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3. Kapitel

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Line traf Ome nie wieder in der Nähe des Fleetes und sah ihn auch sonst nur hin und wieder

in beruhigender Entfernung im Hof des Verrücktenheimes, in das sie nun immer seltener ging.

Den nächsten Tag verbrachte sie bei den Großeltern, denn ihre Mutter war mit dem Zug in die Stadt gefahren, um Besorgungen zu machen.

„Besorgungen“, so etwas gab es in dem Dorf nicht, wusste Line, dass das ganz besondere Dinge waren, die für große Überraschungen sorgten, und auf die Line dann sehr gespannt bis zum Abend warten musste.

Bei den Großeltern war es wichtig, sich zu benehmen, denn die Großmutter beobachtete immer mit Argusaugen, wie Line sich verhielt, wie sie sprach, ob sie höflich war, und ob sie die Tischmanieren beherrschte, damit sich die Großmutter nicht für sie schämen musste.

So wurden die Mahlzeiten mehr eine Lektion als eine Nahrungsaufnahme.

Dieses Mal wurde der Lernprozess etwas aufgelockert, als der Großvater fragte, warum die süßsauer eingelegten Bohnen anders als sonst, mit Kümmel zubereitet worden waren, während er das Gewürz im vorderen Zahnbereich geschickt halbierte und viertelte.

Die Großmutter verneinte erstaunt und inspizierte sofort ungläubig die Bohnen in dem Schälchen, dass sie nun in den Händen und bis an ihre Nasenspitze hielt und rief: „Das ist kein Kümmel, Otto, das sind ja Ameisen, du meine Güte, wie kommen die denn da hinein!“

Sie sprang auf, lief zu der Speisekammer, riss die schmale hohe Tür auf und räumte mit enormer Schnelligkeit die Regale leer. Alles lag oder stand wenig später auf dem Küchentisch. Aus einem Stück Streuselkuchen, das von der Großmutter mit spitzen Fingern gehalten und von Line optisch für Mohnkuchen gehalten wurde, krabbelte es zum Entsetzen der Großmutter so heftig dunkelbraun, dass es mit dem Ausruf: „Nun seht euch das an, schade um die schönen Zutaten“, in hohem Bogen in den Mülleimer flog, wie so vieles andere auch noch. Vor Line stand das große Glas mit den eingelegten Bohnen, und sie empfand Mitleid mit den darin leblos schwimmenden Ameisen, die zwischen den Brechbohnen in der Marinade ums Leben gekommen waren, was die Großmutter genau so schockte, wie die Tatsache, in ihren eigenen vier Wänden wahrscheinlich von einer ganzen Horde Ameisen überfallen worden zu sein, dass sie ihnen mit allen Konsequenzen den Krieg erklärte.

So opferte sie ein Päckchen Dr. Oetkers Backpulver, schnitt von der Tüte eine Ecke ab, so dass ein winziges Loch entstand und malte mit dem weißen Pulver lange Striche auf die abgeräumten Bretter der Speisekammer. Zusätzlich stellte sie noch zwei Schälchen mit Zuckerwasser auf, in denen „die“ Ameisen dem Tod durch Ertrinken anheim fallen sollten, die das Backpulver listig umkrabbeln würden.

Als Lines Mutter aus der Stadt zurückkehrte, war es schon dunkel, und der Skandal, den sich die Ameisen in der Speisekammer geleistet hatten, war noch nicht verflogen und waberte in Abständen, von der Großmutter immer wieder entrüstet erwähnt, wie der „männlich“ duftende, hellblaue Qualm, den die Großmutter so liebte, aus der Pfeife des Großvaters, durch das Wohnzimmer.

Was dann aus der großen, hellbraunen Ledertasche vor Lines und den Augen der Großmutter auf dem runden Tisch im Wohnzimmer ausgebreitet wurde, lenkte dann von dem leidigen Thema ab. Die Großmutter musterte alles genau, und dann bejubelte sie die hübschen Taschentücher mit dem feinen, handgerollten Rand, auf den sie Line sofort aufmerksam machte, dass der ein gutes Beispiel dafür wäre, wie pikobello eine Handarbeit auszusehen hätte, auch von hinten! Und Line wusste genau, warum sie das sagte.

