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2. Kapitel

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Line liebte es, dabei zu sein, wenn in der Wohnung ihrer Großmutter regelmäßig ein Kaffeekränzchen mit Kuchen, Likör und Musik von Mozart in Zimmerlautstärke stattfand.

Die Gattin des Apothekers, des Schulleiters, des Dorfarztes und die des reichsten Bauern in der Umgebung dufteten so heftig nach Lavendel und Kölnisch Wasser, dass es für Lines Nase im Wohnzimmer der Großmutter nach einer Weile regelrecht stank.

Und unter dieser Duftwolke bekakelten sie dann alles, was im Dorf seit dem letzten Zusammentreffen passiert war.

Und während sie Streuselkuchen aßen, Kaffee, Likör und auch mal prickelnden Schaumwein tranken, und Line sich in eine Ecke kauerte, um nicht entdeckt und weggeschickt zu werden, sprachen sie dieses Mal über einen Bauer, den sie alle mehr oder weniger gut kannten. Die Tasse machte beinahe kein Geräusch, als eine der Damen sie mit vornehm abgespreiztem kleinen Finger behutsam auf die Untertasse stellte, nickend in die Runde sah und hauchte: „Er ist ja vergangene Woche richtig zusammengebrochen“.

„Ach, ist er etwa….“.

Die Fragende nagte erwartungsvoll an ihrer Unterlippe.

„Nein, aber er hat schon jahrelang Zucker, und es stand mit ihm nicht zum ersten Mal auf der Kippe. Mein Schwager wurde in kurzer Zeit vom Zucker dahingerafft.

Das war damals schlimm.

Wie die Zeit vergeht, er ist nun schon zwei Jahre tot“.

Für wenige Sekunden war es still im Wohnzimmer der Großmutter.

„Es ist zu befürchten, dass es bei dem auch nicht mehr lange geht“, wusste eine andere nun ganz genau, was ihm über kurz oder lang blühen würde.

Line verstand nicht, wieso sie tatsächlich glaubten, dass die weiße, süße Herrlichkeit überhaupt jemanden dahinraffen konnte.

Und wie denn!

Und wenn doch?

Die Großmutter sprach manchmal von „Raffinade“, wenn es um Zucker ging.

So bekam das Wort „dahingerafft“ für Line dann einen Sinn.

Vielleicht bewahrte die Großmutter ihren süßen Vorrat deshalb in einer fest verschlossenen Dose, für Line unerreichbar, in der Speisekammer auf.

Und die Kränzchendamen griffen nicht einfach mit den Fingern in die Zuckerdose, um sich einen Zuckerwürfel zu nehmen, sondern benutzten dazu eine kleine silberne Zange, die rechts und links mit einer Rosenranke verziert war. Außerdem verfügte sie über zwei gespreizte Krallen, mit denen die Zuckerwürfel fest gepackt werden konnten, wenn man nicht ungeschickt war.

„Seine Frau sagte ganz verzweifelt im Schlachterladen, er würde seinen Zucker nicht ernst nehmen, und sie befürchtet, dass ihm das das Genick brechen wird“, hörte Line jetzt und verstand den Zusammenhang nicht.

Aber sie witterte freudig eine Beerdigung, eine die von sich reden machen würde.

Denn der Bauer war reich, und Reiche ließen sich nicht nur Hochzeiten etwas kosten.

Jetzt aber ärgerte es Line, als ein kürzlich stattgefundenes Begräbnis erwähnt wurde, das sie verpasst hatte.

Mitten im Sommer hatte es tatsächlich eins gegeben, und zwar auf der anderen Seite der Eisenbahnlinie, die das Dorf und Line vom Rest der Welt trennte.

Sie kannte die, um die es ging, und es war jetzt ein merkwürdiges Gefühl, dass die tot sein sollte. Line erinnerte sich an einen massigen Körper, auf dem ein kleiner Kopf mit Pausbäckchen saß, und aus dessen Wurstzipfelmund es pfeifend schnaubte, während es auf der Steintreppe zum Bäckerladen nur sehr langsam nach oben voranging, Schritt für Schritt.

Und dick, damit meinten die Damen wohl „korpulent“, denn eine von ihnen zeigte mit beiden Armen an ihrem eigenen Körper einen gewaltigen Bauchumfang, der bis an die Tischkante reichte. Und die, die hatte die Tote auch auf ihrem letzten Weg begleitet.

