Читать книгу Die Hexe zum Abschied - Günter Billy Hollenbach - Страница 22

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So weit, so gut. Hoffentlich auch für die Ärztin.

Sie hat sich nicht in heulendes Elend verwandelt, ist bei der Sache, spricht gefasst; sicher dank ihrer Berufserfahrung. Ich fühle mich ermutigt, den Schritt auf schwieriges Gebiet zu wagen.

„Frau Neskovaja, ich bin sicher, Sie können noch mehr sagen, ohne die Angst vor Schuster.“

Sie schaut mich an, als hätte sie mich missverstanden.

„Schuster kann es nicht gewesen sein. Also wer dann?“

Absichtlich verheimlicht hat sie wahrscheinlich nichts.

„Wirklich, keine Person fällt mir ein, die mir das tun möchte.“

„Vergessen Sie Personen. Lassen Sie uns neu denken. Vielleicht ist Ihr Gedächtnis besser als Sie denken. Viel besser.“

„Wir können mein Gedächtnis noch besser machen?“

„Sie machen es. Ich helfe ein wenig. Es ist ganz einfach. Haben Sie Lust, es auszuprobieren?“

Sie lacht los.

„Wenn nicht weh tut, können wir testen.“

„Natürlich, ohne Schmerzen. Sie bleiben dort sitzen, schließen erneut die Augen und atmen ein und aus.“

Sie hat bereits die Augen geschlossen und zu atmen begonnen.

„Gut so; wie eben auf der Brücke. Aber jetzt wird es anders. Ganz langsam, völlig entspannt, gehen Sie jetzt zurück bis vorige Woche Donnerstag Nachmittag. Wir können jederzeit aufhören. Alles geschieht nur im Kopf. Jetzt sitzen Sie in Ihrem Auto und fahren nach Hause. Lassen Sie sich Zeit.“

„Oh ja, geht gut. Fahre ich vor meine Garage neben unserem Haus.“

„Sehr gut, langsam, ganz entspannt. Tun Sie jetzt genau das, was Sie anschließend gemacht haben, okay?!“

„Motor aus, jetzt Handbremse. Dann mache ich Autotür auf.“

„Haben Sie Ihre Tasche?“

„Ja, ja, ja, Handtasche und Buch, sind neben mir, nehme ich jetzt, Autotür geht auf, Schlüssel fällt auf die Erde. Ich bücke und hebe den Schlüssel auf.“

„Sehr gut, genau so, jeden Schritt weiter.“

Ein wenig vorgebeugt, halb sitzend, halb stehend, stützt sie die Arme seitwärts wieder auf das Bett, atmet mit geschlossenen Augen regelmäßig und ruhig. Ich winkele meine Beine stärker an, bin sprungsbereit, falls sie unwillkürlich nach vorn oder zur Seite rutscht. Doch sie steht ruhig da, hat einen beinahe zufriedenen Gesichtsausdruck.

„Jetzt weiter vor unser Haus, wenige Schritte, gehe ich zwei Stufen, an die Haustür.“

„Sehr gut. Können Sie das Türschloss sehen?“

„Nicht Türschloss. Meine Schlüssel. Muss ich immer suchen mit viele Schlüssel, bis ich passenden Schlüssel ... jetzt ist der richtige Schlüssel, jetzt sehe ich Türschloss, drehe Schlüssel, Tür geht ...“

Sie bricht unvermittelt ab. Ihr Kopf ruckt ein wenig hoch.

„Ganz ruhig, alles ist nur im Kopf. Was ist das? Was sehen Sie ...?“

Frau Neskovaja macht große runde Augen.

„Nein, anders. Sticht, es sticht ...“

Sie schließt die Augen wieder, hebt den rechten Arm, deutet mit dem Zeigefinger in den rechten hinteren Nackenbereich.

„Da, das ist typischer Schmerz wie von einen Stich, ...“

Sie reißt erneut die Augen auf, schaut mich entgeistert an.

„Injektion, ist Schmerz wie Injektion hier oben, hinten. Mein Gott, nein!“

„Bitte, nur noch eine Sekunde, Frau Neskovaja. Schließen Sie noch einmal die Augen, genau wie eben, wie Sie den Stich spüren. Ganz kurz, ist schnell vorbei. Geht das?“

Sie dreht den Kopf wieder nach vorn und senkt die Augenlider.

„Fühle ich den Stich noch einmal. Dunkel kommt über meine Hand am Türgriff. Nichts mehr. Alles weg.“

„Sehen Sie eine Person?“

„Nein, plötzlich nur Angst in der Brust, große Angst!“

„Aus, vorbei! Vergangenheit. Vergessen Sie es, kommen Sie hierher, machen Sie die Augen auf!“

Neben der Haustür steht Grün, ein Gebüsch, sagt sie wie etwas außer Atem. Die Person hat dort gewartet, bestimmt. Frau Neskovaja schaut mich erstaunt, ein wenig verwirrt, an. Ähnlich mag sie aussehen, wenn sie aus dem Schlaf erwacht.

