Читать книгу Kuckucksspucke - Gloria Fröhlich - Страница 12

10. Kapitel

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Imkes große Schwester hieß Frauke.

Sie trug noch Zöpfe, hatte aber schon ziemlich spitze Brüste.

Eines Tages gellten Schreie durch den Garten und schreckten die Bewohner in dem Haus von Frau Mu auf, so dass sie ihre Tätigkeiten unterbrachen und sich davon überzeugten, dass kein Mord geschehen war. Auch Line lief die Treppe nach unten und sah, dass Imkes Vater Frauke auf seinen Armen durch die geöffnete Tür und mit dem Kopf voran durch die Wolldecke schob und in die Wohnung trug und mit seinem Fuß die Tür zuschmiss, dass es laut krachte.

Frauke war kreidebleich gewesen, hatte abwechselnd mit schmerzverzerrtem Gesicht geschrieen und gestöhnt, wobei sie beide Hände auf den Bauch gedrückt hielt.

Verstört ging Line die Treppe nach oben und in die Küche zu ihrer Mutter und hörte gerade noch, wie die Großmutter mit einem Achselzucken feststellte, dass es bei dem Mädchen nun auch schon „soweit“ sei. Und Lines Mutter sagte:

„Das Alter hat sie, und dafür ist sie auch schon ganz erstaunlich entwickelt“.

Als sie Line bemerkten, beeilte sich die Großmutter über die Schulter hinweg, zu erklären: „Frauke hat schreckliche Kopfschmerzen, das geht nach ein paar Tagen vorbei“.

Line schrieb sich hinter die Ohren, dass man erst spitze Brüste bekommt, dann Kopfschmerzen, sich aber nicht den Kopf, sondern den Bauch hält und wie am Spieß erst brüllt und dann stöhnt, wenn man das Alter dafür hat und schon erstaunlich entwickelt ist.

Und davor hatte sie jetzt ziemliche Angst.

Es beruhigte sie aber, als Frauke am nächsten Tag nicht mehr schrie, zwar noch etwas blass, aber sonst unversehrt war und zwei ausgeleierte Schlüpfer mit eigensinniger Zwickelfarbe an der Wäscheleine befestigte, wobei sie sich auf die Zehenspitzen stellen und sich dann trotzdem noch unsagbar recken musste.

Line ging ein wenig später mit ihrer Mutter und Großmutter an der Wäscheleine vorbei, und die Großmutter empörte sich kopfschüttelnd mit Blick auf die Schlüpfer von Imkes Schwester:

„Nun sieh doch, wie kann man nur“.

Und Line wusste nicht, was sie meinte mit „wie kann man nur“ und wurde nun erst recht neugierig, weil die Großmutter nun alles darauf anlegte, Line den Anblick auf die Schlüpfer zu ersparen und ihr den Kopf nach vorn drehte und sich damit beeilte, sie so schnell es ging, mit ins Haus zu nehmen.

Es gab Kartoffelsuppe und Blutwurst, die in einer schwarzen Bratpfanne auf dem Bollerofen, dessen Ofenrohr durch die untere Scheibe des Fensters nach draußen ging, gebraten wurde, und der durch die Hitze die schon krosse Haut ein ganzes Stück weit aufplatzte.

Seitdem Lüder und Line Verliebte waren, ließ Lüder Line nicht mehr aus den Augen und hatte dann auch das normale Imponiergehabe, das Line allgemein von Jungen kannte. Die taten sich immer wichtig und machten komische Sachen, damit Line und die anderen Mädchen hinsahen. Und wenn sie hinsahen, dann machten sie nur noch schlimmere und manchmal sogar richtig gefährliche Sachen.

Wenn Line das einzige Mädchen in der Nähe der Jungen war, sah sie immer nur ganz kurz und mehr aus dem Augenwinkel heraus hin, damit es kein Unglück gab.

Und komische Sachen machte auch Lüder an einem sonnigen, aber noch sehr kühlen Frühlingstag. Er zog seinen Pullover und sein Unterhemd aus, ohne den Blick von Line zu wenden, die nicht glauben wollte, was er da für einen Quatsch veranstaltete.

