Читать книгу Die Hexe zum Abschied - Günter Billy Hollenbach - Страница 16
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Оглавление„Noch mal zu Frau Neskovaja,“ schlage ich vor, während wir die Visitenkarten einstecken. „Die muss den Täter gesehen haben. Hat sie vorhin dazu etwas gesagt?“
„Eben nicht. Sie hat keine Ahnung. Sie wacht mit höllischen Schmerzen auf, ist gefesselt und geknebelt, nackt und blutverschmiert. Die Frau muss Todesängste ausgestanden haben. Bei einem derartigen Trauma kommt es häufig vor, dass das Gehirn die Erinnerung daran löscht.“
Na klar, vor allem in Fernsehkrimis; um die Geschichte möglichst spannend zu machen. In Wirklichkeit sind solche Gedächtnislücken – außer bei harten Schlägen gegen den Kopf – sehr selten. Oder von ziemlich kurzer Dauer.
„Und unmittelbar davor?“
„Herr Berkamp, was meinen Sie, wie lange ich das schon mache? Also, ihr Dienst endet am frühen Nachmittag, sie fährt nachhause, parkt ihr Auto, kommt schwer verletzt wieder zu sich.“
„Oh Mann. ... eine nette Person, damals im Krankenhaus. Kommt hier her nach Deutschland, und dann passiert ihr das. Wirkte die Frau glaubwürdig auf Sie?“
„Schwer zu sagen. Sie war sehr gefasst, etwas zurückhaltend, muss wahrscheinlich Beruhigungs- und Schmerzmittel einnehmen. Zum Tathergang gab es nicht mehr zu sagen. Sie konnte niemanden nennen, dem sie die Tat zutraut.“
„Kann es sein, dass Frau Neskovaja Ihnen etwas verschweigt? Etwa aus Angst?“
„Sie fragen ganz schön bohrend, Herr Berkamp. Offen gesagt, ich schließe es nicht aus. Wenn, ja, vor wem hätte sie Angst? Doch nicht vor der Polizei.“
„Warum nicht? Vielleicht aus alter Gewohnheit.“
In Russland vertraut niemand der Polizei.
„Zugegeben. Aber was soll ich machen? Mir ihren Rechtsanwalt und eine Dienstaufsicht wegen Verletzung ihrer Persönlichkeitsrechte einhandeln? Nein danke. Es geht mir zwar gegen den Strich, wenn ich den Fall nicht voran bringen kann. Aber die Frau zusätzlich mit Fragen oder Verdächtigungen zu quälen, das bringe ich nicht.“
„Ist auch besser so. Also, erst mal Stillstand der Rechtspflege, oder?“
„Tja, sieht ganz danach aus. Ich warte noch unsere Technik ab.“
Frau Conrad dippt mit der Kuchengabel ein Stück Apfelkuchen in die Schlagsahne, isst, rollt genießerisch die Augen.
„Und Sie, was wollten Sie wirklich bei ihr?;“ fragt sie im Kauen. „Ohne Blumen, wie es sich für einen Krankenbesuch gehört. Abgesehen davon, dass die aus medizinischen Gründen kein Grünzeug reinlassen.“
„Mitgefühl geht auch ohne Blumen. Ganz einfach, ich wollte ihr meinen Dienst als Privatschnüffler anbieten.“
Sie lacht erfrischend los.
„Jetzt behaupten Sie bloß noch, ich hätte Ihnen einen Auftrag verdorben. Dann fordere ich Schmerzensgeld wegen übler Verleumdung.“
„Die reine Wahrheit. Mich treibt die kriminalistische Neugier.“
Frau Conrad neigt den Kopf, sieht mich erheitert an.
„Na, klar; und ganz nebenbei Corinna. Jetzt mal ohne Nebelwand und Katzendreck, Herr Berkamp. Sie würden für die Dame ermitteln?“
So wahr ich hier sitze.
„Also, Frau Sandner hat Sie nicht vorgeschickt ...“
„Puh, nein, natürlich nicht. Corinna weiß überhaupt nichts von meinem Vorhaben,“ unterbreche ich.
Die Conrad nascht eine Gabelvoll meiner Schlagsahne und überlegt.
„Damit geraten Sie in einen echten Interessenkonflikt.“
Wieso das denn? Verstehe ich nicht.
Das wiederum versteht die Conrad nicht. Was ist, wenn die Neskovaja uns hinters Licht führt? Wenn sich die Sache anders verhält, als sie aussieht. Deren Interesse könnte dem der polizeilichen Ermittlung gänzlich zuwiderlaufen. Frau Conrads Zunge fährt an den Lippen entlang.
