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Einführung in die deutsche Ausgabe

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Auch wenn inzwischen der Eindruck überwiegt, die Überlebenden der Shoah hätten erst Jahrzehnte nach Kriegsende die Kraft gefunden, über die grausamen Erfahrungen während der Verfolgung und der Lagerhaft zu berichten, so dürfen wir die zahlreichen Jüdinnen und Juden nicht vergessen, die sich unmittelbar nach ihrer Befreiung aus Konzentrationslagern und Verstecken, überall in Europa und in den folgenden Jahren auch an ihren neuen Wohnorten in den USA, Kanada und Australien, an die schwere Aufgabe machten, Zeugnis von den Verbrechen und ihrem persönlichen Erleben abzulegen.

Viele taten dies, weil sie sich den Ermordeten gegenüber verpflichtet fühlten, andere sahen darin eine Möglichkeit, das Geschehene persönlich zu verarbeiten und hofften auf eine innere Befreiung, um abschließen zu können und sich danach mit neuer Kraft dem schwierigen Aufbau eines neuen Lebens nach der Katastrophe zu widmen. In der zweiten Hälfte der 1940er-Jahre entstanden Hunderte von Publikationen, die damals durchaus Aufmerksamkeit erhielten, aber im Laufe der Jahrzehnte vergessen wurden und heute oftmals nur noch schwer zu beschaffen sind.1 Etliche von ihnen wurden nie in andere Sprachen übersetzt. Die Bedeutung einiger dieser Darstellungen ist erst Jahrzehnte später klar geworden, viele sind in den letzten Jahren durch Neuveröffentlichungen zugänglich gemacht worden.

Zu diesen frühen Berichten gehört auch das Buch von Dr. Gisella Perl (1907–1988), einer jüdischen Gynäkologin aus Sighet, die im Mai 1944 nach Auschwitz-Birkenau deportiert und im April 1945 in Bergen-Belsen befreit worden war. Als sie im Jahr 1946 ihre essayhaft angelegten Erinnerungsstücke an die Lagerhaft niederschrieb, tat sie das vor allem aus dem Gefühl der Verantwortung für die Ermordeten. So formulierte sie in ihrem Geleitwort: »Die Toten sprechen hier zu euch. Die Toten, die euch nicht um Rache für sie bitten, sondern nur darum, an sie zu erinnern und darüber zu wachen, dass keine weiteren unschuldigen Opfer deutscher Unmenschlichkeit ihre Reihen füllen …«

Entsprechend dieses Leitsatzes liegt neben der Erzählung ihrer persönlichen Geschichte der Schwerpunkt ihres Berichts darin, hoffnungsvolle, junge, begabte und schöne Frauen zu portraitieren, die in der überwiegenden Mehrzahl nicht überlebt haben. Deutlich wird ihr Anliegen, die Phasen der Depravation dieser Frauen in der Lagerhaft darzustellen, ihren Lebenswillen und Überlebenskampf zu betonen und auf den großen kulturellen Verlust hinzuweisen, der mit der Ermordung dieser Menschen einherging.

Gleichzeitig hatte Gisella Perl durch ihre Arbeit als Häftlingsärztin etwas Besonderes zu erzählen. Häftlinge, die als medizinisches Personal in Konzentrationslagern zum Einsatz kamen, wurden zu außerordentlich wichtigen Zeugen, da sie zentrale Orte für das innere Funktionieren des Lagers – die Krankenreviere – kennengelernt hatten, eine hohe Verantwortung nicht nur für sich, sondern auch für unzählige Mithäftlinge wahrnahmen und dabei permanent mit ethisch herausfordernden Situationen konfrontiert waren. Alle Überlebenden, die sich schreibend mit der Lagerhaft auseinandersetzten, beschäftigten sich mit den moralischen Zumutungen und Grenzsituationen – der wohl bekannteste unter ihnen ist Primo Levi, der den Begriff der »Grauzone« für die menschlichen Dilemmata in einem unmenschlichen System prägte.2