Die Großmutter befühlte sorgsam die dunkelblaue Wolle für Lines Strickjacke auf Qualität und nickte zufrieden. Line bekam schlichte weiße Kniestrümpfe, die nicht wie die aus hartem Baumwollgarn gestrickten, das aufwendige Lochmuster deutlich in die Haut ihrer Füße drücken und schon nach kurzer Zeit einen unerträglichen Juckreiz auslösen würden. Für Line war auch der wasserblaue Stoff mit zarten, pastellfarbigen Streublümchen für ein neues Kleid, den die Großmutter immer wieder wohlwollend durch ihre Hände gleiten ließ.

Und unbeschwert erkundigte sie sich, ob das Geld, das sie Lines Mutter für die Einkäufe zugesteckt hatte, auch wirklich ausgereicht habe.

Und Lines Mutter nickte.

Dass Lines Mutter für sich und Line aufwendig nähte, strickte, smokte und häkelte, blieb nicht unbemerkt und wurde von beinahe allen Dorfbewohnerinnen bestaunt und vielleicht hin und wieder sogar neidisch beäugt.

Um den Mangel, den es zweifellos in der Beziehung in den umliegenden Dörfern gab, auszugleichen, trauten sich einige Frauen zu fragen, ob auch sie in den Genuss solch wundervoller Handarbeiten kommen könnten.

Natürlich gegen Bezahlung, das sei doch selbstverständlich.

Häufig vielleicht sogar auch in Naturalien, denn Speck und Eier wären in finanzieller Not hilfreich und ein deftiger, gut geräucherter Wurstkringel vom Bauernhof geschmacklich auch nicht zu verachten. Das aber lehnte Lines Mutter mit großartiger Diplomatie mehr oder weniger erfolgreich ab, wie sich mit der Zeit herausstellte.

Nach konkreten Absprachen mit ihren neuen Kundinnen, erlebte Line ihre Mutter zukünftig häufig zwischen Ballen lebhaft bedruckter Baumwollstoffe im Frühling, wollenem Tuch in den Wintermonaten und mit einer Menge Stecknadeln zwischen den Lippen und dann auch mal auf allen Vieren um dünne und dicke Frauenbeine kriechend, um die Säume an Kleidern, Röcken und Nachthemden abzustecken.

Selbstverständlich hätte Lines Mutter lieber in ihrem medizinischen Beruf gearbeitet, aber da das aus organisatorischen und auch geografischen Gründen nicht möglich war, machte sie das Beste draus, freute sich über jeden Auftrag und hatte sogar manchmal wirklich Spaß an der vielen Arbeit, besonders wenn ihr etwas besonders gut gelungen war und sie mit Lob überschüttet wurde.

Nur nicht in der heißen Jahreszeit.

Da beklagte sie den strengen Geruch, der den Achselhöhlen entwich, wenn sie an transpirierenden Oberkörpern arbeitete, die gerade vom Bohnenhacken auf dem Feld oder vom Melken kamen, wenn sie Abnäher absteckte, Röcke an die Oberteile heftete und Kragen an- und Ärmel einsetzte.

Auch im Verrücktenheim gab es für Lines Mutter genug zu tun.

Da ging es meistens nur um Säume und lange oder kurze Abnäher.

„Alte Menschen werden dünner und schrumpfen, so ist es nun mal“, sagte die Großmutter.

Aber nicht nur die Arbeit lockte Lines Mutter ins Altenheim, sondern auch die angebotene Möglichkeit, dass Line dort mitessen durfte.

Für die vielen Bewohner war genug Essen da, und es gab reichlich Reste.

Um satt zu werden, hatte Line dann aber zwangsläufig auch etwas mit Trine zu tun.

Trine war eine erwachsene Frau mit der Gesichtsfarbe eines in der Sonne prächtig gereiften Apfels. Sie hatte rotblonde Locken und eine immer währende gute Laune, die ihr das Leben zu einem wahren Vergnügen zu machen schien und sie ununterbrochen lächeln ließ.

