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5. Kapitel

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Die Jahre vergingen, und Line wuchs heran wie alle Kinder ringsherum.

Ihr Leben war prallgefüllt mit Eindrücken und täglich kamen neue hinzu.

Sie lernte aus Erfahrungen und wurde zunehmend kritisch.

Ihre Mutter sorgte bei ihr für ein gesundes Selbstbewusstsein, so dass Kränkungen sie schwer erreichten und sie eher Mitgefühl für die Täter empfand, als sich zu ärgern.

Line war aufgeschlossen und kannte die meisten Kinder in ihrer Umgebung längst sehr gut. Sie wusste mit jedem umzugehen, die zu meiden, mit denen sie schlechte Erfahrungen gemacht hatte und war vorsichtig im Umgang mit denen, die ihr nicht ganz geheuer waren. Sie petzte nicht und hörte aufmerksam zu, wenn jemand ihr etwas erzählte und gab kein Geheimnis preis, das ihr jemand anvertraute. Und so hütete Line nach dem Friedhofsknochen- und Ofenkronengeheimnis einige Zeit später noch mehr Geheimnisse, von denen sie die wichtigsten mit ins Grab nehmen würde, wie sie von der Großmutter immer wieder hörte, dass man das machen konnte.

Und wie einfach es war, ein Geheimnis entstehen zu lassen, dabei half ihr eines Tages die ahnungslose Turnlehrerin.

Die hatte den Spitznamen „Stelze“, weil sie groß und mager war.

In der Turnhalle trug sie einen eng anliegenden dunklen Turnanzug mit unregelmäßigen und wie mit feiner Feder gezeichneten weißen Ringen unter den Armen. Beim sich „Warmmachen“ vor ihren mit schriller Stimme gebrüllten Anweisungen für körperliche Ertüchtigung, verlor sie dann für kurze Zeit völlig ihre sonst übertrieben straffe Körperhaltung. Wenn sie dann mit geschlossenen Augen in sich zusammenfiel, erinnerte sie Line an einen ausrangierten, schlaffen Gummiball.

Die Stelze würzte ihren Unterricht hin und wieder mit seltsamen Spielen, die nach Lines Ansicht nichts mit dem Sportunterricht zu tun hatten.

So forderte sie zum Beispiel die Schülerinnen auf, sich dicht nebeneinander in einen Kreis zu stellen. Dann suchte sie ein Mädchen aus, das mit geschlossenen Augen und auf allen Vieren außen um den Kreis herumkriechen und sich auf ihren Zuruf „Halt“, nicht mehr rühren sollte.

Ohne die Augen zu öffnen, durfte das Mädchen dann sein Gegenüber betasten, um heraus zu finden, um welche Klassenkameradin es sich handelte.

Wurde richtig geraten, durfte die von der Stelze tüchtig Gelobte außerhalb des Kreises bleiben und eine weitere Kandidatin aussuchen, die ihr Gegenüber dann vielleicht nicht erriet und zur Strafe wieder in den Kreis zurückmusste.

Irgendwann kam jede mal dran und eines Tages hatte Line sogar zweimal das Glück.

Während sie beim ersten Mal auf allen Vieren, mit dem Gesicht auf Pohöhe der Klassenkameradinnen, ihre Runden zog, kam sie immer wieder an einer Hose vorbei, die einen unverkennbaren Geruch verströmte. Line fand das unglaublich eklig und merkte sich, dass dieser Po neben der dicken Holzsäule stand, an die sie bei jeder Runde mit dem Fuß stieß, so dass sie später wusste, wer dermaßen stank.

Das laute „Halt“ der Stelze ließ Line vor einem der Mädchen auf allen Vieren verharren, dann aufstehen und tasten, nicht erraten und sich dann zurück in den Kreis zu stellen, um schon wenig später wieder in Aktion zu treten.

Der Zufall kam ihr gerade recht.

Sie befand sich tatsächlich genau vor der markant duftenden Hose, als die Stelze „Halt“ rief.

Line richtete sich auf und hielt auch diesmal die Augen fest geschlossenen.

Nicht wenig theatralisch ließ sie die Hände vor ihrer Brust in der Luft spielen, und ohne das Mädchen zu betasten, aber hochkonzentriert zu erscheinen, nannte sie gedehnt seinen Namen. Die „Stelze“, die Line genau beobachtet hatte, und ihr somit nicht unterstellen konnte, gemogelt zu haben, fragte erstaunt: „Woher weißt du das, du hast sie doch gar nicht angefasst?“

„Ich kann sie durch die Luft fühlen“, sagte Line überzeugend langsam und wichtig.

