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8. Kapitel

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Line besuchte Frau Mu häufig in ihrer großen Küche. Die beiden hohen Sprossenfenster zum Hof, füllten den Raum mit so viel Licht, dass es keine dunklen, geheimnisvollen Ecken gab. Die blanken Kupfertöpfe hingen an langen Haken über dem Herd, und es duftete meistens nach gebratenem Fleisch oder frisch gebackenem Brot. Line bekam hin und wieder eine Scheibe davon, die Frau Mu sorgsam mit Sirup bestrich, der so braun war, wie Jauche.

Line kannte auch die winzige Küche von Fräulein Feurig mit dem viel kleineren Fenster zum Obstgarten, dessen knorrige Apfelbäume von dort oben wie auf die Hälfte geschrumpft aussahen. Bei Fräulein Feurig bekam Line immer ein halbes Glas Wasser aus einer geriffelten hellblauen Porzellankanne und manchmal ein Stück Würfelzucker aus einer runden Pappschachtel, die Fräulein Feurig in einem kleinen Schrank aufbewahrte, zu dem sie sich hinunter bücken musste, um ihn zu öffnen.

Aber die dunkle Küche, in die das tote Huhn verschleppt worden war, betrat Line nur noch ein einziges Mal.

Das war an einem regnerischen Nachmittag, als die Tür zum Hof offen stand.

Fritz, Lüders Cousin, lehnte am Türrahmen.

Line beachtete ihn nicht und schlenderte über den Hof, als er sie ansprach.

Darüber wunderte sie sich, denn er würdigte sie sonst keines Blickes.

Und nun stellte er merkwürdige Fragen, auf die sie gar nicht antworten wollte.

Für Line war er noch kein richtiger Erwachsener.

Er war aber auch kein Junge mehr, weil er die Schule schon verlassen hatte.

Er war etwas Undefinierbares, so etwas dazwischen.

Aber was wollte er von ihr?

Er mochte das Wetter nicht, weil es nieselte und er nicht mit seinem Fahrrad unterwegs sein konnte. Und während er das sagte, sah er Line immer wieder so merkwürdig an und trat immer wieder gegen den Türpfosten. Und dann wollte er plötzlich von Line wissen, ob ihr auch so langweilig wäre, und ob sie etwas spielen wollten.

Und dass sie dazu aber zu ihm in die Küche kommen müsste.

Er wüsste ein Spiel, dass sie bestimmt noch nicht kennen würde.

„Wo sind die anderen, wo ist Lüder“, wollte Line, etwas verlegen geworden, wissen.

Seine anscheinend ernst gemeinte Absicht, mit ihr spielen zu wollen, kam ihr sehr merkwürdig vor, und sie befand sich in einer unangenehmen „Situation“.

Und was für ein Spiel sollte das sein, fragte sie sich, weil sie doch alle Spiele längst kannte.

„Die kommen bald zurück, die sind nur kurz weg“, sagte er und grinste dabei.

Mit der beruhigenden Aussicht, nicht lange mit ihm allein zu sein, und auch ein wenig neugierig auf ein neues Spiel, betrat Line schließlich nach ihm die düstere Küche.

„Wir müssen unter den Tisch kriechen“, sagte er.

Line dachte sich nichts dabei, unter den Tisch zu krabbeln, obwohl sie es komisch fand, denn er war doch viel zu groß dafür, um wie ein kleines Kind auf allen Vieren zu spielen.

Sie fühlte sich mehr und mehr unbehaglich unter dem Tisch, in der ihr wenig vertrauten Küche. Aber um nicht als Spielverderberin zu gelten, tat sie, was er wollte und setzte sich umständlich zwischen die dicken, eckigen Tischbeine.

Er kroch ihr hinterher, hatte aber Probleme, unter dem Tisch genug Platz zu finden und stieß mit dem Kopf oben an. Mit angezogenen Knien und eingezogenem Kopf kauerte er sich neben Line und lachte schief.

Er roch merkwürdig.

Ein bisschen nach Schmutz und Öl und etwas bitter.

Line war sich jetzt überhaupt nicht mehr sicher, ob sie noch mit ihm spielen wollte, denn sein ganzer Körper, die Arme und die langen Beine unter dem Tisch so dicht neben ihr, waren ihr ziemlich unangenehm.