Fragte Line: „Trine, wo willst du hin“, dann antwortete sie lachend: „Allerwohin!“

Nicht nur für Line war es ein Heidenspaß, immer, wenn sie Trine traf, ihr mindestens viermal hintereinander diese Frage zu stellen.

Und Trine wiederholte dann zu Lines großem Vergnügen ihre immer gleiche Antwort mit der immer gleichen, geduldigen Freundlichkeit: „Allerwohin!“

Eines Tages erzählte Line ihrer Mutter davon, weil es sie interessierte, ob auch sie annahm, dass Trine vielleicht ein wenig verrückt sei, weil sie immer die gleiche Antwort gab.

Lines Mutter sah sie amüsiert an und sagte belustigt: „Du stellst ihr doch auch immer die gleiche Frage, bestimmt denkt sie das gleiche auch von dir!“

Line fragte Trine nie wieder, um zu vermeiden, dass Trine denken könnte, sie habe es bei ihr mit einem Kind zu tun, das nicht ganz richtig im Kopf sei.

Trine holte Line meistens mittags zum Essen ab.

Mit sehr gemischten Gefühlen ging sie mit und dann neben der einfältigen Trine her. Durch die beiden großen Gärten, unter den knorrigen Obstbäumen hindurch, stolpernd über dicke Grasbüschel und dann auf dem Trampelpfad an den vielen Schuppen vorbei bis zum Altersheim.

Trine blieb jedes Mal stumm, lächelte aber vergnügt vor sich hin, lachte einige Male sogar plötzlich begeistert laut auf und klatschte dabei in die Hände.

Einige andere Kinder saßen längst schon an dem großen Tisch, wenn Trine Line bis in die Küche brachte. Um dorthin zu gelangen, gingen sie zwei Steinstufen nach oben und dann durch die Hintertür des Altersheims den langen, dunklen, aber breiten Flur entlang. Von hier aus ging eine Tür in den großen Raum mit vielen dicht beieinander stehenden dunkelbraunen Tischen und Stühlen. Dort aßen die Alten ihre Mahlzeiten. An der rechten Flurwand führte eine Treppe nach oben. Unter der Treppe stand ein langer, schmaler Tisch, auf dem in mehreren Reihen goldfarbene Blechdosen standen, die diesmal mit Grießbrei gefüllt, köstlich dufteten. Schon bevor Line an diesem Tisch vorbeikam, konnte sie riechen, was es zu essen gab.

An der gegenüberliegenden Wand standen einfache Holzbänke ohne Lehnen.

Die alten Männer und Frauen waren ausnahmslos dunkel gekleidet.

Die, die nicht im Hof herumlungerten, saßen dort und warteten darauf, dass die Zeit verging. Einige von ihnen waren still, andere sprachen tonlos mit sich selbst.

Betrat Line den Flur, starrten sie sie aus wässrigen, unruhigen Augen an.

Lines Blick überflog die faltigen Gesichter und manch knochige Hände, die sich rastlos im Schoß aneinander klammerten und auf denen dicke, dunkelblaue Adern sie an die Regenwürmer in den Angeldosen der Jungen erinnerten.

Ihr waren die alten Frauen mit den Witwenbuckeln, einem, in diesen Fällen, harmlosen Erkennungszeichen von Hexen, nicht mehr fremd. Und Line dachte, dass es wehtun müsste, wenn sie immer gezwungen blieben, nach vorn gebeugt, auf ihre braun karierten, abgetragenen Filzpantoffeln an ihren Füssen zu starren. Auch an die zahnlosen Münder, von denen einige sabbernd ins Leere kauten, hatte sie sich längst gewöhnt.

Und sie kannte die alten Männer mit den speckigen Mützen, die ihre faltigen, mit dunklen Flecken übersäten Hände über den Knauf des Krückstockes gelegt hielten, der zwischen ihren Beinen senkrecht stand, und die zahnlos kicherten, wenn Line an ihnen vorbeiging.