„Das hätte sie von mir erwartet, so wie wir zueinander standen, sie war ja über dreißig Jahre auf unserem Hof, bevor sie im vergangenen Jahr so unglücklich in die Forke gefallen ist und sich beinahe aufgespießt hatte“, flüsterte sie mit beschwörendem Blick und heruntergezogenen Mundwinkeln.

„Davon hat sie sich nie mehr richtig erholt, Gott sei ihr gnädig!“

Doch jetzt hielt sich die Erzählende die Hand vor den Mund, und Line entdeckte, dass sie sich das Lachen verkniff, weil diese Geschichte wohl kein Thema zum Lachen war.

Sie rang die Hände und wisperte: „Entschuldigung, aber es ist so grauenhaft und doch so komisch, ich muss es einfach loswerden.“

Die anderen Damen vermuteten den Höhepunkt dieses Nachmittages, signalisierten Aufmerksamkeit und setzten sich kerzengerade auf.

Auch Lines Ohren liefen auf Hochtouren.

„Sie hatten Schwierigkeiten, sie in den Sarg zu legen.

Sie war zu dick und zu breit, und sie wussten nicht, wohin mit den Armen und haben sie schließlich auf die Seite gedreht, aber das ging auch nicht, weil sie dann zu hoch war.“

Ihre Zuhörerinnen lachten unterdrückt.

Eine prustete Kuchenkrümel in ihre hohle Hand und flötete: „Oh, wie sind wir pietätlos, schämen wir uns, aber erzählen sie doch weiter, man nimmt doch selbstverständlich Anteil.“

Na, ja, irgendwie hatten sie es dann doch geschafft, dass von ihr nicht so viel zu sehen war, als sie den Sargdeckel auf sie drückten.

Stellen sie sich mal vor, das mussten sie zu Dritt machen, und das hat unheimliche Geräusche gegeben.“

„Ja, das ist bekannt, wenn….das ist grauenhaft, da geht die Luft aus den Lungen ab“, entsetzte sich eine der anderen Damen und rutschte auf ihrem Platz sehr lebendig hin und her.

Keine von ihnen kaute oder schluckte jetzt noch.

Und alle Augen hingen an den feucht glänzenden Lippen der Erzählenden, auf denen noch ein winziges Stück von einem Mandelplättchen klebte.

„Am Kopfende gelang es ihnen, den Sargdeckel zuzunageln, aber weiter hinten stand er noch so weit offen.“ Sie zeigte einen etwa drei Zentimeter breiten Abstand zwischen Daumen und Zeigefinger, atmete danach mit aufgerissenen Augen tief durch und sah dann versteckt amüsiert und abwartend in die Runde.

„Dass unser Herrgott das zulässt, das ist ja kaum zu glauben“, empörte sich eine Stimme.

„Da gibt es nichts zu glauben, da weiß man, dass man einen größeren Sarg nehmen muss. Der Herrgott lässt die Bäume zwar nicht in den Himmel wachsen, aber es ist doch genug Holz für einen großen Sarg da“, meinte eine andere, und das hörte sich ziemlich vernünftig an.

„Heute ist das ja wirklich kein Problem, aber damals“, hauchte die Großbäuerin.

„Meine Großeltern hatten ihre Särge noch in der Tenne stehen. Früher war das so, denn wenn es mal eine Seuche und viele Tote gab, kam der Zimmermann mit der Arbeit nicht hinterher, also hatte jede Familie mindestens einen Sarg vorrätig.

Es gab sogar schmale, schwarze Sargtische, auf denen sie standen. Und dann warteten sie in der Diele auf „Belegung“, oft jahrelang!

Und ich weiß noch, bei meinen Großeltern kamen in einen der Särge abends immer die Hühner.“

Die Kränzchendamen lachten, und in den Gläsern moussierte es.

Die Damen waren ausgelassen.

Der altrosa Schleier, der über ihre Wangen kroch, war auch ein Zeichen für ihre Erregung aufgrund der außergewöhnlichen Begebenheit, die ihnen gerade zu Ohren gekommen war.

Mit der grauenhaften Vorstellung, dass der Sargdeckel nicht geschlossen werden konnte, waren sie bereits an die Grenzen des für sie Erträglichen gekommen, als sie mit kreischendem Gewimmer der Erzählenden das an sich herankommen lassen mussten, was eine Steigerung ihres Entsetzens nicht mehr zu übertreffen, nur noch in der Hölle möglich gewesen wäre.