„Dann sollten wir dieses Gespräch auf der Stelle beenden.“
Ich gebe mir Mühe, gekränkt zu klingen.
„Bitte! Tun Sie mir das nicht an. Ich könnte etwas finden, was Ihnen weiterhilft. Sie können schließlich nicht überall sein und alles tun – mit Ihren Personalbeschränkungen.“
„Sind Sie wirklich so einfältig? Wenn Sie mit Ihrer Frau darüber sprechen, begehen Sie an Frau Neskovaja das, was bei Rechtsanwälten Parteienverrat heißt; kann zum Verbot der Berufsausübung führen.“
Wie schön, dass ich kein Anwalt bin, stelle ich fest. Für die Neskovaja zu ermitteln liefe schlimmstenfalls auf ein geringfügig belastetes Vertrauensverhältnis hinaus – daheim zu meiner Hauptkommissarin.
„Wie ich die Chefin kenne, stört sie sich an Ihrem Treiben.“
„Mag sein. Andererseits, wenn Corinna zufällig auf meinem Schreibtisch einen Notizzettel mit dem Aufenthaltsort des Täters findet? Dafür nehme ich gern in Kauf, dass sie meine Arbeit für eine Kundin ausspioniert.“
„Ich merke schon, Herr Berkamp, Sie bevorzugen die Grauzone. Wir Staatsdiener können uns diesen Luxus nicht leisten. Wir vertreten nur das Gesetz. Punkt.“
Selbstverständlich. Ich grinse stillvergnügt. Gesetze haben keine Grauzonen oder Schlupflöcher? Und von Beamten, die gelegentlich wegschauen oder unterm Tisch die Hand aufhalten, hat die Conrad noch nie gehört. Die Neuigkeit des Jahrhunderts.
„Ich weiß ja noch nicht, ob Frau Neskovaja meinen Schnüffel-Dienst in Anspruch nimmt.“
Frau Conrad lächelt schelmisch.
„Na, hoffentlich ist sie klug genug und lässt es bleiben.“
*
Vorerst stärker beschäftigt mich der Wunsch nach Bestätigung meiner „fernsichtigen“ Erkenntnisse. In Gedanken gehe ich die Fragen durch, die mir am Vormittag gekommen sind.
„Sagen Sie, Frau Conrad; sind Sie offen für kreative Gedanken?“
Ihre Gabel kreist ein paar Sekunden über dem Rest Apfelkuchen.
„Kann es noch schlimmer werden? Schön. Fragen kostet nichts. Versuchen Sie es einfach.“
„Waren die Vorhänge in Frau Neskovajas Zimmer geschlossen?“
Sie überlegt, schaut sich unsicher um.
„Ja, ich meine, ja. Lässt sich anhand der Tatortfotos überprüfen. Abgesehen davon, was heißt das? Gegenüber sind Büsche und Bäume. Sie meinen, die Dame wurde von draußen beobachtet?“
„Ich frage nur; Sie machen etwas daraus. Gibt es Hinweise auf die Geschwindigkeit des Tathergangs ...?“
„Wie bitte? Die Geschwindigkeit ...?“
Sie schaut mich mit halboffenem Mund und großen Augen an.
„Ja, ganz einfach. Wie schnell? Ein blitzartiger Angriff und der Rest in großer Eile ... oder in Ruhe, langsam und überlegt?“
Frau Conrad atmet hörbar aus.
„Ja, ja, ja! Interessanter Gedanke. Verstehe, deswegen fragen Sie nach den Vorhängen. Wie schnell? Ich müsste raten.“
„Wieso raten?“
„Mann, ich war nicht dabei. Sie etwa?“
„Aber denken können wir beide. Manche Dinge lassen sich schnell erledigen. Andere langsam, genüsslich, buchstäblich quälend langsam.“
„Was geht eigentlich in Ihrem Kopf vor, Herr Berkamp.“
Es klingt nicht wie eine Frage, sondern wie eine Feststellung mit einer Spur Anerkennung. Sie errötet kurz, nippt an ihrer Kaffeetasse.
„Die Verletzungen wirken gezielt zugefügt, genau platziert ...“
„Im Genitalbereich?,“ werfe ich ein.