Die „Stelze“ ließ einen merkwürdig erstaunten Blick über Line gleiten und sagte tief beeindruckt: „Das kannst du? Dann hast du ja eine ganz außergewöhnliche Gabe!“

Line freute sich, die Stelze hereingelegt zu haben und verriet ihr nicht, dass diese außergewöhnliche Fähigkeit der vernachlässigten Hygiene einer Rosette zwischen zwei Pobacken zuzuschreiben war.

Außerdem hätte Line auch die „Stelze“ an ihrem Geruch erkennen können, denn der war nicht weniger markant, wenn sie die Arme hob, um ihr beim Turnen am Reck Hilfestellung zu geben.

Und Line hatte noch ein Geheimnis, dass extrem geheim war und auch bleiben sollte. Entstanden war es durch eine Begebenheit, die in Lines Leben bisher einmalig war.

Line liebte den Garten von Frau Mu, denn er war verwunschen, so dass Line sich vorstellte, in eine märchenhafte Welt einzutauchen, wenn sie ihn auf leisen Sohlen durchwanderte, um vielleicht kleinen Geheimnissen und Besonderheiten auf die Spur zu kommen.

Hinter den knorrigen, alten Obstbäumen, wucherte eine gewaltige, undurchdringliche Brombeerhecke. Das Gras ringsherum war jetzt im Herbst welk, aber immer noch kniehoch.

Die Brombeerblätter hielten sich rotbraun gerändert sogar den Winter über an der Hecke, und die trockenen Traubengerippe erinnerten Line wehmütig an den Sommer und die dicken, süßen Früchte, die ihr in die geöffnete Hand gefallen waren, wenn sie nur ganz wenig an ihnen gezogen hatte. Dunkel glänzend war eine nach der anderen in ihrem Mund verschwunden.

Jetzt klebten eine Menge Schnecken in ihren gelb schwarz geringelten Häuschen in dem dichten Brombeergebüsch. Line hatte eine von ihnen mit Daumen und Zeigefinger liebevoll gezwungen, sich von dem Blatt, an dem sie klebte, zu lösen, sie in ihre Handfläche gelegt und angehaucht, bis sie sich von Lines warmem Atem gelockt, aus ihrem Haus wagte und es gekonnt auf ihrem Rücken balancierte, während ihre Fühler ins Leere tasteten. Dann machte sie mit der Schnecke, was alle Kinder mit Schnecken machten. Sie berührte mit den Fingerspitzen vorsichtig die empfindlich reagierenden, ausgestreckten Fühler und flüsterte: „He, du bist ja ganz aus dem Häuschen“. Line beobachtete, wie die Fühler zurückschnellten und sich die Schnecke in ihr Haus zurückzog. Dann setzte sie sie wieder behutsam in die Hecke.

Dabei entdeckte sie die Spinnennetze, die der Tau über Nacht mit glasklaren Perlen verziert hatte und die nun wie feine Häkeldeckchen zwischen den Zweigen hingen.

Line wischte den Schneckenschleim von ihrer Hand ins feuchte, zerzauste Gras und berührte dabei den glitzernden Wassertropfen darin, der kurz erzitterte und dann zwischen den Grashalmen verschwand. Und nur einen Schritt brauchte sie zu tun, um vor der dunkelgrünen Glasscherbe zu stehen, die fest in die Erde getreten worden war.

Dann war sie weitergeschlendert und fand noch mehr Sommerreste, nach denen sie sich bückte, als es genau in der Mitte ihres Rückens grauenhaft zu jucken begann.

Vielleicht war sie von einer der unzähligen Mücken gestochen worden, die filigran, wie winzige dürre Geister aus der Brombeerhecke geschwirrt waren, als Line ihre Stille gestört hatte.

Ihr Rücken juckte dann so schrecklich, dass sie sich lange Gummiarme wünschte, um sie dort einzusetzen, wo die Folter stattfand.

Um nicht verrückt zu werden, hatte sie sich schnell etwas einfallen lassen müssen und hektisch nach einem Stock gesucht, der lang genug sein musste, um zu der Stelle vorzudringen, die ihr gerade das Leben zur Hölle machte.

