Читать книгу Die Hexe zum Abschied - Günter Billy Hollenbach - Страница 21
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ОглавлениеBei Frau Neskovaja klingt das CH hart wie im Wort Koch. Ansonsten spricht sie akzentfrei. Ich setze mich halb kniend auf das breite, runde Kissen mit einer angenehm festen Füllung.
„Ich soll wenig liegen, viel bewegen, macht auch gute Figur,“ sagt sie mehr zu sich selbst, lehnt sich mit ausgestreckten Beinen an die Vorderkante ihres Bettes, stützt sich mit den Armen seitlich ab.
„Das Haus, die Räume,“ gestehe ich, „alles hier widerspricht meiner Vorstellung von Klinik.“
„Ja, ist wirklich schön hier,“ bestätigt sie wie in Gedanken.
Ich gebe mir einen kleinen Ruck.
„Sogar Sie passen nicht zu dem, was ich erwartet habe. Sie sehen gut aus, wenn ich Ihnen das sagen darf, strahlend und erholt. Anders als damals im Nordwest-Krankenhaus; da war wohl mehr Hetze.“
„Oh, vielen Dank, das ist sehr freundlich. Stimmt, immer mit Zeitdruck.“
Noch ehe mir eine weitere Freundlichkeit einfällt, erklärt sie:
„Ich kann nicht wieder zurückgehen in altes Nordwest-Krankenhaus.“
Ob sie von der Verunglimpfung als S-M-Domina in der Zeitung weiß und fürchtet, deshalb dort nicht länger beschäftigt zu werden?
„Wie kommen Sie darauf, Frau Neskovaja? Fachärztinnen wie Sie sind gefragt. Wieso sollte das Krankenhaus Sie nicht weiterbeschäftigen?“
„Nein, ist nicht das Problem. Unser Chefarzt ist persönlicher Freund von Dr. Brückmann. Deshalb bin ich jetzt hier, besonders schnell und für preiswertes Honorar. Natürlich will mein Chef mich zurück haben in wenigen Wochen.“
Sie zögert, sieht mich seitwärts an. Ich rücke mein Kissen ein Stück näher, damit wir uns leichter anschauen können.
„Kann ich nicht zurückgehen, von mir aus. Das ist viel wichtiger.“
„Durch das, was passiert ist? Wollen Sie nicht mehr als Ärztin arbeiten?“
„Nein,“ entgegnet sie, als hätte ich das Falsche geraten.
Ihre Stimme kribbelt hellgrün über meiner Herzgegend.
„Ich habe Schock erlebt, ganz bestimmt. Einen Schock und danach noch einen. Hier, seit drei Tage. Der Überfall ist schlimm und ein großer Schock. Aber vielleicht die beste Sache der Welt. Das ist zweiter Schock für mich. Haben Sie schon von Taoistische Medizin gehört?“
„Ta-o-is-tisch?,“ vergewissere ich mich.
„Ja, so heißt, kommt aus chinesischer Sprache.“
„Ja. Ein chinesischen Selbstverteidigungstrainer in San Francisco hat mir die Grundidee des „Tao“ erklärt. Meinen Sie das?“
Ihre Augen beginnen zu funkeln. Sie richtet sich auf, legt ihre Hände auf die Oberschenkel.
„Bestimmt ist die gleiche Idee. Kommt aus altem China und bedeutet ,Weg der Energie’. Weg so wie Fluss.“
Der Energiefluss des Kosmos, erklärt Frau Neskovaja. Man kann ihn benutzen für das ganze Leben, für alles. Auch für das Heilen. Total anders als die westliche Medizin, die sie gelernt hat, wie sie arbeitet.
„Das ist interessant. Und worin besteht der Unterschied?“
Ihr spürbarer Mitteilungsdrang macht mich mit sachlicher Stimme und wissendem Blick zu einem aufmerksamen Zuhörer.
