Читать книгу Die Hexe zum Abschied - Günter Billy Hollenbach - Страница 23
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ОглавлениеIch bin gehörig aufgedreht.
Das Gespräch hat wertvolle Hinweise erbracht. Kaum sitze in meinem X-3, gehe ich an die Nacharbeit. Seit Jahren pflege ich eine zuverlässige Gedächtnistechnik. Entspannt sitzend stelle ich mir schräg oben in meinem Kopf einen hellblauen Vorratsraum vor. In den werfe ich alle Gedanken, Stichwörter, Bilder, Gefühle zu einem bestimmten Thema hinein. Anschließend betrachte ich in einem schnellen Zwischenschritt noch einmal alles, was ich in den Gedankenraum getan habe. Am Ende erteile ich ihm den Auftrag, alles sorgfältig aufzubewahren.
Auf dem Heimweg durch Kronberg kaufe ich Benzin, die für die Woche fälligen Lebensmittel sowie – als Streicheleinheiten für die Seele – mehrere Tafeln extraschwarze Schokolade.
Zuhause erwartet mich eine kleine Überraschung.
Frau Dr. Neskovaja hat bereits zurückgerufen. Ihre ausführliche Nachricht auf dem Anrufbeantworter klingt fast ein wenig atemlos, jedenfalls sehr erfreut. Der Inhalt kommt nicht unerwartet.
... Und stellen Se sich vor, Assistent Niko hat mit einer Lupe gesucht und einen Stich von Injektion entdeckt ... tatsächlich ... rechts hinten am Hals, wo ich gezeigt habe. Vor allem haben Se mir eine wilde Löwin in den Kopf gesetzt, sehr schön und sehr stark. ... Mit Stehen auf der Brücke und Hinabschauen auf meine Vergangenheit. Habe ich jetzt probiert mit vielen Dingen von früher, unglückliche Liebe mit ersten Freund und später Verlassen meiner Heimat nach Deutschland. Viele Sachen sind immer noch traurig, aber jetzt besser zum Lachen und zum Verstehen. Bald bin ich selber starke Löwin. Und bitte Entschuldigung noch einmal ...
Inzwischen ist sie sicher, von zwei Personen überfallen worden zu sein, obwohl sie das nur fühlen, aber nicht beweisen kann.
Zum Schluss nennt sie ihre Frankfurter Adresse und schlägt vor, mit Nachbarn im Haus zu sprechen. Vielleicht sagen die mir mehr als der Polizei, wenn ich so hilfreich frage wie bei ihr.
Beim zweiten Abhören der Nachricht wird mir warm ums Herz. Ungekünstelt, anrührend lieb, was da aus dem Gerät klingt. Wenn ich der Frau ein wenig Gutes tun konnte, hat sich die Fahrt nach Königstein vielfach bezahlt gemacht. Diese Art Coachen mache ich besonders gern: ungeplant, beiläufig im Alltag und – zumindest in diesem Fall – einigermaßen zufriedenstellend; für beide Beteiligte.
Manche Tage vergehen viel zu schnell.
*
Eine Stunde gelassene Betätigung an der Kraftmaschine, duschen, schon ist es Zeit für das Abendessen. Am liebsten hätte ich mich gleich in die Aufbereitung meiner Nachforschungen gestürzt. Doch ich bezwinge die Ungeduld, esse bewusst langsam, gestehe mir selbst: Okay, ich bin ein Ordnungsfanatiker. Mona würde begeistert zustimmen.
Wenn ich esse, dann esse ich.
Statt der Fernsehnachrichten schalte ich – endlich – die Musikanlage ein. Zum leisen Klang von Meeresrauschen, einem Pott grünem Tee und einem Riegel Schokolade throne ich am Schreibtisch und kritzele alles, was in meinem hellblauen Gedächtnisraum herumgeistern, auf mehrere Blatt Papier. Das geht fast so leicht wie das Abschreiben der Stichwörter von einer Tafel vor mir, braucht nur Sorgfalt, um leserlich zu bleiben.
Der wichtigste und spannendste Teil geschieht anschließend. In Gedanken setze ich das bisher Bekannte zusammen wie zu einem Theaterstück.
Arbeitstitel: Überfall auf Frau Neskovaja.
Vorhang auf. Wir stehen im Geist zwei, drei Meter vor der Haustür.
Die Frau erreicht die Haustür, jemand tritt neben sie, verpasst ihr eine Spritze in den Nacken; das Zeug muss ziemlich schnell gewirkt haben. Angreifer schnappt Frau und Türschlüssel, trägt sie durch die geöffnete Tür in den Flur ... Spätestens hier wird die Geschichte von selbst holprig, immer weniger überzeugend.