Und es gruselte Line jedes Mal wieder, denn sie spürte, wie sich die gaffenden Augen in ihren Rücken bohrten, wenn sie eilig bis an das dunkle Ende des langen Flures und bis hin zur Küche lief.

Nach dem Essen zog es Line meistens sofort nachhause, während einige Kinder auf dem gepflasterten Hof zwischen den alten Menschen, die schlurfend und ziellos die Zeit totschlugen, spielten. Doch niemals Hanna, die sich weigerte auch nur einen Fuß ins Altersheim zu setzen. Sie fand den Ort gruselig und hatte grauenhafte Angst.

Line hielt sich nachmittags häufig allein am Fleet auf.

Manchmal malte sie mit einem Stock Bilder auf den Sommerweg.

Ab und zu blieb sie aber auch in Frau Mus Garten und kletterte geschickt in den knorrigen Obstbäumen von Ast zu Ast, träumte durch die hellen und dunklen Blätterdächer und verfolgte mit ihren Blicken die winzigen, weißen Raupen, die an seidenen Fäden und vom Wind bewegt, nach unten ins Gras schwebten und darin verschwanden.

An dem winzigen schwarzen Punkt konnte Line erkennen, wo bei ihnen vorne war.

Auch an einem warmen, sonnigen Sonntag spielte sie allein vor dem Altersheim am abschüssigen Fleetufer, als sie von fern Pferdegetrappel hörte, das sich auf dem weichen Sand des Sommerweges zunächst wie sanftes Gemurmel anhörte, dann näher kam und rasch laut und lauter wurde.

Wenig später hielt mit lautem „Brrrrr“ eine zierliche schwarze Kutsche auf dem Sommerweg.

Line sah auf die Holzspeichen der großen Räder. Die hatten das warme Ochsenblutrot, wie Lines Großmutter solches Rot nannte, und das sich Line immer dickflüssig und klebrig vorstellte, obwohl sie wusste, dass die Farbe nicht echtes Blut und längst getrocknet war. Das schwarze Dach war zurückgeschlagen und lag in dicken Falten hinten auf dem Rand der Kutsche. Mit dem glänzenden Rappen davor, war dieser Anblick für Line eine Augenweide.

Aber vom Fleetufer aus sah sie nicht genug, hörte aber das aufgeregte Scharren der Hufe des Rappen und richtete sich soweit neugierig auf, dass sie nicht entdeckt werden, aber noch besser über die Böschung sehen konnte.

Ohne auch nur das geringste Geräusch zu machen, wurde nun die Kutschentür geöffnet und eine zierliche alte Dame ganz in schwarz, einschließlich des winzigen Hutes, stieg langsam und sehr verhalten aus.

Dann stand sie unentschlossen da.

Der Kutscher hatte aufmerksam verfolgt, was sie tat und befahl ihr dann in energischem Ton: „Na, geh’ schon und frage wie spät es ist, wir kommen sonst zu spät in die Kirche!“

Zaghaft überquerte sie den Sommerweg, ging über die Straße und den geraden Weg bis zur Tür des Altersheims. Dabei schaute sie sich immer wieder unentschlossen nach der Kutsche um. Mit erheblichem Kraftaufwand öffnete sie dann die schwere Holztür und verschwand dahinter.

Vor der Kutsche auf dem Sommerweg scharrte der Rappe noch immer aufgeregt mit dem Vorderfuß. Dabei entstand eine aufstrebende, feine Staubwolke, die zum Fleet schwebte und wie ein Gespenst im Schilfgürtel verschwand.

Doch zu Lines Verwunderung klatschte der Kutscher nun die Zügel auf den Rücken des Pferdes und rief laut: „Hüah!“

Die Kutsche setzte sich langsam und geräuschvoll in Bewegung, wendete in weitem Bogen und fuhr auf dem Sommerweg in die Richtung, aus der sie gekommen war, davon.

Sie wurde klein und kleiner und war dann nicht mehr zu hören und wenig später kaum noch zu sehen.

