Читать книгу Die Hexe zum Abschied - Günter Billy Hollenbach - Страница 28
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ОглавлениеMein Interesse für den Überfall auf Frau Dr. Neskovaja entfaltet eine unerfreuliche Nebenwirkung. Gleichgültig, ob ich am Schreibtisch einen Kundentext verfasse, unter der Kraftmaschine liegend Gewichte drücke oder am Herd in der Bratpfanne herumrühre; stets meldet sich der Gedanke: Es geht nicht voran, ich kann nichts tun.
Die Erinnerung an die kleinen Sticheleien zwischen Corinna und Frau Conrad gestern im Präsidium beschert mir zwar wiederholt ein inneres Grinsen. Es tröstet mich jedoch stets nur flüchtig über die Untätigkeit, zu der mich meine Lage als Hobby-Kriminalist zwingt. Nicht einmal meiner erschöpften Corinna kann ich etwas Gutes tun. Sie zu einem Abendspaziergang außer der Reihe überreden, allein oder am liebsten zu zweit ... vergiss es.
Na schön; hoffen wir, dass sich meine Hinweise für den Fortgang ihrer Ermittlungen als brauchbar erweisen.
*
Wenn ich allein bin, begleiten planlose Gedankenausflüge mein Mittagessen. Die sind seelenbekömmlicher als Dudelmusik oder überwiegend nichtssagende Meldungen und bedeutungslose Meinungen in den mittäglichen Radiosendungen.
Vera Conrad, wer hätte das gedacht: Sagt ihrer Chefin auf freundliche Weise ein paar unbequeme Wahrheiten ins Gesicht. Das gefällt mir. Mit der beiläufigen Bemerkung über Vertrauen hat sie ins Schwarze getroffen. Und Corinna hoffentlich ins Grübeln gebracht. Jedenfalls scheint sie ihrer Kollegin und mir bei passender Gelegenheit einen kleinen Beziehungsverrat zuzutrauen.
Wenn die wüsste.
Zum Glück habe ich Corinna nur das Nötigste von den Gefahren erzählt, denen ich in San Francisco ausgesetzt war. Brutal seitens der beiden Chinesen, die das Janey-Herzchen entführen wollten. Und hautnah durch Damen, die sich mit unterschiedlichen Vorzügen und Fähigkeiten um meine persönliche Sicherheit und mein Wohlergehen gekümmert haben; zugegeben unter nicht alltäglichen Umständen.
Aber hier geht es viel sittsamer zu; auch was Frau Conrad betrifft.
Coachen kann sinnvoll sein. Klar, dass ich so denken muss. Auch für eine Kriminalkommissarin. Vorausgesetzt, sie gerät an den richtigen Gesprächspartner, der Privates und Berufliches trennen kann.
Wenigstens ganz grundsätzlich.
Zum Bespiel ... an jemanden ... wie mich.
Coachen für Kriminalisten? Ohne selbst einer zu sein?
Genau deshalb.
Von der klassischen Gesprächstherapie halte ich nichts. Einsicht in vergangene Sünden hilft selten gegen ihre zukünftige Wiederholung.
Wissen und Erfahrungen werden im ganzen Körper gespeichert, nicht bloß im Kopf. Die Inhalte, sozusagen die technischen Details der Probleme, die mir Klienten vortragen, bleiben bei mir grundsätzlich links liegen. Statt dessen achte ich auf die Art, wie sie damit in Kopf und Körper umgehen. Wenn jemand eine Schwierigkeit wie eine Last mit sich herumträgt, interessiert mich die Körperhaltung der Person mehr als die Entstehungsgeschichte der Last. Und wenn ich ihnen vorführe, was der Kopf beim Denken und Sprechen alles tut, und wie leicht sich das verändern lässt, bleibt manchem Klienten – wie man so sagt – die Spucke weg.
Von meinen Coaching-Kunden lerne ich oft ebensoviel wie die von mir. Schon höre ich den Einwand: Was kann ich kriminalistischer Laie einer ausgebildeten und alltagserfahrenen Oberkommissarin an brauchbaren Denkanstößen vermitteln? Außer Sprüchen, die bestenfalls Heiterkeitswert haben?
Frau Conrads Lachen wäre die Zeit allemal wert.
Von meinem Können bin ich überzeugt.
Mein bewährtes Beobachtungs- und Denkwerkzeug reicht völlig.
Im richtigen Augenblick die Wortwahl der Kundin zerpflücken, sie auf eine ungewohnte Idee bringen, ihr bisher unbedachte Frage stellen; das bringt mehr als mit Fachausdrücken um sich werfen.