Am liebsten hätte sie diesen Platz verlassen und wäre weggelaufen.

„Jetzt musst du dich hinlegen“, sagte er und wiederholte es noch einmal, weil Line keine Anstalten machte, sich in der Enge auf dem Fußboden der Länge nach auszustrecken.

Er rückte umständlich etwas zur Seite.

Und dann drückte er ihren Oberkörper mit seiner flachen Hand und ein wenig Gewalt nach hinten, immer mehr und mehr, bis sie sich nicht mehr mit den Ellenbogen abstützen konnte und auf dem Rücken lag. Der Fußboden war eiskalt, aber Line blieb liegen und sah ihm, ohne eine Regung zu zeigen, ins Gesicht.

„Jetzt musst du deine Hose ausziehen, sonst können wir das Spiel nicht spielen“, sagte er, und das in einem Ton, als würde er es sehr bedauern, wenn sie es nicht täte.

Line war in einer „Situation“, in einer sehr unangenehmen Situation und verfiel in eine Art Starre. Warum wollte er, dass sie ihre Unterhose auszog, weswegen, das würde sie niemals tun, nein niemals! Sie begann, sich zu fürchten und sah jetzt an ihm vorbei, als würde sie darin eine Möglichkeit sehen, ihm zu entfliehen und fixierte mit den Augen den Küchentisch von unten, sah den breiten Kasten der Schublade im Dämmerlicht und die breiten Zwischenräume daneben, presste ihre Beine fest zusammen und rührte sich nicht.

„Soll ich dir helfen?“

Line schüttelte energisch den Kopf und starrte auch dabei noch unablässig auf das dunkle, raue Holz der Tischunterseite. Weil er versuchte, seine Sitzposition zu verändern, schaute sie nun aus den Augenwinkeln zu ihm und sah, dass er einen Stock in der Hand hatte und stellte fest, dass er ihr mit seinem Gesicht und dem Oberkörper noch näher kommen wollte, als plötzlich jemand laut kreischte.

Fräulein Feurig stand wie aus der Erde gestampft in der Tür.

„Was machst du Bengel denn da?“ Schrie sie.

Blitzschnell hielt Fritz den Stock hinter seinem Rücken versteckt und stotterte:

„Nichts, nichts, wir spielen nur.“

Fräulein Feurig war erstaunlich schnell und mit wenigen Schritten in der Küche, bückte sich, griff nach Line und zog sie mit Gewalt unter dem Tisch hervor.

Dann hielt sie sie mit beiden Armen fest umschlungen und starrte ihn fassungslos an.

„Spielen nennst du das?“

Line begriff nicht, warum sie nur böse auf ihn und nicht auch auf sie war, denn sie hatte doch mitgespielt, obwohl sie es dann aber überhaupt nicht mehr wollte.

Fräulein Feurig holte tief Luft und ihr Kinn bebte, als sie drohend zischte:

„Was hast du mit ihr gemacht?“

Und ohne seine Antwort abzuwarten, haspelte sie in Lines Ohr:

„Hat er dich angefasst, hat er dir wehgetan?“

„Er wollte mir ein neues Spiel zeigen, aber ich wollte meine Unterhose nicht ausziehen“, sagte Line ernst und erleichtert.

Blankes Entsetzen straffte Fräulein Feurigs Körper und ihr Gesicht wurde puterrot.

Sie baute sich vor Fritz auf und rief mit kreischender Stimme:

„Hab ich es mir doch gedacht, du Unhold, schämst du dich nicht, dich an kleine Mädchen heranzumachen, wage es nicht noch einmal, dann Gnade dir Gott, ich werde nachher mit deinen Eltern sprechen.“

Fritz stand mit hochroten Ohren da, schaute auf seine Füße und sagte kein Wort.

Und Line dachte, er soll sich schämen und ist ein Unhold, und ein Unhold ist doch etwas Schlechtes. Dann wollte er mit ihr kein schönes Spiel spielen, denn warum sonst wäre Fräulein Feurig so ärgerlich geworden, würde mit seinen Eltern sprechen wollen und hatte ihm dann auch noch mit dem lieben Gott gedroht. Jetzt bekam Line zwar ein mulmiges Gefühl, das aber nicht so schlimm war, wie das unter dem Küchentisch.