Es war wieder still.

Line stand da, nahm eines der graugrünen Schilfblätter zwischen die Finger, ohne es abzureißen und rätselte, warum der Kutscher nicht auf die alte Dame gewartet hatte, da er doch die Uhrzeit wissen wollte, damit sie nicht zu spät in die Kirche kämen.

Was würde die alte Dame tun, wenn die Kutsche nicht mehr da war?

Wie käme sie in die Kirche, und vor allen Dingen, wie käme sie wieder nachhause?

Line krabbelte auf allen Vieren am Ufer nach oben, stand nun auf dem Sommerweg, schickte ihre Blicke fragend die Landstraße entlang und dann zur Haustür des Altersheimes, aus der die alte Dame sicherlich gleich herauskommen würde.

Sie wartete.

Nach einer Weile setzte sie sich auf den schwarzweiß gestrichenen Kilometerstein am Rande des Sommerweges und ließ die Tür nicht aus den Augen.

Line beschloss noch zu bleiben, denn dann könnte sie der alten Dame sagen, dass die Kutsche weggefahren sei, wenn sie nach ihr suchen würde.

Doch Line wartete nicht nur eine ganze Weile, sie wartete auch vergeblich.

Die alte Dame blieb hinter der großen Tür des Altersheims verschwunden.

Line war in Gedanken versunken. Sie verließ den Kilometerstein und vorsichtig, um nicht die Balance zu verlieren, hangelte sie sich in der Hocke nach unten zurück an das Fleetufer.

Sie schaute über das träge dahin fließende, lehmige Wasser, hörte aus der Ferne die Kirchenglocken läuten und konnte das merkwürdige Geschehen nicht vergessen.

Erst am Abend machte sie sich deswegen kaum noch Gedanken.

Am nächsten Tag ging Line allein zum Essen durch die beiden großen Gärten zum Altersheim. Als sie an den Schuppen und Bretterverschlägen vorbeikam, hinter denen sich unter anderem auch die Plumpsklos mit ihrem unverwechselbaren Geruch befanden, bemerkte sie, dass jemand eine Leiter an einen der Schuppen bis an das flache Dach gestellt hatte, wohl um etwas zu reparieren, als sie ein leises Wimmern hörte.

Wie angewurzelt blieb sie stehen und lauschte.

Sie vermutete zunächst ein Kätzchen in Not, das sie retten und vielleicht behalten könnte.

Erfüllt von dieser Sorge und heimlicher Hoffnung, hielt sie den Atem an und horchte konzentriert.

Da, da war es wieder!

Kläglich und leise, dann aber noch ein Schluchzen.

Das war kein Kätzchen, wusste Line nun, aber was war es dann?

Und aus welchem der Schuppen kam und blieb es und war jetzt noch deutlicher zu hören?

Line ging dem Wimmern langsam und vorsichtig nach.

Sie versuchte es einzugrenzen.

Nur wenig später stand sie vor der Tür, durch deren breite Ritzen der Bretterwand herzzerreißend, kläglich eine leise, aber deutliche Stimme flehte:

„Bitte, lasst mich hier raus, bitte, bitte, ich habe doch nichts getan!“

Line bekam eine Gänsehaut, machte auf Zehenspitzen einen Schritt bis ganz nah an die Tür des Verschlages und lugte durch die breite Ritze zwischen den Brettern.

In dem Verschlag war es so finster, dass sie kaum etwas erkennen konnte.

Doch ihre Augen gewöhnten sich in kurzer Zeit an die Dunkelheit, und sie sah, dass sich auf dem braunen, unebenen Lehmboden etwas bewegte.

Sie erschrak heftig und war wie versteinert, als sie die alte Dame aus der Kutsche erkannte, die da unten auf der nackten Erde kauerte.

Sie konnte ihr Gesicht nicht sehen, vernahm aber wieder das verzweifelte Flehen:

„Bitte, ich habe doch nichts getan, lasst mich hier raus!“

Aber warum war sie eingesperrt, wer hatte das getan?