Nebenbei; ganz unbeleckt bin ich nicht, wenn es um den Umgang mit Straftaten geht. Mein Zusammentreffen mit der Polizei und mit privaten Sicherheitsleuten in San Francisco hat mir einige ihrer Denkmuster und Arbeitsverfahren nahegebracht. Insbesondere die Gespräche mit Belinda Carey, die mir das „FBI-Crime Classification Maunual“ geschenkt hat. Die kriminologischen Grundlagentexte darin sowie die zahlreichen, nüchtern beschriebenen Verbrechensbeispiele habe ich aufgesogen wie ein Schwamm.
Die wiederkehrende Befassung mit solchen Fällen birgt eine Gefahr. Man verliert den Sinn dafür, wie sehr jede Tat, ob Raub, Vergewaltigung, Mord oder Brandstiftung, in sich verschieden, letztlich einmalig ist. Den Zustand und die Spuren eines Tatorts zu erfassen, auszuwerten und das Ganze flugs in ein gedankliches Schubkästchen zu packen, reichen demnach nicht.
Was hat Täter und Opfer zusammengebracht? Sich in das Wesen und die Eigenheiten des Opfers zu versetzen, möglichst mit dem Kopf des Täters zu denken, sollten dazukommen. Das ist leichter gesagt als getan. Polizisten halten sich lieber an harte Tatsachen und misstrauen der Phantasie. Denn von dort ist es oft nur ein kurzer Schritt zu Vorurteilen und Selbsttäuschung. Hinzu kommt, die Abscheu vor dem verwerflichen Geschehen hindert viele Beamte daran, sich in den Täter hineinzudenken. Aus Sorge, man könnte seinen Lügen aufsitzen, sein Tun entschuldigen und ihn mit falscher Nachsicht betrachten. Oder gar ein wenig so werden wie er. In Wahrheit kommt es darauf an, den Täter zu verstehen, um ihn erkennen und überführen zu können.
Was für Belinda Carey unerlässlich war, ist keineswegs allgemein übliches Verhalten. Bei den „gewöhnlichen“ Polizisten noch weniger als bei Kriminalisten.
Mit Corinna über diese Denkweise zu diskutieren, habe ich mir abgewöhnt. Bei früheren Versuchen ist sie schnell einsilbig oder abwehrend geworden. Für sie zählen hauptsächlich Tatsachen und kriminaltechnische Befunde. Ich schätze, sie ist ziemlich gut in ihrer Arbeit, tut sich aber schwer, mit Abstand zu erklären, was sie intuitiv richtig macht.
Insgeheim dürfte auch die Scheu mitschwingen, über Dinge zu sprechen, die einen Bezug zu San Francisco haben. Diese Ecke unseres Tischtuchs ist in Corinnas Denken wohl dauerhaft angesengt.
*
Entgegen ihrer Gepflogenheit taucht Corinna am Freitag bereits gegen vier Uhr nachmittags im Heim unserer Wochenend-Familie auf.
„Sei ein Schatz und mach mir einen Pott Tee,“ dient ihr als Begrüßung. Ich komme gerade aus der Küche, sehe kopfschüttelnd zu, wie sie den Flur in Beschlag nimmt. Kaum hat sie die Wohnungstür geschlossen, fallen ihre Arbeitstasche und die dunkelgraue Lederjacke auf den Boden, fliegen die Schuhe in die Ecke, gleitet das Sweatshirt über ihren Kopf. Sie knöpft mit schnellen Fingern Jeans und Bluse auf, verschwindet im Badezimmer und startet die Dusche.
Willkommen daheim, Frau Hauptkommissarin.
Ich hänge ihre Jacke an die Garderobe, sammele die Klamotten ein, verstaue ihre Dienstpistole im Tresor im Schlafzimmerschank und setze Teewasser auf.
Einige Minuten später steht Corinna mit noch feuchten Haaren und großen, ungeschminkten Augen im Rahmen der Küchentür, eingehüllt in meinen schwarzen Frottebademantel.
„Na, sag schon, was ist, Herzblatt?“
Als Antwort seufzt sie zum Steinerweichen, kommt langsam näher, legt
beide Arme um meinen Hals und hakt sich fest.
„Kein Wort über diese Frau Neskovaja, meine Vera Conrad oder dein Detektivspiel, verstanden,“ flüstert sie gequält in meine Schulter. Mit einem zweiten Seufzer sinkt sie gegen mich, hängt mehr an mir als dass sie steht.
Ich gehe leicht in die Knie, schnappe mit beiden Händen und einem kleinen „Hepp!“ ihren Po, hebe sie an und trage sie ins Schlafzimmer.
„Ach, tut das gut,“ streckt sie sich schnaufend auf dem Bett aus.
