkerung bedroht sah, wenn unter den Häftlingen ansteckende Krankheiten ungehemmt grassierten. Da seit 1942 die Arbeitskraft der Häftlinge an Bedeutung gewann und die Sterblichkeit in den Konzentrationslagern reduziert werden sollte, setzte die SS zunehmend Häftlinge mit ärztlicher Ausbildung in den Krankenrevieren ein. Diese betreuten die Reviere weitgehend selbstständig, wurden aber regelmäßig durch die zuständigen SS-Ärzte kontrolliert.

Die Krankenreviere waren Orte, wo Häftlinge, für die eine Heilung als aussichtsreich angesehen wurde, eine Chance auf Regeneration erhalten sollten. Trotz ihrer oft armseligen Ausstattung konnten die Häftlingsärztinnen und -ärzte Kranke im Rahmen der begrenzten Möglichkeiten behandeln und pflegen – wenn Medikamente nicht vorhanden waren, dann mit guten Worten und dem Gefühl, dass sich jemand um einen sorgte und kümmerte. Gleichzeitig fanden hier regelmäßig Selektionen der SS-Ärzte statt, auf die Häftlingsärztinnen und -ärzte Einfluss nahmen, indem sie Gefährdete versteckten oder deren Diagnosen manipulierten. Die Rettung Einzelner bedeutete jedoch immer den Tod anderer. Angesichts der menschenunwürdigen Umstände, in denen sie ärztlich agieren mussten, verstießen sie zwangsläufig immer wieder gegen medizinethische Normen und die Grundprinzipien des Hippokratischen Eides. Die meisten Häftlingsärztinnen und -ärzte in Auschwitz-Birkenau und anderen Lagern versuchten trotz der moralischen Dilemmata in der ständigen Gratwanderung zwischen Befehlen der SS und ärztlichen Pflichten das Menschenmögliche zu tun, um möglichst vielen Häftlingen das Leben zu retten oder zu erleichtern.

Als Gisella Perl nach Auschwitz-Birkenau kam, existierte das Stammlager Auschwitz I fast vier Jahre, das weitaus größere Auschwitz II, Birkenau, mehr als zwei Jahre. Im gesamten Lagerkomplex hatte sich in dieser Zeit ein ausgedehntes Netz an Krankenrevieren entwickelt.20 Neben dem großen Krankenrevier im Stammlager, das sich auf mehrere Blöcke verteilte und eine Ambulanz, eine Innere Abteilung, eine Chirurgische Abteilung und einen Schonungsblock umfasste, existierten auch in Birkenau bereits mehrere Häftlingskrankenbauten: seit August 1942 das Krankenrevier im Frauenlager B I a mit zunächst vier Baracken, das später auf das gesamte Lager B I a ausgedehnt wurde, die Reviere im Quarantänelager im Bereich B II a und im sogenannten Zigeunerlager B II e sowie die gesamte Abteilung B II f, die als »Männerhäftlingskrankenbau« fungierte. Über 200 Häftlingsärzte und -ärztinnen waren im Laufe der Jahre im Lagerkomplex Auschwitz-Birkenau eingesetzt.

Im Lager B II c waren ab Ende Mai 1944 junge, gesunde, als arbeitsfähig deklarierte Frauen untergebracht. Die katastrophalen Lebensumstände, die Mangelversorgung und die Gewalt, der die Frauen ausgesetzt waren, führte schon bald zu ersten Krankheitsfällen. Mitte Juli 1944 entschied die SS, im Lagerbereich B II c eine Baracke als Krankenbaracke einzurichten und jüdische Ärztinnen und Pflegerinnen dort einzusetzen, darunter Gisella Perl und Olga Lengyel. Dieses Revier wurde in der Mitte des Lagers, in der Baracke 15, eingerichtet. Olga Lengyel beschrieb sie als eine baufällige Baracke, in die es hineinregnete. Zwei kleine Räume rechts und links des Eingangs seien als Behandlungszimmer und als Apotheke genutzt worden, Licht kam nur aus dem Flur in das Untersuchungszimmer, es gab kein fließendes Wasser, kein Desinfektionsmittel, keine sterilen Instrumente, und selbst der Holzfußboden sei schwer sauber zu halten gewesen. Ständig hätten sie Angst gehabt, dass sich Patienten bei der Behandlung infizierten.21 Etwa 500 Patientinnen wurden dort am Tag versorgt, die in Fünferreihen auf der Lagerstraße anstehen mussten. Hatte das Revier am Anfang ausschließlich die Funktion einer Ambulanz, so war später auch die dauerhafte Unterbringung von 400 bis 500 kranken Frauen am hinteren Ende der Baracke möglich. Die medizinische Versorgung war eine Farce, ein »neuer gespenstischer Nazi-Witz«, wie Gisella Perl es bezeichnete. Es standen kaum Mittel für eine tatsächliche Heilbehandlung zur Verfügung: Die Ausstattung mit Medikamenten oder Verbandsmaterial war miserabel. Jedoch wies Gisella Perl darauf hin, dass vielen Erkrankten allein die Befreiung von den mehrstündigen Appellen schon genug Entlastung bot, um sich zu regenerieren. Um Frauen vor der Selektion zu bewahren, manipulierten sie regelmäßig Diagnosen. Die Unterbringung von Frauen mit Hautausschlägen, Typhus, Malaria oder auch psychischen Krankheiten im Revier war von der SS verboten worden; »erlaubt« waren hingegen Halsentzündungen, Grippe und Lungenentzündungen.