Und da hatte er gelegen. Pechschwarz und mit einer Rinde, der die Feuchtigkeit im Gras nicht bekommen war und sich nur noch lose an ihm hielt.

Das untere Ende war ein wenig gebogen und daher wie geschaffen für seine Aufgabe.

Line hatte keinen Augenblick gezögert und ihn eilig an ihrem Hinterkopf vorbei von oben in den Jackenkragen und dann ganz gezielt zu der juckenden Stelle geschoben.

Und dann, dann hatte sie sich heftig gekratzt und sofort die große Erleichterung gespürt.

Genussvoll hatte sie sich dann nicht nur dort, sondern am ganzen Rücken richtig kräftig gekratzt. Zufrieden und erlöst, zog sie den Stock dann aus ihrer Jacke und ließ ihn ins Gras fallen. Ihm fehlte inzwischen etwas mehr von seiner schwarzen Rinde.

Line konnte sich danach wieder entspannt der sommermüden Natur widmen. Sie beobachtete eine schwarz glänzende Nacktschnecke, die mit ungezügeltem Appetit einem Pilz zusetzte und lief dann ohne direktes Ziel in den Hof. Die größeren Pfützen dort forderten sie heraus, über ihre breiteste Stelle zu springen und dabei trockene Schuhe zu behalten.

Ein Teil des Himmels spiegelte sich in dem flachen Wasser, und Line hatte in ihm die Wolken über sich sehen können, ohne nach oben schauen zu müssen.

Sie entdeckte die beiden Raben, die hoch über ihr flogen und hatte neugierig ihren Flug bis zum Rand der Pfütze verfolgt.

Auf dem Sommerweg malte sie dann mit ihrer Schuhspitze eine große „Gute Laune Sonne“ und sprang noch ein wenig hin und her, bevor sie nachhause ging.

Lines Mutter und Großmutter warteten schon mit dem Abendbrot.

Line erzählte von den Schnecken in der Brombeerhecke, den großen Pfützen, über die sie gesprungen war, ohne nasse Füße zu bekommen, und sie hatten gestaunt und nur: „Ja, fein“, gesagt.

Die Großmutter half, nachdem sie gegessen hatten, Line ins Bett zu bringen.

Dabei saß Line vor ihr auf dem Stuhl und hielt die Arme hoch, damit die Großmutter ihr den Pullover über den Kopf ziehen konnte. Sie lachten, denn wieder hob das Halsloch im Pullover Lines kleine Stupsnase noch höher.

Beim Ausziehen des Unterhemdchens, hörte die Großmutter plötzlich auf zu lachen und zu reden und hatte mit eindringlicher Stimme Lines Mutter mit „kommst du mal“ gerufen.

Dann hatten sie die Köpfe zusammengesteckt, die sich zwischen Lines Schulterblättern trafen, genau dort, wo es sie vorhin so sehr gejuckt hatte.

Zunächst waren sie stumm und schienen ratlos.

Line wusste nicht, was sie gesehen hatten.

Die Großmutter sah sie beschwörend an, und ihre Frage klang sehr ernst:

„Warst du allein, als du draußen gespielt hast?“

Line hatte mit dem Kopf genickt.

Als die Großmutter die nächste Frage stellte, tauschte sie mit Lines Mutter geheimnisvolle Blicke, als gäbe es da etwas Außergewöhnliches.

„Oder hast du mit einem Jungen ein Spiel gespielt?“

Line schüttelte jetzt heftig den Kopf, weil sie die Frage seltsam fand, hatte sie doch gerade eben gesagt, dass sie allein gespielt habe.

Da die Großmutter Lines Hemdchen, das schmutzig durch ihre Hände glitt, wieder und wieder untersuchte, nahm Line an, dass sie ärgerlich sei, weil sie es ihr erst vorgestern sauber angezogen hatte, als sie das Verhör wieder aufnahm und wissen wollte:

„Oder hat dich jemand ausgezogen und auf die Erde gelegt oder unter einen Busch gezogen?“

Line schaute verständnislos von der Großmutter zu ihrer Mutter und schüttelte vehement den Kopf.

„Aber dein Hemdchen ist schmutzig, und auf deinem Rücken sind schwarze Striemen, da ist doch etwas gewesen.

Warum willst du uns nicht erzählen, was passiert ist?