„Ist schwer zu erklären, aber ganz einfach.“
In dieser Klinik arbeitet ein Chefarzt aus China, Herr Dr. Teng. Seine Arbeit beruht auf der Tao-Energie-Lehre. Er sei eine anerkannte Kapazität für den Wiederaufbau der Haut. In China gibt es seit Jahren die beste Medizin weltweit für Hauterneuerung, auch bei starker Verbrennung auf großer Körperfläche. Herr Dr. Teng arbeitet nach diesen Methoden.
Viele Menschen wissen nicht, fährt Frau Neskovaja fort, wie sensibel die Haut ist. Reagiert stark auf seelische Probleme und falsche Ernährung. Durch Alkohol, schlechte Atmung und Rauchen nimmt sie großen Schaden. Deshalb ist gute innere Energie für die Hautheilung wichtig, dazu positive Gefühle.
„Und Bewegung mit tief Atmen für abwechselungsvollen Herzschlag.“
„Klingt sehr einleuchtend.“
„Weil es ist richtig. Kann ich bei mir selbst erkennen. Angriff auf meine Brust war mit Wasserstoffperoxid, mindestens dreißig Prozent, zum Glück war nicht mit Salzsäure. Salzsäure hätte viel größeren Schaden gemacht.“
Sie deutet kurz mit der linken Hand über ihre Herzgegend. In meinem Kopf flackern Vorstellungen ihrer nackten Brüste auf. Unvermeidlich, wenn auch reichlich unpassend. Wenigstens stelle ich sie mir in unverletztem Zustand vor. Frau Neskovajas beherrschte Stimme hilft über meinen Anflug von Verlegenheit.
„Bei mir muss erst Fettgewebe unten darunter repariert werden, in der Brust. Medikament mit Hyaluron-Säure. Danach wird Zellgewebe nebenan mit ganz kleinen Verletzungen und Aufbaustoff so behandelt, dass es zusammenwachsen und alles neu machen kann. Leider geht es langsam, dauert ein paar Wochen. Normale westliche Medizin schneidet Teile von gesunder Haut weg von Oberschenkel und verpflanzt hier oben hin.“
„Danke für die genaue Erklärung, Frau Dr. ...“
„Warten Sie. Ich muss noch erklären. Mit Taoistische Medizin ist das wichtige, Heilenergie zu stärken.“
Heilende Farben im Zimmer und Musik helfen dabei; alles hier ist darauf abgestimmt. Mit Meditation lernt sie, Heilenergie in die Verletzung zu lenken, unterstützt durch ihr Essen mit viel Tofu und grünem Tee. Tofu, reich an Östrogen, sei für sie als Frau hilfreich. Aber deshalb nicht so gut für Männer, hängt Frau Neskovaja an. Weil Männer davon Testosteron-Mangel bekommen können. Oh; ob das bei uns die vielen Leute wissen, die dem Fleischverzehr den Kampf angesagt haben?
Die Frau Doktor schaut an ihren Oberschenkeln herab ins Leere und spricht leiser, beinahe traurig weiter.
„Total anders als in der Nordwest-Klinik; ist nur eine große Medizinfabrik. Mit so viel Patienten.“
Ihre nächste Bemerkung nötigt mir beinahe ein Grinsen ab.
„Immer wie eine Sache, die repariert werden muss. Verstehen Se, ohne Seele, nur der Körper und was für Verletzungen er hat. Wie Schubkasten auf, Medizin rein, Schubkasten zu, Rechnung an Krankenkasse.“
Manchmal, wenn sie einem Patient einfach nur die Hand halte, koste das zuviel Zeit und mache ihr ein schlechtes Gewissen. Wegen der anderen Patienten; und weil sie müde ist und eine Pause braucht.