„Häh, wieso, woher wissen Sie ...?“
„Frau Conrad, bei den Umständen braucht man nicht viel Phantasie. Verstehen Sie nicht? Ein Arztkollege zum Beispiel könnte das zügig getan haben. Anschließend verschwindet der Täter umgehend.“
„Beachtlich. Zu welchen Überlegungen Sie kommen.“
Es hat schon Täter gegeben, antworte ich, die eine Frau vergewaltigen und sich danach seelenruhig in deren Küche Spiegeleier braten.
In meine Freude über unser Gespräch schleicht sich Unbehagen ein.
Die Unruhe in ihren Augen verrät, die Gedanken der Oberkommissarin schweifen ab. Trotzdem folge ich meiner Neugier, will die Gelegenheit nutzen.
„Noch etwas, Frau Conrad: Wie wurde die Dame gefesselt?“
„Wieso habe ich das Gefühl, dass mir Ihre Fragen immer weniger gefallen, Herr Berkamp?!“
„Vielleicht, weil Sie keine Antwort haben.“
„Mann, Sie sind unmöglich.“
Sie sieht mich lange an. So heiter wie bisher wirkt der Blick nicht mehr. Ich schaue zurück, so gelassen es geht. Schließlich greift Frau Conrad nach ihrem Teller, spießt den Rest Apfelkuchen auf, hält jedoch die Bewegung an.
„Beweisbar wissen wir es nicht. Der Freund sagt, die Hände waren mit den Handschellen auf dem Rücken gefesselt. Als er sie fand.“
Die Fesseln habe er spontan entfernt; das würde wohl jeder normale Mensch tun. Der Mann war ziemlich durchgeschüttelt. Seine Frau, Freundin in dieser Lage vorzufinden, dazu die Sex-Utensilien auf dem Bett. Wenn solche Sachen bisher in der Beziehung nie eine Rolle gespielt haben, was würde ich denken?, fragt die Conrad. Obendrein muss der Freund Rettungsleute und die Polizei rufen, fremde Menschen, die notgedrungen Intimes zu sehen bekommen. Will er seine Frau derart entwürdigend darbieten? Natürlich nicht.
„Wurden die Füße der Frau mit silbergrauem Klebeband gefesselt?“
Frau Conrad setzt ihren Kuchenteller unsanft ab.
Ruckartig sitzt sie aufrecht. Ihre sonst puppenähnlich großen Augen haben sich zu schmalen Schlitzen zusammengezogen.
„Was sagen Sie da? Wie kommen Sie ... woher wissen Sie ...?“
Sie macht eine Bewegung mit dem rechten Arm, die mich an den Griff nach der Waffe denken lässt. Dann entspannt sie sich ein wenig und bekommt einen wissenden Blick.
„Also hat Frau Sandner Ihnen doch mehr gesagt ...“
Sie stockt sogleich mit halboffenem Mund:
„Augenblick, als Corinna an den Tatort kam, waren die Asservate bereits erfasst und verpackt. Ich bin ...“ – sie spricht zögernd, nachdenklich weiter – „sehr sicher, sie hat das Klebeband nicht gesehen. .... Von ihr können Sie folglich nicht von dem Band gehört haben ...“
„Natürlich nicht, Frau Conrad. Ich versichere Ihnen, Corinna hat mir nichts dergleichen gesagt,“ bestätige ich.
Sie scheint nicht überzeugt, im Gegenteil.
„Sie, das gefällt mir überhaupt nicht. Keine dieser Einzelheiten ist öffentlich bekannt. Haben Sie mit einer anderen Person aus dem Ermittlungsteam gesprochen? Jemand von den Kriminaltechnikern?“
„Nein, Frau Conrad, Ehrenwort, ich kenne dort niemanden, habe mit keinem Ihrer Leute gesprochen.“
Sie lehnt sich zurück, ihre Miene verfinstert sich deutlich.
„Hören Sie mal, was treiben Sie hier für ein Spiel?“
„Ich bin nur neugierig.“
„Behaupten Sie! Ihre Fragen kommen ungewöhnlich gezielt daher.“
Mit Wissen, dass außer der Polizei nur das Opfer und der Täter haben können. Wenn die Beamten und die Überfallene als Informationsquellen wegfallen, kann nach einfacher Logik nur ich der Täter sein.
„Ich denke, Herr Berkmap, wir setzen das Gespräch im Präsidium fort.“
Verständlich; von ihr aus betrachtet. Dass ich die Neskovaja von früher kenne, habe ich vorhin zugegeben.
Die Conrad meint das ernst, oder?
Ihre Wangen röten sich, dazu vermehrtes Blinzeln, die Lippen zusammengepresst – Alarmzeichen. Obendrein beginnt es über der Mitte meiner Augenbrauen zu kribbeln.