Hat dir jemand gesagt, dass du nicht darüber reden darfst?

Uns kannst du alles sagen, vor uns darfst du keine Geheimnisse haben, Kind!“

Sie standen wie eine Wand vor Line und furchten voller Sorge die Stirnen.

Aber Line konnte ihnen jetzt unmöglich mit „Rücken heftig mit schmutzigem Stock gekratzt“, kommen. Die wollten eine richtige Geschichte hören, die Line nicht so schnell parat hatte.

Sie befand sich jetzt in einer „Situation“ und hielt es für klüger, eisern zu schweigen.

Doch das veranlasste die beiden erst recht dazu, nicht aufzugeben, um doch noch zu erfahren, was wirklich draußen passiert war, mit der Frage:

„War ein Mann im Hof oder auf der Landstraße, der dich angesprochen hat?

Und bist du mitgegangen und hat er dich angefasst?“

Die Großmutter hielt ratlos inne, und ihre Augen irrten über Lines Gesicht.

Es fiel ihr schwer weiter zu sprechen, und Line schwieg.

Aber sie dachte, was sollte denn das nun, wieso denn ein Mann, welcher denn?

Außerdem würde sie doch niemals mit einem Fremden mitgehen.

Das war doch nur der dreckige Stock!

Und was machte die Großmutter nun mit ihrer Unterhose, warum wendete sie die hin und her, wonach suchte sie? Line fand ihre Situation inzwischen mehr als unangenehm und dann sagte die Großmutter in einem Ton, der eine besondere Gefahr augenblicklich ausschloss:

„Da ist nichts und geweint hat sie scheinbar auch nicht, sie macht auch keinen verstörten Eindruck, aber merkwürdig ist es schon“.

Line saß schweigend und hilflos auf dem Stuhl.

Und sie dachte, was hat meine Unterhose mit meinem juckenden Rücken zu tun,

und sie war dann froh darüber, dass sie keine Zeit mehr mit dummen Fragen verplemperten.

Aber Line spürte, dass sie sie beobachteten und so vorsichtig mit ihr umgingen, als würde sie gleich zu Staub zerfallen.

Ihre Mutter wusch ihr mit unendlicher Zärtlichkeit den Rücken und betupfte einige Stellen mit der rotbraunen, stinkenden Flüssigkeit, die ihr Vater in einem braunen Pappkarton zurückgelassen hatte, als er für immer gegangen war, und die auf der Haut brannte, wie Line schon erfahren hatte, wenn sie sich die Knie aufgeschlagen und ihre Mutter sie damit verarztet hatte.

An den Blicken ihrer beiden Erwachsenen spürte sie jetzt deutlich, dass sie noch immer „geheimnisumwittert“ war.

Das gefiel ihr, und sie hütete sich, dieses großartige Geheimnis preiszugeben.

Line würde auch niemals das Geheimnis preisgeben, das ihr Tim anvertraut hatte.

Er war zwei Jahre älter als sie und sehr stolz auf die Streiche, die er allein oder zusammen mit seinem Freund machte.

Sie hängten nachts Gartenpforten aus den Angeln und tauschten sie aus, so dass am nächsten Morgen unter den Besitzern ein riesiges Durcheinander und Aufregung beim Auffinden der richtigen Pforten herrschte.

Tims bester Freund brach zum Beispiel mit ihm zusammen, nachts, wenn alle schliefen, durch die Dachluke in das Kühlhaus der eigenen Eltern ein und hatte einen Heidenspaß daran, sich mit dem familieneigenen, gekühlten Obst, die Taschen zu füllen.

Sie machten Line zu ihrer Räuberbraut, nahmen ihren runden Handarbeitskorb mit auf ihre nächtlichen Raubzüge und füllten ihn mit reifen Äpfeln und Birnen.

Line holte ihn am nächsten Tag aus dem ausgemachten Versteck, und schob ihn weit nach hinten unter ihr Bett, und war tagelang mit Obst versorgt.

Damit sie nachts schneller vorankamen, benutzten sie fremde Fahrräder, die sie mit reichlich Entengrütze zwischen den Speichen auf den Weiden zurückließen, und die am nächsten Tag von den Besitzern vermisst, gesucht und fluchend gefunden wurden. Tim erzählte Line stolz, dass sie die Räder unterwegs über die Gräben werfen mussten, um weiter zu kommen und dabei würden sie schon mal in einem der Gräben landen.