Es muss eilig gehen. Welcher Angreifer schafft es, eine ohnmächtige Frau mit mindestens durchschnittlichem Körpergewicht aufzufangen, zu halten und gleichzeitig die Haustür zu öffnen? Oder die Treppe hinauf zu tragen? Wie viel Zeit vergeht oben mit dem Finden des passenden Schlüssels, dem Aufschließen der Wohnungstür? Wie bringt Angreifer Injektionsspritze und Sex-Spielsachen hoch in die Wohnung? In einer Jackentasche – schwer vorstellbar. Er muss einen Beutel, eine Tasche bei sich haben. Das macht den ganzen Vorgang noch umständlicher.
Stopp! Abbrechen! Szene neu schreiben.
Der Überfall kann sich nicht auf diese Weise zugetragen haben.
Ein Schluck Tee, ein Eckchen Schokolade.
Wie von selbst formt sich im Kopf eine neue Geschichte.
Mit zwei Angreifern.
Jetzt passen die Handlungsteile besser zusammen. Zu zweit lässt sich die Frau leichter auffangen, die Treppe hinauftragen. Kaum in der Wohnung angekommen, fesselt der eine Angreifer die Hände der ohnmächtigen Frau mit den Handschellen auf dem Rücken. Gleichzeitig klebt der zweite Täter ihr den Mund mit Klebeband zu. Jetzt ist das Opfer weitgehend wehrlos, kann nicht mehr um Hilfe rufen, falls es vorzeitig zu sich kommt. Damit sind die Täter fast schon am Ziel. Den Rest, die Füße fesseln und die Kleider vom Leib schlitzen, erledigen sie zügig, aber praktisch ungestört. Vermutlich tragen sie Gesichtsmasken. Besser die Frau sieht die Angreifer nicht, falls sie etwa durch die Verletzungsschmerzen plötzlich zu sich kommt.
Die Geschichte überzeugt mich mehr.
Na schön. Was lernen wir daraus?
Falls die Tat in der Weise abgelaufen ist, bestätigt das eine Vermutung, die mir bereits früher kam: Der, die Täter wollten die Frau verletzen, schädigen, wollten sie bestrafen oder warnen – aber nicht töten. Umkehrschluss: Die Ärztin sollte nicht ganz aus dem Weg geräumt werden. Ein Störenfried oder Hindernis für die Erreichung eines weitergehenden Ziels ist sie nicht.
Der Gedanke ist beruhigend, hilft aber nur wenig weiter.
Antworten auf die naheliegenden nächsten Fragen liefern die bisherigen Erkenntnisse jedenfalls nicht. „Weshalb schädigen?“ oder „Wofür bestrafen?“ Das wäre auch zu schön und einfach?! Zumindest tun sich weiterführender Überlegungen auf.
Ich lege die Füße auf den Schreibtisch, lasse die Wörter „Schädigen“ und „Bestrafen“ in meinem Kopf kreisen. Die alte Angst vor Schuster beseitigt, wirkt Frau Neskovaja aufrichtig ahnungslos über mögliche Angreifer und ihre Motive. Andersherum gedacht – es gibt nichts in ihrem Leben, was sie der Polizei oder mir verheimlichen will. Keinen dicken, dunklen Fleck in ihrer Vergangenheit, den sie selbst insgeheim als einen Grund oder eine verdrehte Rechtfertigung für den Überfall betrachtet.
Für sie das Gute daran: Wenn die Verletzungen und seelischen Wunden verheilt sind, kann sie ihr Leben, womöglich in einer anderen Klinik, neu und sicher weiterleben. Wieso sollte jemand die Frau ein zweites Mal angreifen wollen? Es sei denn ... der Gedanken elektrisiert mich geradezu.
Erpressung!
Wenn die Täter sie zu einem Dienst nötigen wollen. Zu einer Leistung, die Frau Neskovaja nicht – oder nicht mehr? – erbringen kann oder will. Dann hätte die Sache doch sehr viel mit ihr selbst zu tun.
Und jemand will ihr schmerzhaft klarmachen, in Zukunft gefälligst zu spuren ... oder erneut ähnlich oder noch härter bestraft zu werden.
Das erinnert an Mafia-Methoden. Wozu könnte man sie erpressen? Zur Sex-Arbeit als Domina? Dann wären die Sex-Spielsachen keine Ablenkung für die Polizei sondern eine Aufforderung an die Frau.
Oder geht es um ihre Tätigkeit als Ärztin?