Und schon zerrte Fräulein Feurig Line hinter sich her, durch den Hof, zur Haustür hinein und stolperte mit ihr die Treppe nach oben.

Noch immer erregt, lieferte sie Line bei ihrer Mutter ab, die entsetzt die Augen aufriss, als Fräulein Feurig ihr so leise etwas ins Ohr flüsterte, dass Line es nicht verstehen konnte.

Auch die Großmutter erfuhr von dem Unhold, und im ganzen Dorf gab es entsetztes Getuschel über Lines grauenhafte „Situation“ unter dem Küchentisch, und die Gewissheit, wie so etwas Schreckliches „mitten unter uns“ geschehen konnte.

„Sie lag schon auf dem Fußboden, und mit einem Stock wollte er…, ein Segen, dass Fräulein Feurig rechtzeitig zur Stelle war und sie vor dem Schlimmsten bewahrt hatte“.

„Wehret den Anfängen“ mahnte die Großmutter und dass man „so etwas“ im Keim ersticken musste, rief der Pastor am Sonntag mahnend von der Kanzel.

Und Lines Mutter sagte: „Geh’ ihm aus dem Weg, er hat nichts Gutes im Sinn.“

Und Line wusste, dass nichts Gutes im Sinn etwas Böses im Sinn war, und wurde ängstlich. Trotzdem blieb sie neugierig wegen des Unterhosenspiels, dass sie nicht zu Ende gespielt hatten. Line wollte um ihn einen großen Bogen machen, aber dazu kam es nicht, denn der Unhold war wie vom Erdboden verschluckt. Er traute sich kaum noch aus dem Haus.

„Gottes Mühlen mahlen langsam, aber gerecht“, sagte drei Wochen später die Großmutter mit einer Genugtuung in der Stimme, die Line bei ihr so noch nicht gehört hatte.

Der geächtete Unhold war tot!

Er war nach einem Unfall mit seinem Fahrrad an der schweren Verletzung seiner Halsschlagader verblutet. Seine Helfer hatten ihm aus Verzweiflung noch eine Handvoll Heu auf die sprudelnde Wunde gepresst, weil nichts anderes da war. Aber das Blut hatte die Weide unter ihm unaufhaltsam, dunkelrot getränkt und ihn leblos und weiß wie ein Bettlaken zurückgelassen.

Line war von seinem Ableben wenig beeindruckt, insgeheim aber freudig erregt, weil sie wieder mit einem Begräbnis rechnen konnte. Doch Fritz wurde an einem Vormittag beerdigt, während Line in der Schule saß. Lüder fehlte an diesem Tag, und Line wusste, wo er sich aufhielt, war ein wenig neidisch und vermisste ihn.

Sie ging gern in die mit Kindern prallgefüllte Dorfschule, die auf einem großen, sandigen Schulhof stand. Und Line musste weit laufen, um zu dem riesigen, schwarzen Bretterverschlag zu gelangen, hinter dem sich die Plumpsklos, getrennt für Jungen und Mädchen, befanden, die schon von weitem fürchterlich stanken. In der Schule gab es vier große, helle Klassenzimmer. Von einem ging es durch eine breite, hohe Doppelglastür in den Lehrmittelraum, der stets abgeschlossenen war. Dort befanden sich einige verschieden große Gläser, in denen Gruseleien zur Ansicht in Spiritus schwammen. Eine verstorbene, giftige Kreuzotter und zum Vergleich eine harmlose Blindschleiche. Und ein nacktes Mausebaby, erschütterte immer wieder die Mädchenseelen.

Unter anderem schockten auch das menschliche Skelett, das in der Ecke stand und die unterschiedlichen Greifvögel, ein Eichelhäher, eine Eule und eine Menge kleiner Nager, die ausgestopft und aus blanken Glasaugen starrend, auf dicken Zweigen und lackierten Holzbrettchen saßen.

Die Landstraße hieß für Line nun schon lange auch „mein Schulweg.“

Was Line in der Schule nicht gefiel, dass war das wüste Gerangel und das Schubsen der Kinder auf dem Schulhof in den Pausen.