Und sie bestrichen bei Dunkelheit die Fensterscheiben der Häuser im Dorf mit Schlemmkreide, so dass es am nächsten Morgen keinen Durchblick mehr gab.

Auf den Bauernhöfen füllten sie die abgestellten Gummistiefel bis obenhin mit Maulwurfshaufenerde, die sie vorher herangeschleppt und unauffällig deponiert hatten. Dabei hatten ihnen die Hofhunde gelangweilt zugesehen und auch nachts bei ihren Aktivitäten nicht gebellt, weil sie sie kannten.

Tim vertraute Line und wusste seine Geheimnisse bei ihr gut aufgehoben, um ihr auch eines Nachmittags sein geheimstes Geheimnis anzuvertrauen.

Und Tim erzählte und erzählte mit großem Eifer und betont wichtig, während er Lines staunendes und erwartungsvolles Gesicht genoss und es liebte, wenn ihre Augen an seinen Lippen hingen.

Wenn das Wetter es zuließ, stand die Tür des Krämerladens gegenüber der Kirche offen.

Eines Tages war Tim mit seinem Freund und einer ganz besonderen Absicht dort hineinspaziert. Und während Tim sich ausgiebig mit dem Ladenbesitzer unterhielt und so tat, als könnte er sich nicht entscheiden, ob er Brausepulver, Prickel Pitt, Kaugummi oder die Zitronenbonbons, von denen er leider immer einen wunden Gaumen bekam, kaufen sollte und deswegen beraten werden wollte, schaute sich sein Freund interessiert nach rechts und links zwischen den gut sortierten Angeboten um und strebte gezielt schlendernd dem kleinen Flur entgegen, der zu dem hinteren Ausgang führte.

Vom Ladeninhaber unbemerkt, verschwand er dort im Dämmerlicht und stand dann vor dem großen, offenen Sauerkrautfass, in das er in aller Ruhe, wie mit Tim abgesprochen, hineinpinkelte. Verrichteter Dinge und zufrieden, wegen des gelungenen Streiches, kam er zurück zum Tresen.

Dort sorgte Tim gerade für geringfügigen Umsatz.

Sie schwatzten dann noch freundlich mit dem Krämer, bevor sie vergnügt den Laden verließen, ganz ohne Sorge vor Entdeckung, nicht einmal von denjenigen, die das Sauerkraut irgendwann kaufen und mit großem Appetit essen würden.

Nach dem Geständnis von Tim, biss Line sich auf die Lippen und fragte in sein stolzes Gesicht: „Das habt ihr euch getraut?“

Und Tim sagte: „ Na, klar!“

Tim traute sich nicht nur viel, er gab auch gern an wie Graf Rotz.

Eines Tages rief er alle Kinder zusammen und verkündete, dass er in genau einer Stunde etwas vorführen würde. Er machte die Sache ziemlich spannend und versprach ein Spektakel, das alles Bisherige in den Schatten stellen würde.

Die viel versprechende Vorstellung sollte diesmal an einer Mauer stattfinden.

Nicht an irgendeiner, sondern an dem beliebten, verschwiegenen Ort für diejenigen, die die Einsamkeit allein oder zu Zweit suchten, denn der Trampelpfad an der Mauer vorbei, führte, so weit das Auge reichte, ins Nirgendwo.

Dort hatte Line vor einiger Zeit im langen Gras eine kleine, blaue Schachtel gefunden, aus der sie einen zusammengerollten und weiß gepuderten, transparenten, hellen Luftballon gefischt hatte. Es hatte lange gedauert, bis sie ihn aufgepustet hatte, weil ihr dabei schwindelig geworden war und sie einige Pausen machen musste. Aber er wurde riesig, bis in ihn kein einziger Atemzug mehr hineinging. So einen großen Luftballon hatte auch Lines Mutter noch nie gesehen. Vor Staunen war sie ganz blass geworden, als Line ihn umständlich durch die Tür vor sich her ins Wohnzimmer geschoben hatte. Lines Mutter hatte ihn nicht aus den Augen gelassen und gehaucht: „Woher hast du das?“

Wieso „Das?“, „Den“, dachte Line und jubelte: „Den habe ich gefunden!“

Und dann schien sich Lines Mutter doch etwas zu freuen, als sie Lines detaillierter Schilderung entnehmen konnte, dass er in einem weißen Puder gelegen hatte, bevor sie ihn zwischen die Lippen genommen und zu dieser enormen Größe aufgeblasen hatte.