„Fertig, Frau Neskovaja. Wir hören auf damit, okay?!“

„Ja, gut. Ich werde mit Herr Dr. Teng sprechen. Das ist sehr gute Methode. Geht genau wie Tao für ein starkes Gedächtnis. Vielen Dank.“

„Und bitten Sie ihn, am Hals nach der Einstichstelle zu suchen. Das wäre der beste Beweis, wie gut Ihr Gedächtnis arbeitet.“

„Will ich fragen. Ich kann Niko, den Krankenpfleger fragen.“

Am liebsten hätte ich selbst nach dem Einstich gesucht, halte aber den medizinisch gebotenen Abstand.

„Augenblick, es geht noch weiter. Wir wissen jetzt, jemand hat Ihnen etwas gespritzt, und Sie sind sofort bewusstlos geworden, richtig?“

Sie sieht mich immer noch mit erstaunten Augen an, nickt langsam.

„Ja, ist richtig. Muss so gewesen sein.“

„Gut. Jetzt stehen wir zwei wieder auf der Brücke und schauen hinab auf den Güterzug. In einem Wagen ist der Stich. Sie sind Ärztin. Sie kennen sich aus mit so etwas. Sie sehen die Injektion dort unten und überlegen ganz sachlich: Welches Medikament bewirkt in kurzer Zeit diese Art der Bewusstlosigkeit?“

Sie zieht die Augenbrauen zusammen.

„Typische Reaktion ist bei schnellen Blutdruckabfall, Senkung von Blutdruck. Gibt es Medikament wie Bisopolol und noch andere.“

Sie hebt ihre rechte Hand erschrocken vor den halboffenen Mund.

„Was ist? Sagen Sie, was Sie denken.“

„Muss die Person ... Man muss medizinische Kompetenz haben für diese Art Angriff ... und Beziehung zu Medikamentenbeschaffung.“

„Was bedeutet das?“

Sie zögert mit der Antwort.

„Das weiß ich nicht. Kann bedeuten, jemand aus Nordwest-Klinik hat das getan.“

Sogleich schüttelt sie zweifelnd den Kopf.

„Ich glaube nicht. Niemand da tut das. Niemand da ist mein Feind. Man kann nicht alle als Freund haben. Manchmal gibt es Streiterei. Aber nicht böse wie so etwas. Habe ich nur eine wirklich gute Freundin; in Gynäkologie, ist Frauenärztin. Wir sind alle normal gute Kollegen. Nein, ich glaube nicht.“

„Gut, Frau Neskovaja, Ende des Kopfzerbrechens. Darf ich Ihnen meine Visitenkarte hier lassen? Wenn Sie wollen, machen Sie die Gedächtnisübung noch einmal. Aber nur, wenn Sie Lust haben. Vielleicht entdecken Sie weitere Dinge, die hilfreich sind.“

„Ja, bitte, legen Se Visitenkarte auf das Yoga-Kissen.“

„Sind Sie damit einverstanden, dass ich mit meiner Frau, Hauptkommissarin Sandner, über das sprechen, was wir entdeckt haben?“

„Selbstverständlich, können Se machen. Hoffentlich hilft es Polizei.“

„Haben Sie noch einen Augenblick Zeit? Weil ich noch zwei Fragen stellen möchte?“

„Habe ich Zeit hier. Bitte, Se können fragen.“

„Als Sie an dem Tag morgens zur Arbeit gefahren sind, waren die Vorhänge in ihrem Schlafzimmer offen oder ...“

„Waren offen, weil es noch dunkel war draußen, vier Uhr morgens.“

„Danke. Für die zweite Frage sind wir jetzt wieder auf der Brücke über der Eisenbahn. Von hier oben sehen Sie einen Güterwagen, darin diese Frau, sie sieht aus wie Sie. Sie ist gefesselt. Sie beobachten von hier oben. Schauen Sie nur kurz hin. Wenn es unangenehm wird, sofort aufhören. Aber Sie können das, Sie sind geschützt und sicher, die ganze Zeit hier oben auf der Brücke.“

Frau Neskovaja hält den Kopf leicht gesenkt und nickt in kaum sichtbaren Bewegungen. Sie atmet langsam, lauter als vorher, aber gleichmäßig. Soweit verkraftet sie die Reise „zurück“ ganz gut.

„Jetzt erkennen Sie, wie die Frau dort unten aus der Ohnmacht aufwacht und sieht, wie sie daliegt. Sie sehen von hier oben, was die Frau dort unten sieht. Wie waren die Füße der Frau gefesselt? Sie können das sehen von hier oben.“

Frau Neskovaja antwortet beinahe leidenschaftslos:

„War breites Plastikband, zum Kleben, hellgrau. Auch auf dem Mund. Hände waren mit Metallringen zusammen, ähnlich wie von Polizei, hinten auf dem Rücken.“

„Sehr gut. Ihr Gedächtnis arbeitet immer besser.“

Sie öffnet die Augen, lächelt verlegen.