Seine mutige Entkleidung nannte er stolz „oberkörperfrei“.

Auf Lines erstaunte Frage: „Frierst du nicht“, antwortete er entschieden: „Nein, mir ist sogar richtig heiß“.

Für Line war es unvorstellbar, dass Lüder nicht zähneklappernd das spürte, was sie mit abschätzendem Blick feststellte. Lüders magerer, kalkweißer Körper war innerhalb von wenigen Sekunden mit einer pickligen Gänsehaut überzogen.

Doch dann änderte sie schnell ihre Meinung wegen seines Leichtsinns und fand seine Aktion außerordentlich mutig, so dass sie ihm lächelnd zurief, dass er nicht zimperlich sei, sondern sich etwas traute, was sie sich niemals trauen würde und er richtig etwas aushalten konnte.

Lüder genoss Lines Bewunderung und setzte dem Ganzen noch die Krone auf, indem er auch noch ohne sich hinzusetzen, abwechselnd von einem Fuß auf den anderen hüpfte und mit schnellen Verrenkungen Schuhe und Strümpfe auszog, die er weit weg schleuderte, als würde er sie nie mehr brauchen. Den Rest des Nachmittags sprang er oberkörperfrei und barfuss herum. Erst abends sammelte er seine Sachen ein und verschwand im Haus.

Am nächsten Tag fehlte Lüder in der Schule und kam nachmittags nicht nach draußen zum Spielen.

Line vermisste ihn.

Sie ging vor sein Küchenfenster, rief laut seinen Namen und erfuhr aus dem flüsternden Mund seiner Mutter durch das nun nur wenig geöffnete Fenster von den schrecklichen Halsschmerzen und dem hohen Fieber, die Lüder an das Bett fesselten.

Line war in großer Sorge um ihren Freund.

Sie ahnte, dass „oberkörperfrei“ etwas damit zu tun haben musste.

Einige Tage später erfuhr Line, dass sich bei Lüder ein schlimmer Husten eingestellt hatte, und dann bedrohte eine Lungenentzündung sein Leben.

Diese Hiobsbotschaft von Dr. Lenz erschütterte Line und alle Bewohner im Haus von Frau Mu bis ins Mark. Line erschrak heftig, als sie erfuhr, dass Lüder sogar sterben könnte.

Dr. Lenz kam täglich, um nach dem schwerkranken Lüder zu sehen, und er streichelte Line über den Kopf, die vor der Tür auf ihn wartete und sofort wissen wollte, ob es Lüder schon besser ginge als am Tag zuvor. Und voller Sorge bat sie Dr. Lenz, ihr zu versprechen, dass Lüder wieder gesund werden würde. Dr. Lenz hob die Schultern und sagte: „Er hat immer noch Fieber, wir müssen uns noch ein paar Tage gedulden, der kritische Tag kommt erst noch, er ist sehr schwach“.

Line war den Tränen nahe.

Aber Lüder war nicht tot zu kriegen.

Er überstand die schwere Erkrankung, und nach einigen Wochen wagte er sich auf wackeligen Beinen und dünn wie ein Gespenst an der Hand seiner Mutter zum ersten Mal wieder in die Sonne. Line war sofort an seiner Seite und heilfroh, dass Lüder dem Tod von der Schippe gesprungen war, wie die Großmutter es nannte, dass er nicht gestorben war. Und Line wusste jetzt, dass der Tod nicht nur eine Sense, sondern auch eine Schippe hatte, aber immer noch nicht, wozu er eine Sense brauchte.

„Oberkörperfrei“ wiederholte Lüder im nächsten und übernächsten Frühling vor Sehnsucht nach Lines Aufmerksamkeit und Anerkennung erneut, bekam wieder Halsschmerzen und Husten, aber keine Lungenentzündung, und Lines Sorgen um ihn wurden von seiner Mutter mit einem resignierenden Achselzucken und dem Satz: „Unkraut vergeht nicht“, geschmälert.

Für Line war Lüder aber keineswegs Unkraut.