„In der glühenden Hitze des frühen Nachmittags auf dem langen Marsch zum Friedhof, entging den herumlungernden Straßenfliegen natürlich nicht, was sich dort in dem blumenbekränzten Holzkasten verbarg und wohin man ohne große Umstände durch eine fingerbreite Ritze gelangen konnte. Und so waren es erst wenige und dann eine ganze Horde von Fliegen, die unter den entsetzten Blicken tränenverschleierter Augen ein- und ausflogen und sich beharrlich ihrer Sache widmeten und sich nicht davon abhalten ließen, die Tote bis ins Grab zu begleiten.

Stellen sie sich das mal vor!

Mit ihren Taschentüchern haben die nahen Angehörigen, die gleich hinter dem Sarg hergingen und das Elend mit ansehen mussten, versucht, die Fliegen zu verscheuchen, aber die Biester waren hartnäckig, wie Fliegen eben so sind, es war gruselig.“

Line konnte geradezu den bestialischen Verwesungsgeruch riechen, der von der dicken, toten Frau im Sarg ausgegangen sein musste.

Sie kannte den Gestank aus dem dichten Brombeergebüsch ganz hinten im Garten von Frau Mu nur zu gut, als dort ein schwarzer, toter Vogel auf dem Rücken mit hoch aufgerichteten, starren Beinen vor sich hin faulte, in dessen offenem Bauch dicke, weiße Maden in gleichmäßigem Rhythmus um einander tanzten.

Die Damen ächzten hinter vorgehaltenen Händen.

In diesem Augenblick spürte Line das merkwürdige Gefühl wieder, das sich in ihrem Bauch auch jetzt ganz absonderlich anfühlte, wie damals, als sie die ramponierte, hässliche Puppe, die ihre Cousine ihr großzügig überlassen hatte, und mit der sich Line nur aus der Not heraus abzufinden, jeden Tag wieder große Mühe gab, in aller Stille und mit keinem schlechten Gewissen begraben hatte. Es war schon lange niemand mehr gestorben, und sie hatte darin eine Möglichkeit gesehen, ihr Bedürfnis nach der begehrten Beerdigungszeremonie zu befriedigen. Mit der Puppe unter dem Arm und mit einem Löffel war in den Garten gegangen, war ein wenig unter den großen Rhododendron gekrochen und hatte ein tiefes Loch gegraben, die Puppe hineingelegt und langsam mit Erde bedeckt, bis auch von ihrem Gesicht nichts mehr zu sehen war. Line hatte inne gehalten, als die Puppe unter der Erde verschwunden war. Auf Knien hatte sie dann inbrünstig gebetet und eine handvoll Gänseblümchen dazu gezwungen, das Grab zu schmücken. Langsam und mit gesenktem Kopf hatte sie die letzte Ruhestätte ihrer ungeliebten Puppe in stiller, seltsamer Stimmung verlassen. Und dann spürte sie wenig später, wie ein kleiner, geheimer Kummer von ihr Besitz ergriff, und als es dämmerte, überkam sie unendliche Reue. Schließlich hatte sie Panik für die Puppe empfunden, obwohl sie von ihr immer von „der Puppe“ und nie von „meiner Puppe“ gesprochen hatte. Auf flinken Füßen war sie zu der winzigen Erderhebung gerannt und hatte die schon welken Gänseblümchen beiseite geschoben und wie gehetzt mit bloßen Händen nach der Puppe gebuddelt, ihren Kopf gegriffen und die Puppe mit einem Ruck aus dem Grab gezogen. Sie hatte ihr auf dem Weg ins Haus die feuchte Erde vom Leib geklopft, sie in die leere Apfelkiste gelegt, die neben dem großen Kachelofen stand und zur Hälfte mit Holzwolle gefüllt war und erleichtert „So“ gesagt.

Inzwischen wusste Line aber auch, dass nicht alles, was tot war, beerdigt wurde.

Manch ein totes Tier wurde gegessen.

Zum Beispiel ein Huhn.

Wie das gehandhabt wurde, wollte Line miterleben, als es um das tote Huhn ging, das kopfüber an dem Fahrradlenker von Lüders Vater hing.

Wie es zu Tode gekommen war, wusste Line nicht, aber dass es gegessen werden sollte, wurde schnell von Lüders Mutter beschlossen, die aus der Tür geeilt war und vor Begeisterung wegen der unvorhergesehenen ordentlichen Fleischmahlzeit in die Hände geklatscht und gut gelaunt: „Mal was Richtiges“, gezwitschert hatte.