„Geht wirklich gut. Ist jetzt viel weniger Angst. ... Nur wenn ich erinnere, zuerst, mit brennende Schmerzen, totale Panik, völlig wehrlos ...“

„Halt, stopp! Bleiben Sie auf der Brücke über der Eisenbahn. Der Wagen mit der gefesselten Frau ist unter der Brücke verschwunden. Das ist vorbei. Ihr Kopf versteht das, wenn Sie genau jetzt ... hinabschauen! Jetzt sehen Sie völlig neue Wagen, mit Herrn Dr. Teng, richtig?! Und wenn Sie noch ein wenig länger schauen, kommt so ein neuer Wagen und Sie sehen darin eine Frau, die aussieht wie Sie und ganz geheilt ist. Der Wagen kommt immer näher, Sie sehen ihn und es geht Ihnen immer besser, weil Sie sehen, wie Sie gesund werden.“

„Danke sehr, ich verstehe. Mein Kopf kann lernen, von oben auf das Erlebnis schauen und sehen, wie es verschwindet. Ich muss üben.

Und ich erkläre Herrn Dr. Teng die Methode mit Brücke. Die wird er bestimmt gern haben. Vielen Dank.“

Sie zögert.

„Aber bitte, Se können mir glauben, das waren nicht meine Metallbänder und Sex-Sachen. Die Polizei denkt, ich arbeite wie Call-Girl, neben dem Beruf als Ärztin. Total falsch, wirklich. Denkt Ihre Frau auch?“

„Nein, ganz sicher nicht, Frau Neskovaja.“

„Weil, ein Call-Girl, verstehen Se, ist kein guter Mensch. Und selber schuld, wenn das passiert. Denken dumme Leute.“

„Unsinn. Schuld ist die Person, die den Überfall getan hat, niemand anderes. Das weiß meine Frau genau. Natürlich berichte ich ihr, was wir herausgefunden haben.“

„Und bitte sagen Se ihr: Auch Prostituierte sind gute Frauen. Ich habe gesehen Patientinnen mit gebrochene Nase oder Arm. Meisten sind ganz liebe Frauen und haben keine Schuld mit Verletzungen sondern ... leider sprechen nicht viele darüber. Nicht mit der Polizei.“

„Frau Sandner und Frau Conrad wissen das, ganz bestimmt.“

Als sie mir unsicher zulächelt, sehen ihre Augen ein wenig kleiner und ihr Gesicht etwas breiter aus. Wie ein russisches Mädchen vom Lande mit einer herzensguten Seele, geht mir durch den Kopf. Sie wirkt ein wenig verloren, holt tief Luft und stellt halblaut fest:

„Wenn sie ein ehrliches Herz hat, dann wird sie verstehen.“

Ich kann nur stumm nicken.

Bei Aufstehen von dem Yoga-Kissen fällt mir die letzte Frage ein.

„Sie wissen: Menschen hören andauernd und verstehen, was gesprochen wird, auch im Schlaf.“

„Ich weiß, habe ich gelernt, sogar Menschen im Koma können hören.“

„Genau das meine ich. Deshalb: In der Zeit, als die Frau gefesselt und bewusstlos war, hat sie trotzdem etwas gehört. Hat sie eine Person gehört oder zwei? Einen oder zwei Angreifer?“

„Ich ... ich weiß nicht. Ich ... die Frau ... wie ich ... hat kein Bewusstsein ... sie kann nicht ...!“

„Doch, ganz sicher, sie kann! Sagen Sie ihr: Sie muss sich erinnern, weil sie kann!“

„Ist möglich zwei?! Nein ... ich weiß nicht, will ich nicht falsch sagen. Kann sein zwei; ich weiß einfach nicht. Entschuldigung, Herr Berkamp, wollen wir jetzt aufhören, bitte?“

„Na klar. Ich danke Ihnen für die Geduld. Sobald unschöne Erinnerungen hochkommen, gehen Sie im Geist auf die Brücke und schauen von oben darauf. Versprechen Sie mir das?“

„Ja, kann ich tun.“

„Gut; Sie haben meine Visitenkarte. Für Sie wirklich gute Besserung; ganz schnell. Alles Gute.“

„Vielen Dank für Ihren Besuch ... Wenn Se neues Wissen haben über den Täter, vielleicht waren doch zwei, bitte kommen Se wieder. Nachmittags geht leicht. Können wir in Ruhe sprechen.“

„Gerne, mache ich, Frau Neskovaja. Auf Wiedersehen.“

Die Hexe zum Abschied

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