Sie verließ sich auf seine robuste Gesundheit und wartete geduldig, bis er das Krankenlager verlassen konnte. Und eines Nachmittags machte Line ihn insgeheim zu ihrem Helden.

Denn als sie auf dem Steg saßen und mitten im Fleet eine Schwalbe ins Wasser fiel, weil sie auf der Jagd nach Mücken zu tief geflogen und mit dem Wasser in Berührung gekommen war, zögerte Lüder keine Sekunde, als er sah, wie der kleine Vogel um sein Leben kämpfte. Langsam, Vögel sind schreckhaft, ließ er sich vom Steg ins Wasser gleiten und ging wie in Zeitlupe auf die zappelnde Schwalbe zu. Er formte seine Hände zu einer flachen Schale, schob sie unter das Vögelchen und hob es aus dem Wasser in die Höhe. Aus seinen Händen lief das Wasser an seinen nackten Armen herunter, hinein in die aufgekrempelten Ärmel seines karierten Flanellhemdes. Die kleine Schwalbe saß völlig erschöpft und nass, aber gerettet, in seinen warmen Händen.

Lüder sprach leise auf sie ein, und nach einer Weile flog sie aus eigener Kraft davon.

Lüder war zur Hälfte bis auf die Haut nass und lächelte Line an.

Es war sehr warm, die Sonne würde noch bis in den Abend hinein scheinen.

„Es ist schön kühl, die Sachen trocknen an meinem Körper“, sagte er und blinzelte dabei in den grellen Himmel, als Line ihn fragte, ob er sich nicht umziehen wollte.

Es wurde brütendheiß und die Hitze unerträglich.

Line und Lüder hielten sich dann am liebsten auf dem Steg am Fleet auf und badeten lange allein, bevor die anderen Kinder dazukamen. Line konnte noch nicht schwimmen und sträubte sich energisch, es sich von Lüder noch einmal nach seiner ausgeklügelten Methode beibringen zu lassen, denn dabei war sie wieder einmal in eine „Situation“ geraten.

Er hatte bis zur Brust im Fleet gestanden und Line waagerecht auf seinen vorgestreckten Armen ins Wasser gehalten, damit sie das, was sie unter seiner Anleitung vorher bäuchlings auf dem warmen Gras der Weide geübt hatte, im Wasser wiederholen konnte.

Durch ihre Schwimmbewegungen, die eher aus Angst als aus überzeugtem Eifer viel zu heftig ausfielen, wurde es für Line auf Lüders Armen ziemlich wackelig, und ihre Befürchtung, die sie ihm mit kreischender Stimme zurief, der Länge nach seitlich von seinen Armen ins Wasser zu rollen, von ihm durchaus nachvollziehbar.

Aus diesem Grund zog er sie näher und höher an sich heran.

Dabei befand sie sich jedoch zu wenig im Fleet, und ihre Arme und Beine machten „den Frosch“ zum größten Teil in der Luft.

Damit waren beide unzufrieden, war es doch wenig sinnvoll.

Danach hielt Lüder sie wieder wie vorher auf seinen ausgestreckten Armen.

Vielleicht wurde Line ihm dann zu schwer oder seine „Bizeps“, auf die Line in letzter Zeit häufig drücken musste, um ihm zu bestätigen, dass sie hart wie Stahl waren, hielten doch nicht das, was sie versprachen, und Lines Befürchtung wurde zur bitteren Wirklichkeit.

Kaum hatte sie begriffen, was mit ihr geschah, war sie blitzschnell aus seiner Hilfestellung gerollt. Sie ruderte wie wild mit Armen und Beinen, griff ins Leere und wurde im Nu in waagerechter Lage vom Wasser verschlungen.

Für Line folgten wahre Schrecksekunden, in denen sich ihre Ohren, Nase und Mund glucksend und sprudelnd mit Wasser füllten. Um nicht noch mehr Wasser zu schlucken, presste sie ihre Lippen fest zusammen, und auf schnelle Hilfe hoffend, spürte sie endlich Lüders Hände unter den Armen, die sie mit sicherem Griff senkrecht nach oben stemmten und ihren Kopf voran, aus dem Wasser schnellen ließen.