Lüders Vater hatte sein Rad an die Hauswand gestellt und das Huhn losgebunden, dem dabei ordentlich der Kopf wackelte.

Dann trug er es an den großen, blassgelben, verkrampften Füßen kopfüber baumelnd ins Haus. Seine Frau und Lüder folgten ihm freudig.

Und Line fragte gar nicht erst, ob sie mitgehen durfte, sondern blieb ihnen dicht auf den Fersen. Sie war neugierig und hatte keine Vorstellung davon, was mit dem Huhn geschehen würde. Für sie hatten Hühner einen Namen und legten Eier, sonst nichts.

In der Küche nahm sich Lüders Mutter sofort der armen Kreatur an und legte das leblose Ding in eine große Schüssel, an der noch weiße Emaillereste leuchteten.

Auf dem Herd dampfte es schwach aus dem Wasserkessel, und sie legte Holz nach, weil das Wasser sprudelnd kochen sollte, wie sie murmelte.

Line ahnte noch nicht den Grund dafür.

Nach einer Weile nahm Lüders Mutter den singenden Kessel vom Herd, und vor Lines fassungslosem Gesicht goss sie das heiße Wasser über das tote Federvieh, das für kurze Zeit im Dampf verschwand.

Es wird regelrecht verbrüht, gruselte sich Line und sah, dass das Huhn innerhalb kurzer Zeit um die Hälfte zusammengeschrumpft und bis auf die Haut nass war.

Lüders Mutter ließ das Elend in der Schüssel keinen Moment aus den Augen, während sie sich eine dunkle Schürze umband. Dann setzte sie sich auf einen Stuhl und ließ eine Weile vergehen, bevor sie das nasse Huhn packte, ihre Oberschenkel spreizte und es in die Mulde ihrer Schürze legte.

Und mit brutaler Gewalt, zuerst die großen Federn aus Schwanz und Flügeln, riss sie mit kurzen, schnellen Bewegungen dann auch die kleinen, weichen Federn von Rücken und Brust und wenig später die zarten Daunen vom Bauch der Tierleiche.

Ein paar davon klebten sofort an ihren Händen, die vom heißen Wasser inzwischen rot und aufgedunsen waren. Um ihre Füße herum, wurde der graue Steinfußboden im Handumdrehen mit dem gerupften Federkleid des zukünftigen Leckerbissens bedeckt.

In kurzer Zeit war das Huhn völlig nackt.

Seine Haut war weiß wie Grießbrei, hatte vereinzelt blaurote Flecken, wie nach tüchtigen Schlägen mit einem stumpfen Gegenstand, und picklig war sie auch.

Line stierte entsetzt auf das, was sie noch nie in ihrem Leben gesehen hatte, und das sie nicht zuordnen könnte, wenn sie nicht wüsste, was es vor seiner Zerstörung gewesen war.

Der nasse Hühnerkopf hing jetzt mit schrumplig, weiß verschlossenen Augen über den Schürzensaum, genau in der Mitte zwischen den Knien von Lüders Mutter.

Die stand nun vom Stuhl auf und drückte ihn dabei mit den Kniekehlen nach hinten. Die Stuhlbeine schurrten auf dem Steinboden, und das Geräusch riss Line aus ihren Gedanken. Lüders Mutter machte einen gequälten Eindruck, als habe sie und nicht das Huhn etwas durchgemacht. Ihre nasse, himbeerrote Hand umklammerte den dünnen Hühnerhals, und sie suchte fischend mit der anderen nach etwas in der Schublade des Küchentisches neben sich, das dann gefunden, schmal und hell aufblitzte.

Ein Messer!

Damit konnte man Schlimmes anrichten, wusste Line, und das wurde ihr auch Sekunden später am Leibe des toten Huhnes vorgeführt.

Als der Kopf mit schnellen Handgriffen, aufblitzendem Messer und knackendem Geräusch abgetrennt wurde, öffnete das Huhn den Schnabel, als wollte es protestieren.

Danach hielt Lüders Mutter die splitternackte Hühnerleiche am kopflosen Hals gepackt über ein Holzbrett und schlitzte ihr mit einem einzigen graden Schnitt den blassen, eingefallenen Bauch von oben bis unten auf.