Line konnte vor Schreck kaum atmen, als sie hinter sich jemanden wahrnahm.

Blitzschnell drehte sie sich um und starrte in das zornige Gesicht eines alten Mannes:

„Die ist da drin, damit sie nicht wegläuft, und du schere dich weg, du hast hier nichts zu suchen“, rief er in barschem Ton.

Lines Herz klopfte bis zum Hals.

Durch die Schelte des alten Mannes hatte sie für Sekunden vergessen, was sie gesehen hatte. Vielmehr fühlte sie sich beim Herumschnüffeln erwischt.

Das tat man nicht.

„Soll ich dir Beine machen?“

Der alte Mann kam mit erhobener Faust auf Line zu, die nun verängstigt und mit schlechtem Gewissen den Trampelpfad entlanglief, durch die Hintertür ins Altersheim stürmte, dann durch den Flur hetzte und wenig später verstört und nachdenklich vor ihrem Teller in der Küche saß.

Und während sie aß, überschlugen sich die Gedanken in ihrem Kopf.

Jemand hatte die alte Dame in den Schuppen gesperrt.

Warum war der Kutscher weggefahren.

Aus welchem Grund hatte er nicht auf sie gewartet.

War das mit der Uhrzeit vielleicht nur ein Trick, weil sie nicht freiwillig ins Verrücktenheim wollte, wo niemand hin wollte, und wo alle nur noch auf den Tod warteten, wie Lines Großmutter sagte.

Aber warum war sie dann nicht in einem der vielen Zimmer oder lief im Hof herum, wie die anderen alten Menschen.

Wurden vielleicht alle, die nicht hier sein wollten, so lange eingesperrt, bis sie nicht mehr wegliefen und aufhörten zu weinen?

Sicher, einige der alten Menschen im Verrücktenheim waren schon sehr sonderbar, und einige benahmen sich zeitweise auffällig merkwürdig, wie Ome auch.

Andere waren ziemlich unheimlich, aber waren sie deswegen alle verrückt?

Die alte Dame wirkte jedenfalls nicht so.

Line überlegte, ob sie sich an den Schuppen heranschleichen sollte, um sie zu befreien.

Vielleicht brauchte sie nur den rostigen Riegel beiseite zu schieben, und die Tür würde sich ganz leicht öffnen lassen.

Aber Line fürchtete, dass der alte Mann sie verprügeln würde, wenn er sie dabei erwischte. Bei diesem Gedanken wurde ihre Angst so groß, dass sie aufgab zu glauben, helfen zu können.

Nach dem Essen ging sie sehr langsam zwischen den alten Menschen durch den langen, dunklen Flur, hinaus auf den Hof. Dabei achtete sie darauf, nicht auf die Striche zwischen den grauen Steinplatten zu treten. Auf keinen Fall wollte sie an den Schuppen vorbei und durch die Gärten nachhause gehen und machte lieber den kleinen Umweg über die Landstraße. Noch einmal hätte sie es nicht ertragen, die alte Dame weinen zu hören.

Aber Line vergaß die Gefangene hinter dem Bretterverschlag nicht.

Mit Trine musste sie jedoch weiterhin jeden Tag an den Schuppen vorbei, um satt zu werden. Dann schaute sie absichtlich unentwegt auf den Trampelpfad, auf die dicken Grasbüschel und die neu aufgeworfenen Maulwurfshaufen, weil sie nichts anderes sehen wollte, und sie begann laut zu singen, weil sie nichts anderes hören wollte.

Und Trine lachte.

Nach einiger Zeit verblasste Lines Erinnerung an die alte Dame aus der Kutsche, von der sie nichts mehr hörte und die sie auch niemals wieder sah, weil sie vielleicht schon längst zwischen den anderen alten Frauen nicht mehr zu erkennen gewesen war.

Ihre ganze Aufmerksamkeit galt inzwischen einer anderen Bewohnerin des Verrücktenheims, die faszinierend gleichmäßig bleich an den Lippen, Haut und Haaren war, wie der Vollmond in einer frostigen Winternacht.