Aber Line konnte nicht verstehen, warum ihre Mutter plötzlich so ernst wurde und ihr verbot, mit dem Luftballon zu spielen und wenn schon das nicht, ihn doch wenigstens behalten zu dürfen, was mit Empörung ausgeschlossen wurde. Lines Mutter hatte es dann mit seiner Vernichtung sehr eilig gehabt. Sie hatte hektisch nach einer Stecknadel im Nähkasten gesucht und ihn vor Lines entsetzten Blicken und durch einen gezielten Piecks in seine dickste Stelle mit lautem Knall zerplatzen lassen und das schrumpelige Elend dann mit spitzen Fingern in die Küche getragen, in der er für immer verschwunden blieb.

Line hatte wie ein Rohrspatz geschimpft und war wegen der daraufhin tröstenden Worte ihrer Mutter mehr als empört gewesen, hatte sie doch absichtlich für Lines Ärger gesorgt.

Am nächsten Tag beschwerte sie sich bei Tim über diese Gemeinheit.

Aber der hatte sich die Hände vor das Gesicht gehalten und gerufen:

„Mensch, Line, das hast du aufgeblasen, das ist ja eklig!“

Line sah durch ihn hindurch, als sie überlegte, wieso er auch „das“ und nicht „den“ sagte. Und Line warf ihm vor: „Das war nicht irgendein „das“ und eklig schon gar nicht, das war ein wunderschöner, riesiger Luftballon, du verstehst aber auch gar nichts, genau wie meine Mutter!“

Vergnügt und voller Erwartung ging Line nun mit den anderen Kindern rechtzeitig zu besagter Mauer.

Der Wind jonglierte mit den cremefarbigen Blütentellern des Holunderbusches, und die Sonne warf wackelnde Schatten auf die Mauer, an der Tim lehnte und schon auf sein Publikum wartete.

Ganz wichtig bewegte er sich auf die Kinder zu und forderte sie auf, sich dicht nebeneinander zu stellen, denn es sollte nur eine Reihe geben, in der zweiten würde man nicht zu sehen bekommen, was so sehenswert werden würde.

Und nun erklärte er, worum es ging.

Mit allem hatte Line gerechnet, aber damit nicht.

Es ging um eine Warze, und zwar um seine dicke Warze am Knie.

Und er machte es zur Bedingung, dass noch ein letzter Blick auf sie geworfen werden sollte, und zwar aus nächster Nähe.

Dazu hob er das Bein leicht an und hielt es dann mit gefalteten Händen in der Kniekehle in die Höhe.

Das ist ja widerlich, dachte Line.

Jeder wüsste doch, wie eklig eine Warze aussah.

Doch sie hatte sich geirrt, wenn sie das glaubte, denn die Nasen der anderen Kinder berührten inzwischen ziemlich begeistert beinahe diesen ekelhaften, bleichen, blumenkohlähnlichen Auswuchs. Dann stellte Tim sich breitbeinig hin und gab zu verstehen, dass sie gleich die einmalige Gelegenheit hätten, zuzusehen, wie er in kurzer Zeit dieses eklige Ding loswerden würde. Von der Großmutter wusste Line, dass man eine Warze mit einem Zwirnfaden abband, damit keine Blutversorgung mehr stattfand. Das bewirkte, dass sie abstarb und nach wenigen Tagen abfiel.

Bei Vollmond begrub man sie dann unter einer tropfenden Regenrinne und war sie für immer los. Es gab aber auch Frauen, mit einer besonderen Gabe, die Warzen besprachen, damit sie verschwanden. Aber beides funktionierte nur, wenn man ganz fest daran glaubte.

Nun bat Tim seine Zuschauer um die volle Aufmerksamkeit.

Er holte tief Luft, nahm allen Mut zusammen und rief mit starker Stimme: „Achtung, seid ihr bereit zu erleben, wie diese Warze entfernt wird, dann wendet eure Blicke nicht ab!“

Nicht nur Line stockte der Atem und niemand gab einen Laut von sich.

Und sie hielt sich vorsichtshalber die Augen zu, aber nur so weit, dass sie trotzdem noch freie Sicht auf Tim hatte, denn verpassen wollte sie auf keinen Fall etwas.