Was nun aus dem breiten Hautschlitz heraus quoll, dann an fleischigen Schnüren neben dem Huhn hing und schleimig auf das Holzbrett glitschte, würgte Line.

Ein entsetzlicher Gestank nahm ihr den Atem, und angewidert starrte sie auf den Klumpen unappetitlicher Gebilde mit unterschiedlicher Farbgebung.

Es fiel ihr schwer, zu glauben, dass das essbar sein sollte, und dass sich Lüders Familie wirklich darauf freute.

Lüders Mutter legte das miserabel zugerichtete Huhn gerade wieder in die Schüssel, als jemand an die Wohnungstür hämmerte und etwas rief, das undeutlich dahinter blieb und in der Küche nicht zu verstehen war.

Lüders Vater rannte durch den Flur zur Tür und öffnete.

An ihm vorbei stürzte eine Furie und nahm mit schriller Stimme den direkten Weg in die Küche, als würde sie sich gut auskennen.

„Ich weiß, dass Beate hier ist, was habt ihr mit ihr gemacht, ist sie tot?“

Mit wenigen Schritten war sie am Ort des Geschehens, packte mit beiden Händen den Rand der Emailleschüssel und stierte entsetzt auf das demolierte Huhn, das ihr Eigentum zu sein schien. In der nächsten Sekunde sackte ihr Kopf weit nach unten, fast auf Beate, und ein leiser Klagelaut löste sich aus ihrer Kehle beim Anblick ihres schmerzlichen Verlustes.

Ihre Augen schwammen in Tränen, als sie sich wieder zu ganzer Größe aufstellte und dabei ihr Hohlkreuz ganz durchdrückte.

Sie sah in das fassungslose Gesicht von Lüders Mutter und dann in das Undurchdringliche seines Vaters.

Dann flogen ihre Blicke hin und her, und sie schluchzte: „Warum?“

Lüders Vater machte einen zaghaften Schritt nach vorn: „ Ich wollte das nicht, aber sie ist mir taumelnd ins Rad gerannt, ihr Kopf hat sich in den Speichen verfangen, sie war sofort tot, sie hat nicht gelitten, glauben sie mir, außerdem wirkte sie völlig erschöpft“.

Die Frau umfasste ihr Kinn und wandte sich mit schmerzverzerrtem Gesicht von Beate ab. Sie schien sich langsam zu beruhigen und mehr noch, als sie nachdenklich ihr rechtes Ohrläppchen unter den Haaren befühlte.

Während ihr Blick erneut über die tote Beate huschte, hauchte sie: „Ja, ja, sie war schwach. Beate fraß seit einer Woche nicht mehr. Ich war ja dabei, als sie meinen Ohrring mit der echten Perle verschluckte.

Er ist einfach heruntergefallen, als ich das Hühnerfutter ausstreute, einfach so!“

Ihr neugieriger Blick fiel nun auf das Holzbrett.

Entschlossenheit straffte ihren Körper.

Sie schien allen Kummer vergessen zu haben und zu kombinieren.

„Ist das?“

Lüders Mutter nickte betreten.

„Wo ist der Magen, kann ich mal gucken, sie merkt es ja nicht mehr, da kann ich doch mal nachsehen, ob ich ihn finde, mein Mann hat schon gefragt, er weiß nichts“.

Als sie den flachen, dunkelroten, bläulich schillernden Muskel mit spitzen Fingern aus dem wabernden Klumpen fischte, das Messer nahm, ihn von allem Gekröse befreite und dann wie ein Brötchen aufschnitt, wobei es makaber knirschte, wich Lines Mitgefühl mit Beate, und sie entwickelte ein großes Interesse für echte Perlen.

Im Inneren des Magens, der nun behutsam aufgeklappt wurde, schaute Line auf dickes, dunkelgelbes Plissee, mit dem er ausgekleidet war.

Die Frau durchforstete nun mit leicht gekrümmtem Zeigefinger, aufmerksamen Augen und ihrer lebhaften himbeerroten Zungenspitze zwischen den Lippen, die dichten Magenfalten.

Ihr Gesicht erhellte sich, nachdem sie zunächst winzige Steinchen herausgefischt hatte.

Dann erlosch ihre anfängliche Freude abrupt.

Aber sie schien nicht aufgeben zu wollen, denn ihr Gesicht befand sich nun dicht über dem glänzenden, gewundenen Gedärm ihrer toten Beate.