Line schlich sich regelrecht an, wenn die bleiche Gestalt über den Hof tänzelte und Dinge tat, für die Line ausgeschimpft worden wäre.

Genau neben dem Brett, das über dem schmalen Moddergraben lag, stapfte sie in ihren Filzpantoffeln durch das Dreckwasser aus der Küche, das dort jeden Tag hineingekippt wurde. Die nassen Füße schienen ihr nichts auszumachen, denn sie begann zu tanzen und lächelte so entrückt, dass Line in ihr zunächst eine Fee vermutete, woran sie aber dann wieder zweifelte, wenn sie den flächigen, dunklen Schorf über der bleichen Stirn zwischen dem schütteren Haar sah. Die neuen, blutig gekratzten Stellen zeugten davon, dass sie sich schon wieder büschelweise die Haare ausgerissen hatte.

„Die ist nicht ganz richtig im Kopf, und wenn man nicht ganz richtig im Kopf ist, dann juckt es“, hatte mal jemand gesagt.

„Wie bei einem Mückenstich“, hatte Line wissen wollen.

„Ja, wie bei einem Mückenstich!“

Eine andere Bewohnerin, die mit dem gemeinen Spitznamen „Häwk“ herumlief, weil ihr die große, schmale Hakennase ziemliche Ähnlichkeit mit einem Habicht gab, war nie zu übersehen. Ihre gebräunte, mit tiefen Falten durchfurchte Haut sah wie Leder aus, und ihre schwarzen Haare waren mit grauen Strähnen durchzogen und hingen klebrig und wirr um ihren Kopf. Sie trug jeden Tag denselben tief dunkelroten, bauschigen Rock. Er war so lang, dass er mit dem Saum den Hof sauber hielt und dementsprechend schmutzig.

Line beobachtete immer neugierig, wie „Häwk“ dann verzweifelt stundenlang über den Hof irrte und dabei kaum vorwärts kam.

Ihre Augen fixierten die Stelle, auf die sie treten wollte. Sie hob ihren Fuß ein wenig an, setzte ihn jedoch nicht auf, sondern machte ängstlich zwei Schritte zurück, als läge dort etwas Gefährliches. Dabei wimmerte sie in hohen Tönen und zerkratzte sich dabei die Unterarme.

Und wenn der alte Mann an der ockergelben Wand der Waschküche lehnte, schlich sich Line auch heimlich in seine Nähe, um zu hören, ob er wieder mit jemandem sprach, der gar nicht da war. Dann hörte Line ihn beschwörend rufen: „Geh da weg, da fällst du hin, das geht so nicht, lass das lieber sein!“

Dann lachte er laut und vergnügt, ging in die Hocke und breitete die Arme aus, schlang sie um etwas Imaginäres, richtete sich auf und drehte sich einige Male um die eigene Achse. Dabei sah er sehr glücklich aus, und seine Augen wanderten am Himmel entlang, bis er plötzlich ängstlich innehielt.

Und als wäre alle Kraft aus ihm gewichen, ließ er die Arme fallen.

Sein Gesicht wurde unendlich traurig, er torkelte und lehnte sich wieder an die ockergelbe kalte Wand der Waschküche, die ihm den Halt zu geben schien, den er jetzt brauchte.

Und dann wartete Line darauf, dass seine Schultern nach vorn fielen und zuckten.

Sie wusste, gleich würde sein Kopf auf die Brust sinken.

Gebannt starrte sie auf das Gesicht, das sich in Sekunden auch diesmal wieder zu einer grauenhaften Fratze verziehen würde.

Line atmete dann flach und wartete auf seine Tränen und das leise Schluchzen.

Sie dosierte ihr Mitgefühl auch hier auf ein für sie erträgliches Maß und übte sich darin, indem sie dem weinenden Mann nur wieder so lange zusah, bis sie genug hatte.

Dann drehte sie sich um und ging.

Dabei steckte ihre Hand in ihrer Kleidertasche und umklammerte den kleinen, bleichen Knochen vom Friedhof, ihr Geheimnis!

Kuckucksspucke

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