„So groß ist nicht gut. Herr Dr. Teng hier – leider er spricht nur Englisch und ich spreche Englisch ziemlich schlecht – sein Glauben sagt: Nur wenn der Arzt gesund ist, innen, mit seiner Energie, kann er Patienten Kraft geben und die werden dann selbst gesund.“
Sie ergänzt mit einer Spur Wehmut in der Stimme:
„Das will ich machen, andere Heilarbeit machen, verstehen Sie, mit guter Energie in mir sein, und dann Patienten helfen zum Heilen.“
Wie um sich selbst zu vergewissern, bekräftigt sie:
„Deshalb kann ich dort nicht mehr arbeiten.“
„Und wenn Sie diese neuen Ideen mitnehmen ...?“
„Das geht nicht, nicht in so eine große Medizinfabrik.“
Wenn ich sechs Jahre dort gearbeitet hätte, wie sie, dann wüsste ich, das geht dort nicht. Wegen des Gebäudes, den Zimmern, den Farben, der vielen Patienten, wegen allem.
„Ich glaube, Herr Dr. Brückmann kann mir helfen, eine andere Arbeit finden. In einer Klinik mit guter Energie für Patienten und Arzt.“
Frau Neskovaja sieht mich fragend an:
„Haben Se hoffentlich wichtige Dinge gelernt über Tao-Energie?“
„Ja, das habe ich. Vielen Dank für die interessanten Erklärungen.“
Sie nickt, reibt kurz beide Handflächen aneinander.
„Und jetzt wollen Sie mich fragen?“
„Hhm, ja.“
„Das hat keinen Zweck. Verstehen Se, als Ärztin kenne ich viele schlimme Verletzungen. Se müssen nicht Sorgen machen um mich, wenn wir über den Überfall sprechen. Aber es gibt nichts Neues.“
Sie habe Frau Conrad gestern gesagt, was geschehen ist; alles, was sie weiß. Wozu will ich noch einmal fragen?
Ich probiere es mir einem bewährten Coaching-Trick.
„Ach, wissen Sie, Frau Neskovaja, ich bin nicht wichtig. Ich habe nur zwei, drei Fragen. Die Antworten helfen Ihnen selbst sicher mehr als mir. Wenn klar ist, wer das getan hat, können Sie alles schneller vergessen. Das erleichtert Ihren Neuanfang.“
Sie lächelt nachdenklich.
„Neue Art von Medizin und neuer Anfang für die Seele? Meinen Sie?“
„Ja, genau.“
„Klingt sehr schön. Leider geht nicht ganz einfach.“
Ich schüttele verneinend den Kopf.
„Eh, eh; das geht leichter als man denkt, wenn man auf eine bestimmte Art darüber spricht.“
„Was ist bestimmte Art darüber zu sprechen?“
„Darüber. Nicht von innen, wo Ängste und Schmerzen wieder wach werden. Sondern wie ein Beobachter, der von oben hinabschaut.“
„Ist wie Loslassen, oder? Und trotzdem wissen; sagt Herr Dr. Teng.“
„Schön,“ bestätige ich. „Der meint bestimmt das Gleiche. Wie wenn Sie auf einer Eisenbahnbrücke stehen und runtergucken.“
Man schaut hinab, sieht einen Güterzug näherkommen. Jeder Güterwagen ist oben offen und enthält ein Stück von dem Erlebnis, die Gefühle und was man dabei tut. Der Zug rattert sehr laut. Trotzdem, man schaut mit Abstand von der Brücke hinab auf den Wagen mit dem Geschehen. Sieht, wie alles unter der Brücke verschwindet und leise wird.
„Und Sie beginnen, es zu vergessen.“
„Ein sehr schönes Bild. Machen Se Therapie als Arbeit?“
„Nein, ich erkläre nur Dinge, die der Kopf machen kann.“
Sie nickt kurz entschlossen.
„Jetzt für mich? Se sagen, wie es geht.“
Nach einer Kurzwiederholung des Verfahrens steht Frau Neskovaja mit geschlossenen Augen da, lässt sich von meinen Worten führen, im Gesicht ein sehenswert reges Mienenspiel.
„Und jetzt verschwindet der Wagen mit Schuster darin unter der Brücke. Einfach weg. ... Wie fühlt sich das an?“
„Das war leicht. Geht gut. Herr Schuster ist wirklich tot?“
Bis vorhin hat sie es nicht gewusst und auch nicht geglaubt. Davon bin ich jetzt überzeugt.