Ein einziges Mal hatte sie allen Mut zusammengenommen und einfach mal mitgeschubst und mitgerangelt, war dabei aber widerwillig in einen Pulk wild agierender Jungen geraten und bekam einen heftigen Faustschlag in den Magen, dass ihr Hören, Sehen und für entsetzliche Augenblicke das Atmen verging.

Seitdem stand sie immer etwas abseits, sozusagen in Sicherheit.

Aber das, wovor Line sich inzwischen zu schützen versuchte, geschah eines Morgens dann doch. Obwohl sich alle Kinder morgens nach Klassen sortiert in ordentlichen Reihen vor der großen Schultür aufstellen mussten und keinen Laut mehr von sich geben durften, bis der Lehrer mit strengem Gesicht und dem Blick auf seine Taschenuhr und dann auf seiner schwarzen Trillerpfeife das Signal gab, in die Klassen zu marschieren, wurde gleich wieder auf dem Flur, außer Sichtweite des Lehrers, gedrängelt und geschubst, und Line konnte nicht verhindern, dass sie zwischen die Großen und ihr kleiner Fuß unter den schweren Lederstiefel eines der rempelnden Jungen geriet.

Von den nachfolgenden Kindern wurde sie unaufhaltsam vorwärts gedrängt.

Line biss vor Schmerzen die Zähne zusammen, um nicht laut zu schreien.

Doch dann schossen ihr die Tränen in die Augen.

Ihr Fuß war ein einziger, brennender Schmerz!

Verzweifelt suchte sie nach einer Möglichkeit, aus dem Pulk herauszukommen und erreichte schließlich humpelnd ihren Platz.

Line weinte lautlos in sich hinein und hinunter zu ihrem Fuß.

Der Schmerz ließ langsam nach und wurde dann von einer pochenden Wärme durchflutet.

Aber die Tränen!

Line weinte und weinte und wurde mehr und mehr von einer grenzenlosen Traurigkeit ergriffen, die nichts mehr mit ihrem Fuß zu tun zu haben schien.

Ihr Kummer war nicht zu bremsen, und das alles noch völlig unbemerkt von Frau Beutel, der Lehrerin, kein Wunder, bei so vielen Kindern.

Erst als es Line schüttelte, als sie gequält schluchzte und Hanna gerufen hatte: „Line weint“, wurde Frau Beutel auf sie aufmerksam.

Schnell stand sie neben ihr.

Frau Beutels mitfühlende Frage brachte Line nun noch mehr aus dem Gleichgewicht und verschlimmerte ihren Zustand sogar noch.

Die große Sorge der Lehrerin war nicht zu überhören.

„Warum weinst du, was ist los, tut dir etwas weh?“

Dabei strich sie Line beruhigend über den Kopf, nahm sie an die Hand und mit sich nach vorn zu ihrem Stuhl neben dem Pult.

Sie setzte sich und zog Line auf ihren Schoß.

Alle Blicke waren nun auf sie und Frau Beutel gerichtet.

Und Line befand sich jetzt wieder mal in einer „Situation.“

Frau Beutel wiederholte ihre Frage noch einmal betont leise und ziemlich nah an Lines Ohr.

Der Tritt auf ihren Fuß war nun schon eine ganze Weile her.

Sie spürte nur noch die anhaltende Wärme und konnte doch jetzt unmöglich sagen, dass ihr ein großer Junge vor einer Ewigkeit mit seinem schweren Stiefel auf den Fuß getreten hatte.

Kein Mensch würde deswegen jetzt noch heulen.

Wie stünde sie denn da?

Jetzt ging es einzig und allein darum, das Gesicht zu wahren und nicht als wehleidige Heulsuse ausgelacht zu werden.

Und deshalb musste ihr jetzt rasch etwas einfallen.

Etwas, das schockte und so richtig schlimm war und Grund genug für viel Mitleid, um ihre Heulerei zu rechtfertigen.

Am besten eine richtige Krankheit, dachte Line.

Und ihr fiel etwas ein.

Dazu holte sie ganz tief Luft, hielt den Atem an, legte den Kopf mit schmerzverzerrtem Gesicht ein wenig auf die Seite und hob die Hand an die Stirn, um zu demonstrieren, wie katastrophal ihr gesundheitlicher Zustand war.