Prustend, hustend und nach Luft schnappend, umklammerte sie Lüder mit Armen und Beinen, als wollte sie ihn nie wieder loslassen.

Lüder fühlte sich wegen Lines Umklammerung sichtlich wohl in seiner Haut.

Er hielt sie fest in den Armen, watete mit großen Schritten durch das wogende Wasser zum Ufer und setzte sie auf den von der Sonne erwärmten Holzsteg, auf dem die nassen Reste ihres Wasserkampfes sofort große, dunkle Flecken malten.

Lüder hätte Line gern noch tausendmal gerettet.

Sie erholte sich nur langsam und ohne Worte von dem Schock.

Lüder setzte sich neben sie, redete beruhigend auf sie ein und wagte es tatsächlich mit: „Gleich noch einmal versuchen und das schaffst du mit meiner Hilfe, das ist eigentlich ganz einfach“, ihr gerade erschüttertes Verhältnis zu dieser Disziplin noch zusätzlich zu strapazieren. Line schüttelte energisch den Kopf, der ihr noch immer ein dumpfes Gefühl durch das Wasser in ihren Ohren gab. „Stelle dich hin, hüpfe auf einem Bein und halte den Kopf schief, dann läuft das Wasser raus“.

Das war dann auch alles, was er bei Line noch erreichen konnte.

Lüder meinte es wirklich gut mit ihr, aber Line auch mit sich, und deshalb verweigerte sie jeden weiteren Versuch.

An anderen Tagen ließen Line und Lüder lediglich ihre Beine bis zu den Knien im Wasser zappeln. Das Ufer auf der anderen Seite des Fleetes blieb für Line wie ein anderer Erdteil, und sie saß dann lieber als Nichtschwimmerin dicht neben Lüder auf dem Steg und schaute den anderen Kindern dabei zu, wie die sich mit einem aufgepumpten, riesigen dicken, schwarzen Gummischlauch aus dem Innenleben eines großen Treckerrades im Fleet vergnügten und sich abmühten, an dem schilflosen, lehmig glitschigen Ufer nach oben auf die Weide zu gelangen, auf der immer eine große Herde schwarz weiß gefleckter Kühe graste. Und wo Kühe waren, da waren auch meistens Bremsen, vor denen nicht nur die Kühe, sondern auch alle Kinder großen Respekt hatten und vor diesen Blutsaugern auf der Hut waren. Trotzdem wurde Line eines Nachmittags von so einer hellgrauen Bestie in die Kniekehle gestochen. Der Stich juckte fürchterlich, tat weh und tagelang ging Line mit einem steifen Bein herum, das sie wegen der enormen Schwellung nicht mehr beugen konnte. Lines Mutter kühlte den Bremsenstich jeden Tag mit Essigsaurer Tonerde aus der Apotheke. Dazu hatte sie einen Wickel mit der kühlenden und entzündungshemmenden Flüssigkeit getränkt und um Lines Knie gewickelt. Es hatte mindestens eine Woche gedauert, bis Line das Knie wieder knicken richtig konnte.

Lüder fand es nicht weiter tragisch, dass Line nun nicht mehr Schwimmen lernen wollte, verzichtete selbst gern darauf und blieb bei ihr. Die Sonne sprenkelte helle Flecken auf ihre gebräunte Haut, und sie kitzelten sich mit einem langen Grashalm in den Ohren, und Lüder sah sie von der Seite an und sagte: „Weißt du, dass keine so eine kleine Nase hat, wie du? Du kannst nie auf die Nase fallen, du fällst immer gleich auf’s Gesicht!“

Line glitt dann verschämt und mit heimlicher Freude vom Steg, stand bis zur Brust im Fleet und fühlte sofort den Schlick, der sich wie Brei zwischen ihre Zehen drückte, erinnerte sich dann entsetzt an die Wollhandkrabben, die dort unten wuselten und sprang schnell zurück auf den Steg ganz dicht neben Lüder, der sofort schützend seinen Arm um ihre Schultern legte.

Kuckucksspucke

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