Sehr sachte drückte sie einen Strang gelber Perlen beiseite und seufzte leicht, während Line glaubte, da wäre ein unverhoffter Perlenschatz gefunden worden.

Doch dann erfuhr sie zum ersten Mal in ihrem Leben etwas von Eierstöcken.

Beates nahe Angehörige wühlte weiter in den kalten Eingeweiden der toten Beate.

„Nichts“.

Aber vielleicht steckt er noch im Schlund“, hoffte sie und schob sogleich ihre Faust mit ausgestrecktem Zeigefinger und ohne großes Feingefühl durch den breiten Hautschlitz bis hinter das feste Brustbein und dann ganz nach oben in Beate, so dass der kopflose Hals sich ein letztes Mal krümmte.

Und dann - mit einem kleinen, spitzen Schrei, hielt sie zwischen Daumen und Zeigefinger etwas in die Höhe, von dem sie behauptete: „Das ist er“.

Mit einem müden Lächeln streifte sie noch einmal die tote Beate, ihre Beate.

Und mit einem Seufzer flehte sie: „Esst sie bitte mit Bedacht, ich kann das nicht, der hier reicht mir“.

Dabei schaute sie auf ihre Faust mit dem begehrten Inhalt, drehte sich rasch um und erreichte mit eiligen, federnden Schritten die Tür.

Line folgte ihr in der Hoffnung, wenigstens einen kurzen Blick auf eine wirklich echte Perle werfen zu können. Doch dazu sollte es nicht kommen, denn die Perlenfrau saß blitzschnell auf ihrem Fahrrad und fuhr davon. Der Rock ihres bunten Sommerkleides flatterte im Wind, als Line ihr enttäuscht hinterher sah.

So war dann Lines Phantasie weiterhin gefordert, da Perlenbeschreibungen nicht zum dörflichen Geschwätz gehörten, so wie Vieles, was Lines Sicht auf das Leben und ihre subjektiven Eindrücke oftmals beinahe wöchentlich ins Wanken brachten oder sogar rigoros veränderten.

So auch nach wenigen Tagen, als sie, nicht einmal besonders überrascht, im duftenden Bäckerladen neben ihrer Mutter begreifen sollte, dass Ome, dessen Verschwinden im gurgelndem Fleet von ihr erfolgreich verdrängt worden war, überhaupt nicht ertrunken war.

Und es war Line sogar ziemlich egal, dass Ome weiterhin quicklebendig herumspazierte. Sie hörte jetzt beinahe gelangweilt einen lebhaften Dialog zwischen der Bäckersfrau und einer Frau mit an, die sich nach langem Hin und Her endlich für ein „Angeschobenes“ entschieden hatte. Sie waren sich schnell und mit einem tiefen Atemzug auch darin einig, dass ein Unglück selten allein kommt. Line hörte dann aber doch noch genauer hin, was mit Ome wirklich passiert war.

Der große Junge von der Schmiede, der den Auftrag hatte, im Verrücktenheim etwas abzuliefern, hatte sich über das auf einige Quadratmeter begrenzte, heftig bewegte Wasser im Fleet gewundert und dann Ome entdeckt, der mit sämtlichen Extremitäten wie wild zappelnd, um sein Leben gekämpft hatte. Nicht nur einmal hatte er ihn nach Luft schnappen und immer wieder auftauchen und versinken sehen, war dann beherzt ins Fleet gesprungen und hatte Ome mit großer Kraftanstrengung ans Ufer und auf den Sommerweg gezogen. Dort hatte der Gerettete sich durch verzweifeltes Hin- und Herwälzen am nassen Körper mit dem weichen Sand dick paniert, wobei ihm hustend reichlich Wasser aus dem Mund gesprudelt war. Aber er lebte, war jedoch völlig erschöpft liegen geblieben und dann von seinem Retter und einigen herbeigeeilten Helfern wie ein nasser Sack ins Verrücktenheim geschleppt und auf sein Bett gehievt worden.

Ome war kräftig und hatte sich schnell von den Strapazen seines Überlebenskampfes erholt. Der Lebensretter wurde weit über die Grenzen des Dorfes hinaus bekannt und dermaßen übertrieben bejubelt, dass es Tille, einer Pubertierenden in schwieriger Phase, unsagbar auf die Nerven gegangen war.

Es hatte sie gedrängt da rigoros einzugreifen und dem Ganzen schnell ein Ende zu setzen. Sie war so neidisch auf seinen Ruhm und hatte selbst nach derartiger Beachtung gelechzt, dass sie ihre Phantasien mobilisierte und dann eine Idee hatte.