Die andere Hand sackte kraftlos auf die Brust.

Und nun klagte Line mit nur noch einem Hauch von einer Stimme über „starke Herzschmerzen.“

Frau Beutel riss die Augen auf.

„Herzschmerzen, du hast Herzschmerzen?“

Sie stellte Line neben sich, ohne sie loszulassen und wurde hektisch, als galt es, bloß keine Zeit zu verlieren. Frau Beutel hatte ein besorgniserregendes Gesicht, und in der nächsten Sekunde schien sie sich an die „Erste Hilfe für ganz schwere Fälle“ zu erinnern.

Line begriff nicht so schnell, wie ernsthaft krank sie in Frau Beutels Augen war, als sie auch schon in deren dunkelgrünen Mantel gehüllt, lang ausgestreckt, auf dem Fußboden lag und unter ihre Beine einige Schulbücher geschoben wurden, damit sie höher lagen, als ihr Kopf.

Sie flüsterte dicht an Lines Ohr noch, bleibe bitte so liegen, bevor sie ihr schmales Handgelenk zwischen ihren Fingern hielt. Mit leerem Blick sah sie durch die Fensterfront auf das hellrote Ziegeldach vom Haus des Schusters und bewegte leicht die Lippen. Nach kurzer Zeit schien sie schon etwas beruhigter zu sein.

Von einem der Kinder ließ sie nach einem Lehrer schicken, um ihre Klasse nicht unbeaufsichtigt zu lassen, während sie sich um Line bemühte und sie dann samt Mantel waagerecht auf ihre Arme nahm.

Und sehr, sehr leidend, ließ Line sich nun völlig gehen.

Als wäre sie aus Gummi, so ließ sie sich von Frau Beutel den nicht kurzen Weg in die Wohnung der Großeltern schleppen.

Frau Beutel atmete inzwischen schwer, als sie Line auf dem sandfarbenen Plüschsofa der Großmutter ablegte. Die Sorge um Line kroch die Wände hoch, nachdem Frau Beutel Nase an Nase mit Lines Großmutter geflüstert hatte.

Um als leibliche Verwandte nicht tatenlos herumzustehen, lagerte die Großmutter Line auf ihrem besten Samtkissen noch weicher.

Inzwischen war auch die Hausbesitzerin, Frau Klemm, zur Stelle.

Aufgescheucht von dem ungewohnten Trubel in ihrem sonst eher ruhigen Haus, drängte sie sich neugierig an Lines Lager und sah sie dann doch sehr besorgt an.

„Sie klagt über Herzschmerzen“, hauchte die Großmutter bestürzt.

Frau Klemms Gesicht bestätigte, dass es hier eine Krise gab, die sie erfahrungsgemäß schnell in den Griff bekommen würde.

Sie machte auf dem Absatz kehrt und wisperte:

„Ich bin gleich wieder da.“

Lines Hand lag indessen noch immer wie festgewachsen auf ihrer Brust.

Wo ihr Herz hinter den Knochen schlug, wusste sie nicht so genau, aber die Richtung schien zu stimmen. Sie hielt die Augen nicht ganz geschlossen und schaute durch den winzigen Spalt in das Gesicht ihrer Großmutter.

Und nun, nun machte sich Line Sorgen um sie.

Wie ernst und kummervoll die braunen Augen der Großmutter auf ihr ruhten.

Es schien sogar, als würden sie in Tränen schwimmen.

Doch Line genoss die Wichtigkeit um ihre Person sehr, wenn auch schon mit einem Anflug von Schuldgefühlen des jetzt unnötigen Gehabes wegen der Sache, von der nur sie wusste, dass sie nicht so war, wie sie schien.

Line signalisierte ihrer Großmutter jetzt mit einem leisen Stöhnen, dass dieser „Herzanfall“ der sie völlig unerwartet aus der Schulstunde gerissen hatte und sie nun geschwächt auf das Plüschsofa drückte, etwas ganz anderes war, als ihre sonstigen Ohnmachtsanfälle in ausweglosen „Situationen“, an die die Großmutter sich längst gewöhnt und aufgrund medizinischer Aufklärung, dass sie harmlos waren und sich mit der Zeit verwachsen würden, nicht mehr beachtet hatte.