„Stopp, Frau Conrad! Einfache Logik ist zu wenig. Bitte hören Sie zu.“
„Nicht so laut! Wenn uns einer zuhört ...“
Ich rücke ein Stück näher. Sie zieht die Schultern zurück.
„Wir sind allein. Also, Frau Conrad; selbst nach einfacher Logik liegen Sie falsch.“
Im Luftholen beschließe ich, etwas dicker aufzutragen. Wenn die nette Oberkommissarin sich schon ärgert, dann auch richtig.
„Überlegen Sie mal: Bin ich vorhin in die Klinik gefahren, um Frau Neskovaja endgültig umzubringen; glauben Sie das?“
In einem gesicherten Klinikgebäude, vor etlichen Videokameras? Ich hätte ein kleines Blutbad anrichten müssen, wäre aber trotzdem nicht davon gekommen. Hält sie mich für so dumm? Welchen Grund hätte ich für etwas dermaßen Irrsinniges? Nebenbei: Wer Frau Neskovaja überfallen hat, hätte sie bereits am Donnerstag locker umgebracht, wenn das sein Ziel gewesen wäre. Mit weit besseren Chancen, unerkannt zu bleiben als jetzt in der Klinik.
Frau Conrads Miene friert kurz ein, wie um einen völlig abwegigen Gedanken abprallen zu lassen. Dann folgt, unsicher:
„Vielleicht wollten Sie die Frau nur erneut einschüchtern. Schlimmer noch, Sie wollten rauskriegen, was sie uns gesagt hat.“
„Falsch, Verehrteste. Für mich steht fest: Wer das getan hat, wollte die Frau nicht töten.“
Er wollte sie bestrafen, vielleicht vor ihrem Mann demütigen. Möglicherweise auch den Mann selbst warnen. Oder die Polizei herausfordern, mit vergleichbaren Taten. In jüngster Zeit oder in naher Zukunft.
„Schauen Sie mal in Ihre schlauen Computer.“
Frau Conrad schüttelt langsam den Kopf, setzt sich wieder aufrecht, legt ihre rechte Hand seitwärts neben ihre Hüfte. Und erklärt mit unerwartet scharfem Unterton:
„Merken Sie eigentlich nicht, was Sie die ganze Zeit tun?“
Ein bestimmter Tätertyp, vorzugsweise selbstsüchtig und voll Überlegenheitsgefühl, hält sich gern in Tatortnähe auf. Er sucht nach Wegen, nahe an die polizeiliche Ermittlungsarbeit zu gelangen, schmeichelt sich ein mit verständnisvollen Sprüchen. Genau das tue ich OK Conrads Meinung nach. Noch bedenklicher: Ich verfügen über vertrauliches Tatortwissen.
„Besser gesagt Täterwissen,“ ergänzt sie.
Die Dame zeigt einen Hang zum Reden. Sie ist verunsichert, weiß nicht, wie sie mir beikommen soll. Von dort ist es nur ein kleiner Schritt in Richtung Angst. Ich kann es ihr nicht einmal verdenken. Was sonst soll die Conrad im Lichte meiner Fragen annehmen? Mist, unser Gespräch gerät ungewollt geradeaus in eine falsche, gefährliche Richtung. Und die rechte Hand der Dame wandert unübersehbar seitwärts weiter zur Hüftgegend.
Die Handbewegung ist mir bestens vertraut.
Sie weiß, ich bin nicht ohne. Habe sogar auf Schuster geschossen.
In der Klinik konnte sie meine Pistole sehen. Ihre eigene hat sie anschließend entladen. Meine ist zwar ebenfalls entladen. Doch ihre Waffe hinten im Gesäß macht das Ziehen umständlich. Ich kann auf meine Schnelligkeit vertrauen. Tammy Quan, meine Trainerin in San Francisco, hat mir blitzartig Ziehen und gleichzeitig Spannen beigebracht.
Wer einen Hammer hat, sieht überall nur Nägel.
Bist du völlig bescheuert, Robert!
Auch nur einen Augenblick solche Gedanken zu denken? Abgesehen davon; einen Schutz wie meine Jacke hat die nette Frau Conrad nicht, die Ärmste. Obendrein ein viel zu liebes Gesicht. Auf jemanden wie sie schießt man einfach nicht; komme, was wolle. Das gehört sich nicht. Droht ihr auch nicht mit der Waffe.
„Herr Berkamp, legen Sie beide Hände auf Ihre Knie! Sofort!“