Tim presste seine Lippen zu einem feinen Strich zusammen, sah noch einmal beschwörend in die gespannten Gesichter, fand mit der flachen Hand an der Mauer Halt, schwenkte dann entschlossen sein Bein erst nach rechts, dann mit Schwung nach links und schabte mit einem lauten „Ratsch“ die Kniescheibe mit der dicken Warze an der rauen Mauer entlang.

Line bekam eine Gänsehaut bei der Vorstellung, was da geschehen war.

Die anderen Mädchen kreischten hinter vorgehaltenen Händen „Iiiiiiiiiiih“.

Die Jungen hingegen waren voller Respekt und bekundeten das mit einem anerkennenden „Ohuu!“

Grün im Gesicht und mit der Hand noch fest mit der Mauer verbunden, drehte sich Tim stolz nach seinem Publikum um. Dabei vermied er es sorgsam, sein Knie anzusehen, das jetzt heftig blutete. Das Blut, das als dünner, glänzender Streifen an seinem Bein herunter lief, im Strumpf verschwand und ihn nicht wehklagen ließ, machte ihn zu einem wahren Helden.

War die Warze jetzt wirklich weg?

Um das zu ergründen, beugten sich ausschließlich die Jungen über das blutende Knie und stellten laut und deutlich fest, dass es keine Warze mehr gab.

Doch nun tauchte die nächste Frage auf: „Wo war sie?“

In die Hocke gegangen, durchwühlten sie das Gras, wobei sie mit hellgrünen Flechten und Moosen umschlossene Stöckchen zu Hilfe nahmen, die der Holunderbusch beim letzten Sturm abgeworfen hatte.

Als alle Köpfe zusammensteckten und viele Hände und Augen bis hinunter an die Grasnarbe alles gründlich absuchten, war die Warze endlich mit einem Freudenschrei gefunden und auf einem großen Spitzwegerichblatt, blutleer und kaum wieder zu erkennen, zwischen den Jungenfüßen im Gras aufgebahrt worden.

Tim, noch immer grün im Gesicht, grinste gefasst aber unendlich zufrieden.

Line und die anderen Mädchen hatten den Ort des Grauens zwar angeekelt, aber mit unsagbar großer Bewunderung für Tims Heldentat, sich das getraut und das Blut und den Schmerz ohne zu jammern ertragen zu haben, längst verlassen.

Line ging nicht mit ihnen und hatte sich dann mal wieder abgesondert.

Ihr war der wunderschöne, hellgrüne, samtene Teppich aus Entengrütze wieder eingefallen, den sie Tage zuvor entdeckt hatte. Der Teppich war so groß, dass er den breiten Graben von einem Ufer zum anderen bedeckte. Sie ging rasch ihrem Ziel entgegen und am Ufer des Grabens in die Hocke. Mit großer Ergriffenheit schaute sie auf die Millionen winziger, hellgrüner Blättchen, die dicht aneinandergedrängt keinen Blick auf das dunkle Grabenwasser zuließen, und sie wünschte sich nichts mehr, als diesen Teppich nur einmal ganz wenig mit den Fingerspitzen zu berühren. Doch dabei wagte sie sich zu weit vor, erkannte schnell, dass sie das Gleichgewicht zu verlieren drohte, ruderte noch Hilfe suchend mit den Armen und kippte dann wie in Zeitlupe nach vorn und dann unaufhaltsam mit dem Gesicht voran in die Entengrütze.

Line spürte staunend, wie sie langsam in dem wunderschönen Hellgrün versank.

Sofort spürte sie das kalte Wasser, das durch ihre dicke Schafwolljacke über ihre Haut kroch und hörte es in den Ohren glucksen und leise rauschen.

Mit offenen Augen erlebte sie die alles verschlingende, dunkle Unterwasserwelt, in der sie nichts, aber auch gar nichts erkennen konnte.

Und ohne sich zu bewegen, tauchte sie dann wieder auf und begann sofort wild mit Armen und Beinen zu strampeln.

Aus ihrem Mund war kein Laut zu hören.

Nur eine ordentliche Menge Grabenwasser und mindestens einen gehäuften Löffel voll Entengrütze spuckte sie in weitem Bogen aus. Dann holte sie mit einem tiefen Atemzug Luft, während sie weiterhin alles tat, um nicht wieder zu versinken.