So verlor Tille keine Zeit und setzte diese schon einen Tag später und bei herrlichem Sonnenschein, in die Tat um.

Sie lockte einen jüngeren, dicken, unbeliebten Nichtschwimmer unter einem Vorwand ganz nah an das Fleetufer, versetzte ihm mit der flachen Hand auf den Rücken einen kräftigen Schlag, der ihm den Atem und das Gleichgewicht nahm, und ihn stumm vor Entsetzen und ohne große Umstände Hals über Kopf in die Fluten stürzen und wie einen Stein untergehen ließ.

Nach dieser von Tille gut durchdachten und perfekt ausgeführten Vorbereitung für die eigentliche Aktion, wollte sie nun wie wild beginnen, den wieder Aufgetauchten zu retten.

Unvorhergesehenerweise wurde das jedoch mehr als beschwerlich, denn der wehrte die helfenden und nun dringend erforderlichen, rettenden Zugriffe ganz energisch und prustend ab, weil er nicht zu Unrecht annehmen musste, dass seine Angreiferin ihm weiterhin nach dem Leben trachtete, und er sich vor ihr mit verzweifelter Abwehr und planschender Schnelligkeit in Sicherheit bringen musste, um das zu verhindern.

Tille hatte inzwischen Panik, dass ihre Rettung misslingen könnte, was nun auch nach den glucksenden Geräuschen außer Sichtweite im dichten Schilf zu urteilen, zur schrecklichen Wahrheit zu werden schien.

Aus Leibeskräften schrie sie um Hilfe und büßte damit die Möglichkeit ein, eine Lebensretterin zu werden und zu geplantem Ruhm und gewollter Ehre zu gelangen.

Zu ihrem Ärger war der, der ihr das gründlich vermasselte, ausgerechnet derselbe Junge, der schon Ome aus dem Fleet gerettet hatte, und der nun auch ihr „Opfer“ packte und aus dem Wasser zog.

Und zu ihrer Schande schrie der Gerettete empört und röchelnd: „Die hat mich absichtlich ins Fleet geschmissen, die blöde Ziege!“

Und während sich der Ruhm des nun zweifachen Lebensretters festigte, wurde Tille kreidebleich und versuchte, sich durch einen Schreikrampf der Verantwortung zu entziehen, was eine schallende Ohrfeige eines der herbeigeeilten Erwachsenen im Keim erstickte.

Tille litt während der folgenden Tage und Wochen aufgrund der Niedertracht, die sie sich geleistet hatte, und nun auch wegen ihrer schon lange negativ aufgefallenen Kleidung, ihrer wüsten Frisur, und wie sie sich sonst noch schrecklich aufführte, unter dem üblen Gerede und der nun legitim gewordenen Verachtung nicht nur der Kinder und Lehrer, sondern so ziemlich aller Dorfbewohner, Höllenqualen.

Ihre sorgsam überlegte Konsequenz war, sich eine Weile, so gut es ihr mit fadenscheinigen Ausreden gelang, aus der Öffentlichkeit zurückzuziehen, bis Gras über die Sache gewachsen sein würde, wusste die Bäckersfrau von Tilles Stiefvater, der sich für Tille überhaupt nicht schämte, was auf Unverständnis stieß und mit heftigem Kopfschütteln zusätzlich unterstrichen wurde.

Von Omes Rettung und Tilles Drang zum Ruhm, hatte Line bisher nichts mitbekommen.

Kein Wunder, sie konnte ja nicht überall zur selben Zeit sein.

Es hatte sie während der vergangenen Tage auch ein seltsames Gefühl hinter dem Brustbein wegen Omes Sturz ins Wasser davon abgehalten, mehr als nötig an ihn zu denken, geschweige denn zur Brücke zu gehen und sich vorzustellen, wie sich der schlammige Grund des Fleetes langsam über ihn legte und er von den grauenvollen Wollhandkrabben bekrabbelt wurde.

In diese Gedanken verloren, verließ sie nun an der Hand ihrer Mutter den Bäckerladen, schaute hinauf zu der dicken weißen Wolke, der sich zwei dunkelgraue Wolkentupfen zögernd näherten und dann in immer gleichem Abstand in Unbeweglichkeit verharrten.

Da oben regt sich kein Lüftchen, dachte Line.

Kuckucksspucke

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