„Die Woche war nervig. Ich bin geschafft. Ich weiß auch nicht, Robert; meinst Du, ob das Alter an mir nagt?“
Während ich – über ihr Gesicht gebeugt – an ihrem rechten Ohrläppchen knabbere.
„Irrtum, Corinna, das bin ich.“
Statt einer Antwort darauf grummelt sie seufzend:
„Ich bin jedes Mal entsetzt, wie weit weg das Private ist, wenn ich wieder im Dienst bin. Oh ne! Wo ist mein Tee?“
Ich gehe in die Küche zurück, um ihren Tee und ein paar Schokoladenkekse zu holen.
Corinna sitzt, ganz in Beige, in BH, Slip und dünnem Baumwollhemd, mit müden Augen gegen zwei Kopfkissen gelehnt auf dem Bett. Sie verschlingt einen Keks, schlürft einen langen Schluck Tee. Immerhin bemüht sie sich um ein Lächeln und ein wenig Ironie.
„Du weißt doch, wenn ich heimkomme, erwarte ich Tee, Kekse und einen Hausmann, der mir jeden Wunsch von den Lippen abliest.“
„Ah ja! Und welche Lippen wären das?“
Sie schafft ein kurzes, herzhaftes Lachen.
„Siehst Du, das ist der Unterschied: Während ich mich unermüdlich im Kampf gegen das Verbrechen aufopfere, hockst Du daheim und wartest bloß darauf, deinen niederen Gelüsten freien Lauf zu lassen.“
„Tja, Corinna, dein Pech, wenn Du dich mit einem arbeitsscheuen Lüstling wie mir einlässt?! Komm, dreh dich auf den Bauch.“
Ich massiere ihr den Rücken. Langsam und sanft, gelegentlich auch kräftig knetend, vom Hals bis in die Kniekehlen. Sie entspannt sich nach und nach, macht kleine knurrende und schnurrende Geräusche. Wie sie dabei die Augen schließt und langsam schnaufend tiefer atmet, sieht sie allmählich zufriedener aus. Und wird hübscher.
Während ich nach einem Küsschen in den Nacken ihre Oberarme streichele, stellt sie wie im Halbschlaf fest:
„Langsam komme ich mir doof vor.“
Soll ich jetzt widersprechen?
„Stimmt doch. In letzter Zeit machen wir das öfter am Freitag.“
Ob mir das noch nicht aufgefallen ist? Sie, wie eine Scheintote, die wieder in Form gebracht werden muss.
„Na und? Ist doch ein hübscher Übergang von der Arbeit ins Wochenende. Anschließend eine kleine Verführung, wie wäre das?“
„Öh, öh, nee. Vielleicht später. Erst die Arbeit, dann das Spiel.”
Sie richtet sich kurz seitwärts auf.
„Oh Mann, Robert, ich bin echt geschafft, und weiß nicht mal warum. Tut mir leid. Am liebsten würde ich eine Runde schlafen.“
Das Geräusch der zufallenden Wohnungstür beendet unsere Zweisamkeit.
Hallo, ist jemand zuhause? tönt es im Flur.
Nach zwei Takten Stille: Treibt ihr es wenigstens miteinander?
Kurz darauf erscheint Mona in der halboffenen Schlafzimmertür.
„Das wird nichts, in der Lage,“ stellt sie fest, kniet sich vor mir neben das Bett und drückt ihrer Mutter ein Küsschen hinters Ohr.
„Wenn das nicht hilft, Mammi, bist Du nicht mehr zu retten.“
„Mona, Du Nervensäge, wie schön, dich zu sehen.“
Derart herausgefordert, steht die auf, setzt ihr schönstes Gramgesicht auf, wirft die Arme in die Luft.
„Hach, mein Mieder bringt mich um!,“ stöhnt sie theatralisch. „Und diese Migräne! Entsetzlich! Ein Fall für dringende Nothilfe drüben im meinem Zimmer. Berkamp, so tu doch etwas! Ich brauche sofort Mund-zu-Mund-Beatmung und eine Ganzkörpermassage. Anderenfalls springe ich aus dem Fenster.“
Corinna haut ihrer Tochter gegen den Jeanshintern.
„Hau ab, Du Biest. Statt deiner vom Behördenkrieg gezeichneten Mutter gebührend Mitgefühl zu schenken, raubst Du mir den letzten ...“
„Von wegen. Jetzt bin ich dran. Ich habe auch hart gearbeitet. Berkamp, wage nicht, daran Zweifel zu äußern. Wozu sonst haben wir denn einen Hausmann wie dich.“
„Raus, alle beide!,“ befiehlt Corinna bäuchlings in ihr Kissen.
„Von mir aus treibt es miteinander! Aber nicht so doll, hört ihr! Ich habe noch keine Lust auf Oma. Los, raus!“