Die Position einer Häftlingsärztin brachte zahlreiche Privilegien mit sich, die ihre Lebensbedingungen verbesserte und die Überlebenschancen erhöhte.22 Das medizinische Personal von Block 15 erhielt eine separate Unterbringung, besseren Zugang zu Nahrung und Kleidung, die sie zu Bestechungszwecken oder aus Dankbarkeit bekamen, sie konnten relativ autonom arbeiten und ihre Zeit ohne eine ständige SS-Aufsicht im Nacken einteilen. Daher waren sie auch mehr vor Misshandlungen geschützt als die gewöhnlichen Häftlinge. Zwar setzten sie sich wegen des fehlenden Arbeitsschutzes zahlreichen Krankheitserregern aus – im Fall von Erkrankung hatten sie aber einen deutlich besseren Zugang zu Medizin und ärztlicher Versorgung durch ihre medizinisch ausgebildeten Mithäftlinge aus dem Krankenrevier. Das Wichtigste jedoch war das Gefühl, gebraucht zu werden, den Menschen Erleichterung verschaffen zu können und in einem stetigen Fachaustausch mit den anderen Ärztinnen und Pflegerinnen zu stehen. Genau dieses Gefühl einer sinnvollen Aufgabe im Kreis von Kolleginnen brachte einen Lebenssinn in das quälende und isolierte Gefangenendasein, das ansonsten schnell in Hoffnungslosigkeit und Apathie umschlug. Dieser Privilegien war sich Gisella Perl bewusst und reflektiert sie in ihrem Buch.

Gegen Ende September 1944 begann die SS, das Lager B II c aufzulösen. Dem forcierten Abtransport von Häftlingsgruppen folgten forcierte Selektionen. Am 4. November 1944 befanden sich noch etwa 1000 Jüdinnen im Lager, die in die als Frauenkonzentrationslager genutzten Bauabschnitte B I a und B I b verlegt wurden. Gisella Perl beschreibt diese Verlegung als Umzug in die Lager »F, K und L«, was sich aus der Abkürzung des Wortes Frauenkonzentrationslager (FKL) ergibt. Dort blieb sie zwei Wochen. Am 17. November 1944 beschloss die SS schließlich, alle männlichen und weiblichen Häftlinge im Lagerabschnitt B II zu sammeln. Bis zum 24. November wurden die arbeitsfähigen Frauen aus B I a und B I b in den Bereich B II d, arbeitsunfähige und kranke Frauen sowie Kinder in den Bereich B II e überstellt. Laut Angaben von Otto Wolken gab es dort folgende Abteilungen: eine Innere Abteilung für jüdische (Block 22), nichtjüdische (Block 16) und reichsdeutsche Häftlinge, Kinder sowie Funktionshäftlinge (Block 24), eine Durchfall-Baracke in Block 18, eine Chirurgie in Block 20, eine Ambulanz in Block 28, den Block 30 für Tuberkulosekranke und den Block 32 für Infektionskrankheiten.23 Gisella Perl arbeitete dort bis zu ihrer Überstellung nach Hamburg-Wandsbek im Januar 1945 auf der Entbindungsstation in Block 19.

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