Auch Gisella Perl spart diese Themen nicht aus. Ihr Buch reiht sich ein in die Memoiren ehemaliger Häftlingsärzte und -ärztinnen, die ihr spezielles Wissen zu den Vorgängen in den Krankenrevieren und Experimentierstationen des Lagerkomplexes Auschwitz-Birkenau und die unerträglichen Situationen, die für die Häftlingsärztinnen und -ärzte entstanden, weitergaben. Unermüdlich schrieb der österreichische Lagerarzt Dr. Otto Wolken in den Wochen nach der Befreiung Berichte und Analysen über die Krankenstation im Quarantänelager B II a.3 Der ungarische Pathologe Miklós Nyiszli veröffentlichte bereits 1946 seine Erfahrungen im Sektionsraum des Krematoriums II, wo er im Auftrag von Josef Mengele Leichen sezieren musste.4 Im Jahr 1948 erschienen in London die Erinnerungen der österreichischen Häftlingsärztin Ella Lingens, 1956 die der jüdischen Berliner Ärztin Lucie Adelsberger, die im sogenannten Zigeunerlager in Birkenau eingesetzt war, 1979 eine Abhandlung der Polin Irena Białówna.5 Andere Berichte sind kurz nach der Befreiung verfasst, aber erst später veröffentlicht worden, wie die Berichte der Häftlingsärztinnen Adélaïde Hautval und Sima Vaisman.6 Die Form von Perls Bericht erinnert stark an das ebenfalls 1947 erschienene Buch der slowakischen Häftlingsärztin Margita Schwalbová, die ihre Erfahrungen im Krankenrevier des Frauenkonzentrationslagers mit Portraits von weiblichen Häftlingen verknüpfte.7

In besonders enger Beziehung zu Gisella Perls Buch stehen die Memoiren von Olga Lengyel, die erstmals 1946 in Paris und anschließend in Chicago erschienen sind und bis heute nicht ins Deutsche übersetzt wurden.8 Die beiden Frauen arbeiteten zusammen auf dem Krankenrevier im Teillager B II c. Es ist gut möglich, dass sie beim Verfassen der Berichte miteinander in Kontakt waren, denn beide hielten sich im Jahr 1946 in Paris auf. Teilweise überschneiden sich die Inhalte ihrer Berichte stark, was angesichts des engen Zusammenlebens und -wirkens der beiden in der Krankenstation des Lagers B II c nicht verwundert. Gisella Perl stellt Olga Lengyel im Buch als Olga Schwartz vor und veränderte einige Fakten – möglicherweise aus literarisch-fiktionalen Gründen. Sie bezeichnet Olga Lengyel als ausgebildete Ärztin, während diese selbst immer sehr großen Wert darauf legte, dass sie lediglich eine medizinische Assistentin war, die jedoch viel Praxiserfahrung im Krankenhaus ihres Mannes Dr. Miklós Lengyel gesammelt hatte, der übrigens nicht, wie bei Perl erwähnt, in Bergen-Belsen überlebte, sondern auf dem Todesmarsch von Auschwitz-Monowitz ums Leben kam.9

Es ist anzunehmen, dass Perl die von ihr portraitierten Personen, darunter Olga Schwartz, weniger im Sinne von historischen Biographien angelegt hat, als vielmehr als Allegorien des Daseins im Lagers versteht, die sie zum Anlass nimmt, sich beispielhaft Themen wie Freundschaft, Lebenswillen, Überlebenskampf, Aufopferung, aber auch Verfall, Depression, Illusionen oder auch die Qualen von Müttern nach der Trennung von ihren Kindern anzunehmen.

Einen »connecting link« zwischen Gisella Perl und Olga Lengyel stellt Lujza Salamon dar, die wie Olga Lengyel aus Cluj stammte und ebenfalls als Häftlingspflegerin im Krankenrevier des Lagers B II c eingesetzt war. Sie floh im Januar 1945 gemeinsam mit Olga Lengyel vom Todesmarsch aus Birkenau, schlug sich dann in ihre Heimat durch und berichtete bereits im März 1945, noch vor Kriegsende, im »Haus der Flüchtlinge« in Bukarest von ihren Erfahrungen.10 In ihrem Bericht erwähnte sie Gisella Perl als »Dr. Krauss, die Leiterin der Frauenheilkunde« in B II c. Krauss ist der Name von Gisella Perls Mann und es ist gut möglich, dass sie in Birkenau auch unter diesem Namen bekannt war. Unterlagen der KZ-Verwaltung zu Gisella Perl konnten bisher nicht aufgefunden werden, was aber angesichts der in der letzten Phase nicht mehr durchgängig erfolgten Registrierungen bzw. der Vernichtung von Häftlingsunterlagen in der Endphase des Krieges nicht ungewöhnlich ist. Als »Dr. Gisi Perl« ist sie auf einer Liste von Juden mit rumänischer Staatsbürgerschaft notiert, die in Bergen-Belsen befreit wurden.11

Ich war eine Ärztin in Auschwitz

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