Und da es für Line jetzt sowieso kein Zurück mehr gab, spielte sie ihre Rolle glaubwürdig weiter. Mit nun fest geschlossenen Augen „ruhte“ sie.

Frau Klemm kam zurück und huschte neben Lines Großmutter.

In ihrer Hand hielt sie ein kleines Glas, in dem eine schlammige Flüssigkeit schwappte.

Fleetwasser, das ist ja schmutziges Fleetwasser, dachte Line erschreckt.

Voller Stolz nickte Frau Klemm in das Gesicht der Großmutter und flüsterte:

„Rotwein mit Eigelb und Zucker, das hilft immer.“

Das kleine Glas wanderte nun wie ein Schatz aus Frau Klemms Hand in die Hand von Lines Großvater, der im Hintergrund auf seinen Einsatz gewartet hatte und die Frauen erst mal hatte machen lassen, so, wie er es gewohnt war.

Lines Großmutter dankte mit: „Ach, das ist aber wirklich rührend von ihnen.“

Der Großvater schob seine Hand unter Lines Rücken und richtete sie ein wenig auf, damit sie sich beim Trinken nicht verschlucken konnte.

Sie war schließlich völlig entkräftet.

Line öffnete nur wenig den Mund und trank leidend, mit geschlossenen Lidern und hängenden Armen den ersten Schluck Rotwein ihres Lebens.

Und das in der Erwartung, etwas ganz, ganz Köstliches zu bekommen und mit der zufriedenen Feststellung, dass sich das ganze Theater schon deshalb gelohnt hatte.

Doch über Lines Zunge ergoss sich etwas außerordentlich Widerliches.

So scheußlich schmeckte Rotwein?

Rotwein, den Rotkäppchen ihrer kranken Großmutter gebracht hatte?

Wie gemein vom Rotkäppchen, dachte Line.

Erneut hielt der Großvater ihr das kleine Glas an die Lippen.

Sie schluckte voller Ekel und verzog das Gesicht.

Das ist die gerechte Strafe, dachte sie, presste die Lippen aufeinander und schüttelte den Kopf. Aber der Großvater gab nicht nach und sagte mit sanfter Stimme: „Trink, es sind nur noch wenige Schlucke, dann hast du es geschafft.“

Mit dem letzten Schluck trank Line sich in einen angenehmen Schwindel und ließ sich benommen in die Kissen fallen. Schon fest eingeschlafen, spürte sich nicht mehr, wie die Großmutter ihr sorgsam die braune Wolldecke bis an das Kinn zog und sie rechts und links so feststeckte, dass Line sich nicht hätte bewegen können, wenn sie dazu in der Lage gewesen wäre. Dr. Lenz wurde nicht gerufen, aber die Großmutter hatte nach Lines Mutter geschickt.

Die saß neben Line auf dem Sofarand, als sie nach einigen Stunden herrlichen Tiefschlafes die Augen aufschlug und sich wohlig reckte und streckte, weil sie längst vergessen hatte, dass sie „herzkrank“ spielen musste. Sie fand jedoch schnell zu ihrer Leidensmine zurück und hörte die Stimme ihrer Mutter:

„Na, du machst ja Sachen, möchtest du mir erzählen, was los war?“

Das wollte Line überhaupt nicht und schaute an ihrer Mutter vorbei gegen die romantische Blümchentapete an der Wand neben sich.

Ihre Mutter kam nun dicht an sie heran und legte ein Ohr auf ihre Brust.

Sie will hören, ob mein Herz noch schlägt, dachte Line.

Genau wie Frau Beutel es getan hatte, befühlte auch ihre Mutter ihr Handgelenk, nickte und lächelte zufrieden.

„Was meinst du, schaffst du es, mit meiner Hilfe aufzustehen und mit mir nachhause zu gehen? Ich denke, die frische Luft wird dir gut tun.“

Mit schwacher Stimme hauchte Line ein „Ja“ und erhob sich umständlich. Sie schwankte in die Arme ihrer Großmutter und lief wenig später Rotwein erfahren und plappernd neben ihrer Mutter her, froh darüber, dass ihr keine weiteren Fragen gestellt wurden und sie noch ein weiteres Geheimnis geheim halten konnte.

Kuckucksspucke

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