Aus ihrer nassen Fischperspektive, waren nun schwarze Stiefel zu sehen, die kraftvoll immer wieder von einem Ufer zum anderen sprangen.

Für Line unbegreiflich, weil sie darin keine direkte Aktion für ihre Rettung erkennen konnte, mit der es doch etwas eilte, wenn sie noch lebend geborgen werden sollte.

Und während ihre Muskeln erschlafften und sie erneut versank, dabei wieder reichlich Grabenwasser schluckte und über ihr wild hin und her gesprungen wurde, versuchte sie mit letzter Kraft zu überleben und strampelte durch den hellgrünen Entengrützenteppich ebenfalls von einem Ufer zum anderen, nur nicht synchron mit den Stiefeln, so dass es ihrem Retter nicht möglich war, sie mit der Hand, die er immer wieder nach ihr ausgestreckt hielt, zu packen. Die Aussichtslosigkeit, ihrer habhaft zu werden, ohne dass er selbst im Graben landete, ließ ihn barsch nach einer Forke schreien, mit der man Kuh- und Schweineställe ausmistet, die ihm auch umgehend im Laufschritt gebracht wurde.

Line sah entsetzt auf die langen, spitzen und dreckverkrusteten Zinken der Forke über sich und bekam grauenhafte Angst, entweder durchbohrt oder ertrinkend, jeden Augenblick sterben zu müssen.

Und wie von ihr befürchtet, kam die Forke näher und näher und spießte sie tatsächlich auf. Sie fühlte deren Aufdringlichkeit an ihrem Rücken, jedoch ohne einen Schmerz zu empfinden, den sie erwartet hatte und der beim Durchbohren ihrer Haut doch nicht ausbleiben würde. Aber ihr Retter hatte mit der Forke geschickt in die groben Maschen ihrer dicken Schafwolljacke gestochen, sie dann wie einen dicken Fisch aus dem Wasser geangelt und eine Winzigkeit lang über dem Graben in die Höhe gehalten.

Zu ihrem Entsetzen hatte Line ein großes, schwarzes Wasserloch in dem wunderschönen, hellgrünen Entengrützenteppich unter sich gesehen und eigentlich nur deshalb bittere Tränen geweint, während ihr über alle Maßen kalt war, ganz davon abgesehen, dass sie ununterbrochen triefte. Auf den Armen ihres Retters wurde sie dann im Galopp durch den großen Gemüsegarten des Verrücktenheims und unter Frau Mus Obstbäumen hindurch getragen und ihrer Mutter übergeben, die dem Retter über alle Maßen dankte.

An ihrer Schafwolljacke hielten sich die kleinen, flachen, hellgrünen Wasserpflanzen mit ihren zarten Wurzeln fest und entlockten Lines Mutter mehrere tiefe Seufzer, als sie später versuchte, sie mit den Fingerspitzen aus der Wolljacke zu ziehen, nachdem sie Line trocken gerieben und erst einmal ins Bett gesteckt hatte.

Die Großmutter hielt den Tod durch Ertrinken nicht für so schlimm, weil das wie ein Rausch sein sollte, beinahe wie ein Traum, aus dem man nicht wieder erwachte, nachdem sie Line in die Arme genommen und bezeugt hatte, wie glücklich sie doch sei, sie noch lebend wieder zu sehen. Und dann sagte sie, dass das Unglück nicht schläft und dass ein Unglück selten allein kommt und dann auch noch, wer sich in Gefahr begibt, kommt darin um. Und als sie in Lines ängstliches Gesicht schaute, sagte sie schnell, um Line nicht völlig zu verstören, dass alles Schlechte aber immer auch eine gute Seite hätte. Line war dann trotzdem ganz durcheinander.

Die gute Seite konnte sie überhaupt nicht erkennen. Sie wollte auch nicht darüber nachdenken, welches Unglück denn noch kommen würde. Aber dass sie nicht mehr so abenteuerlustig sein sollte, wie ihr Retter meinte, dass dieses unfreiwillige Bad verhindert hätte, nachdem er sie triefend bei ihrer Mutter abgeliefert hatte, darüber wollte Line nicht mit Tim, aber mit Lüder reden, weil Lüder viel mehr Mitgefühl mit Mädchen hatte und geteiltes Leid halbes Leid ist, wie sie von der Großmutter auch noch in anderer „Situation“ getröstet worden war.

Kuckucksspucke

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