Damit sie Unterwelt-Verletzte zusammenflickt?
Oder Drogen und Medikamente aus dem Krankenhaus beschafft?
Wer derart brutal erpresst wird, weiß warum. Und schleppt eine beträchtliche Angst vor der nächsten Warnung mit sich herum. Kann jemand in der Verfassung so unbefangen meine Fragen beantworten, wie Frau Neskovaja es getan hat? Wohl eher nicht.
Nur durchtriebene und geübte Lügner sind dazu fähig. Zudem war die Frau nicht auf meinen Besuch und meine Fragen vorbereitet, hat mir keine vorgefertigten Antworten aufgetischt. Nebenbei gibt es für mich noch einen überzeugenden Grund: mein Drittes Auge. Wenn die Frau etwas Wichtiges, womöglich Bedrohliches, verheimlichte, das ihr selbst große Angst macht, hätte in meiner Stirn eine Warnung gekribbelt.
Auch bezüglich der Mafia-Methoden kommen mir starke Zweifel. Die Art der Verletzungen spricht dagegen. In meiner Vorstellung gehen Mafia-Täter zwar brutal vor und verhöhnen ihre Opfer auch. Aber greifen sie gezielt nur die weiblichen Geschlechtsteile an und verletzen sie? Dieses Verhalten enthält einen deutlichen Zug heftiger Wut oder Rachegelüste, die der Frau gegolten haben.
Der Angriff als Teil einer Erpressung sagt mir nicht zu. Beachtlich: Die Täter verfügen zumindest über medizinisches Grundwissen und Zugang zu starken Blutdrucksenkern. Obwohl ... heutzutage; wer im Internet sucht, findet zu allem Möglichen Auskünfte und Handlungsanweisungen. Und kann Dinge kaufen, die gewöhnlich nicht einmal unter dem Ladentisch zu haben sind.
Als ich meine Aufzeichnungen erneut durchblättere, stoße ich wieder auf die Notizen aus dem gestrigen „Remote Viewing“. Die weibliche Stimme! Dass sie überhaupt etwas sagt, nehme ich als klaren Hinweis. Dazu Neskovajas Gefühl im zweiten Anlauf. Ergebnis: Egal, was die nette Frau Conrad oder mein Herzblatt Corinna denken: Ich unterstelle zwei Angreifer. Und mindestens einer davon ist weiblich.
Damit bieten sich Fragen zur Gefühlsverfassung der möglichen Täter geradezu an. Keine Nachbarn, keine Zufallsbekannten, die gemeinsam eine solche Tat begehen.
Beide Angreifer haben eine engere, vorher bestehende Beziehung zueinander. Einmaleins der Merkmale von Zweierbeziehungen; bei solchen, die wiederholt Straftaten begehen, häufig besonders deutlich ausgeprägt: Einer gibt den Ton an, der zweite, vielleicht die zweite, hat die Neigung, zu folgen. Selbst bei einem erkennbar riskanten Vorhaben. Wenn sie das Neskovaja-Wagnis trotzdem eingegangen sind, fühlten sie sich sicher? Waren sie auf eine vorzeitige Flucht eingestellt, ein Scheitern oder gar ihre Entdeckung und Verhaftung? Jedenfalls erfordert das Vorgehen ein hohes Maß an Vertrauen zueinander. Zusätzlich verstärkt durch ein tiefes Misstrauen gegenüber der Umwelt. Von der man sich bedroht fühlt? Womöglich verbunden in Wut und Hass auf eine oder mehrere Personen, denen man etwas heimzahlen will?
Halt, Berkamp, es reicht! Du fängst an zu spinnen. Morgen ist auch noch ein Tag.
Ob meine Corinna oder OK Conrad während ihres Dienstes Zeit und Ruhe finden, den Fall – wie ich heute Abend – gründlich zu bedenken? Mir kommen Zweifel daran. Corinna und ähnlich spinnen? Das möchte ich erleben. Grund zur Überheblichkeit gibt es dennoch nicht. Ich habe zwar mehrere denkbare Möglichkeiten im Kopf und auf dem Papier durchgespielt und teilweise verworfen. Doch wirklich weitergekommen bin ich nicht.
*
Während meiner üblichen Tagesabschluss-Meditation danke ich meiner Cassandra-Intuition für ihre aufmerksame Begleitung durch den Tag. Und bin – ich gestehe es – ziemlich zufrieden mit mir. Im Einschlafen schweben meine Gedanken davon. Einmal mehr in Richtung San Francisco zu einem großen, silbernen, lächelnden Halbmond in einem nachtschwarzen Himmel über der Bucht.