„Ja, seit September vorigen Jahres. Sie haben befürchtet, dass er es war, der Sie angegriffen hat, richtig?“
Frau Neskovaja presst die Lippen zusammen, schaut wieder an sich herab, nickt schweigend.
„Was hat Sie auf den Gedanken gebracht?“
„Ich verstehe nicht. Wenn er tot ist, dann kann er das nicht gemacht haben, den Angriff auf mich.“
„Richtig. Wieso haben Sie an ihn gedacht?“
„Weil ich keinen anderen Menschen weiß, der richtig böse Streit gehabt hat mit mir. Damals, wie er Patient war nach Schussverletzung. Er hat totalen Wutanfall bekommen und gedroht. Er hat geschrieen, dass mir noch leid tun soll.“
„Wieso das denn? Sie haben ihm doch geholfen, ihn behandelt.“
„Er hat ein großes Problem gehabt mit Immunabwehr und aggressive Infektion bekommen mit der Schussverletzung. Wir haben unter seinen Armen Injektionen gefunden von Hormone für Muskelaufbau, Steroide, und bei Blutanalyse. Wir waren sicher, dadurch ist seine Infektion hervorgetreten. Ich habe mit Herrn Schuster gesprochen, ... mit guter Absicht, dass er aufhört damit.“
In ihr Zögern hake ich ein: „Aber er hat es bestritten?“
Sie nickt bekümmert.
„Er hat ,nein!’ gesagt, keine Hormone, hat laut geflucht und behauptet, ich gebe ihm falsche Schuld, und hat gemeine Wörter gerufen, können Sie mir glauben, will ich jetzt nicht wiederholen.“
Sie spricht leiser, ihre Schultern sinken ein wenig nach vorn.
„Hat er Ihnen gedroht?!“
„Ja, hat gedroht.“
„Gehen Sie wieder auf die Eisenbahnbrücke, Frau Neskovaja! Sehen Sie den Zug! Darin Schuster. Und ... droht er immer noch?“
Sie lächelt verlegen.
„Der Zug ist viel zu laut. Es geht nicht mehr. Er schreit, aber der Zug ist viel lauter. Komisch, geht so schnell anders? ... Danke, das ist schön.“
„Der Kopf lernt mit Bildern und Tönen am besten; mit Sprache leider nur ganz langsam. Gestern hatten Sie Angst, mit Frau Conrad darüber zu sprechen, weil Sie befürchtet haben, er könnte ...“
„Ja, weil ... Ich habe überlegt, wenn sie weiß, dann weiß auch Herr Schuster, so habe ich gedacht. Deshalb ist besser zu schweigen. Herr Schuster hat Möglichkeiten für ein gutes Alibi oder andere Maßnahmen gegen mich. In Russland niemand vertraut auf die Polizei, müssen Se wissen.“
Sie spielt mit den Fingern vor ihrem Schoß.
„Ganz sicher, Frau Neskovaja. Herr Schuster kann Sie nicht überfallen haben. Und er kann auch in Zukunft nichts gegen Sie tun.“
Sie richtet den Oberkörper auf, nickt nachdenklich, lächelt erleichtert.
„Ist wirklich wahr, Herr Schuster hat Schussverletzung von Ihnen bekommen? Aber Sie sind kein Gangster?“
Ihre Frage klingt so rührend direkt, dass ich grinsen muss.
„Nein, bin ich nicht. Es war Notwehr. Weil Schuster erst auf seine Chefin und dann auf mich geschossen hat. Er hat sehr viel Wut in sich gehabt, auch wegen dieser Muskelhormone. Er hat begriffen, dass er für viele Jahre ins Gefängnis geht, und sein Beruf als Polizist ist verloren. Deshalb hat er kurz danach Selbstmord begangen.“
„So ein Unglück, großes Unglück.“
„Ja, das stimmt.“
„Vielen Dank für offene Information. Das ist wichtig für mich, sehr wichtig. Se verstehen das sicher.“