Читать книгу Die Hexe zum Abschied - Günter Billy Hollenbach - Страница 11
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ОглавлениеWettschulden sind Ehrenschulden.
Vor einem halben Jahr hätte ich jeden für verrückt erklärt, der mir das vorhersagt. Jetzt wasche ich mit gelassener Sorgfalt an jedem zweiten Montag – handwarm mit Schonwaschmittel – Damenunterwäsche, BHs, Panties und hänge sie zum Trocknen auf. Während der Viertelstunde brechen meine Gedanken regelmäßig in die freie Wildbahn aus und kehren mit netten Geschichten zurück.
Dennoch, meine Montage sind „grauer“ als früher. Sie beginnen zwar geschäftig, oft auch vergnüglich. Ich habe mir angewöhnt, meinen beiden Herzblättern das Frühstück zu bereiten. Zwischendurch feuere ich sie mit albernen Sprüchen an, ihre Betten rechtzeitig zur Ergreifung der Arbeitswelt zu verlassen und erträglich laut um die Dusche zu streiten.
Sind sie schließlich für die nächsten fünf Tage abgezwitschert, fühlt sich die Wohnung farbloser an. Dann hocke ich erst ein wenig missmutig und unschlüssig in der Küche herum. Die Aussicht auf die eine oder andere Nachmittagssitzung mit Coaching-Kunden hellt meine Stimmung zwar auf. Doch gelegentlich beschleicht mich ein verstörender Gedanke. Wenn das so weitergeht, verwandeln mich meine beiden Frauen mit süßem Lächeln in einen wohlerzogenen Hausmann, jede Woche etwas mehr.
Nach dem Beseitigen der Frühstücksspuren verbringe ich den Vormittag mit Aufräumtätigkeiten und fälligen Hausarbeiten.
Heute kreisen meine Gedanken hartnäckig um Frau Dr. Neskovaja.
Ich erinnere mich gut an die damalige Begegnung im Nordwest-Krankenhaus. Dass inzwischen eine Ärztin aus Russland hier bei uns arbeiten kann, fand ich erfreulich. Und jetzt?! Mit ihrer Figur ist die Frau bestimmt eine Wucht in schwarzen Dessous. Aber als Prostituierte kann ich sie mir einfach nicht vorstellen. Dafür war ihre ganze Ausstrahlung damals zu „ärztlich“, ihr Blick zu „lieb“.
Tolle Begründung; ich weiß.
Hey, das ist die Antwort!
Gegen ein allzu braves Hausmannsdasein lässt sich etwas tun.
*
Kleine Einführung in die für mich faszinierendste Sache der Welt. Nachdem er und seine Kumpels mit dem Abschlachten von Indianersippen und Siedlerfamilien sowie dem Plündern ausgedehnter Waldgebiete für den Bau der Union-Pacific-Eisenbahn im Westen der USA ein riesiges Vermögen zusammengeraubt hatte, gründete Leland Stanford – zum Gedenken an seinen früh verstorbenen Sohn und aus Reue über seine Missetaten – im kalifornischen Palo Alto, etwa dreißig Kilometer südlich von San Francisco, in den 1890-er Jahren eine private Universität. Heute genießt die Stanford-University einen hervorragenden Ruf auf Gebieten wie Medizin, Mathematik oder Verhaltenswissenschaften.
Nur in Fachkreisen bekannt ist das „Stanford Research Institute“.
Von Mitte 1970 an wurde dort fast zwanzig Jahre lang „Remote Viewing“ entwickelt und angewendet. Das heißt soviel wie „Sehen auf Entfernung“, wurde vom Nachrichtendienst CIA finanziert und unterlag strenger Geheimhaltung.
Was dabei getan wurde, klingt für normale Ohren reichlich verrückt.
Ohne ihre Arbeitszimmer in Menlo Park zu verlassen, haben die Mitarbeiter, hervorragende Wissenschaftler und ein paar Hochkreative, allein mit Gedankenkraft irre Sachen vollbracht. Unter anderem haben sie gegnerische Gebäude und unterirdische, militärischen Anlagen, etwa in Russland oder China, erfolgreich „ausspioniert“. Sogar U-Boote unter Wasser und Flugzeug-Wracks im afrikanischen Dschungel geortet. Ohne Hilfsmittel wie Internet, Sattelitenbilder oder Abhörtechnik. Allein mit der Bewusstseinsenergie ihres Kopfes.
Mehrere Jahre nach dem Ende des Projekts wurde die Geheimhaltung gelockert. Einzelne der früheren Mitarbeiter haben Berichte über ihre Erfahrungen und Arbeitsmethoden veröffentlicht und ihr Wissen in Workshops vermittelt. Joseph McMoneagles Handbücher habe ich geradezu verschlungen.
Wohl nicht zufällig. Im Alter von acht Jahren erlebte ich nach einer lebensrettenden Operation immer wieder hellsichtige Augenblicke. Während der Pubertät erschien mir eines Nachts ein „höheres“ Energiewesen namens Cassandra. Seitdem steht sie mir mit Rat und Schutz zur Seite. Wie gesagt, ich spreche nur mit wenigen Menschen darüber. Die Welt übersinnlicher Kräfte ist für mich eine Wirklichkeit. Keine Sache des Glaubens, sondern Gewissheit.
Bei meiner letzten Reise nach San Francisco – bei der ich unverhofft die Entführung der kleinen Janey verhindert habe – war ich Trainer für „Remote Viewing“ in einem Schamanen-Workshop. Im Alltag betreibe ich RV eher unregelmäßig und weniger gründlich als damals die Leute in Stanford. Man braucht dazu ungestörte Ruhe und ein lohnendes Ziel. Und folgt einer festgelegten Vorgehensweise. Wenn der Kopf bereit ist, wähle ich mein Ziel und schicke meine Bewusstseinskraft auf die Reise ins Universum.
Nach einer Weile erwartungsvoller Aufmerksamkeit flackern erste Empfindungen und Bildbruchstücke hinter der Stirn auf. Beim dritten oder vierten Anlauf gewinnt das Ziel Form, eine Landschaft, ein Berg oder ein Gebäude. Ich rieche die Luft, höre Hintergrundgeräusche, spüre, ob es dort warm oder kalt ist. Nebenbei schreibe ich auf ein Blatt Papier, was ich sehe, höre und fühle. Skizziere mit einem Bleistift, was ich sehe.
Aus Selbstachtung und Ehrfurcht vor dieser wunderbaren Fähigkeit mogele ich nicht. Manchmal bin ich überrascht von der hohen Zuverlässigkeit der Ergebnisse. An anderen Tagen kriege ich so gut wie keine brauchbaren Eingebungen zustande, nur einen kleinen Teil des Ziels oder ein ganz falsches Bild. Den Stanford-Leuten ging es ähnlich.
*
Den Ort des Ziels zu kennen erleichtert das „Remote Viewing“. Corinna nach Frau Dr. Neskovajas Adresse zu fragen war mir nicht in den Sinn gekommen. Im Telefonbuch findet sich kein Eintrag dazu.
Probieren wir, ob es auch ohne Adresse etwas bringt.
Ich ziehe den violetten Vorhang in Monas Zimmer zu und lasse mich in der Kniehocke auf der Dojo-Matte nieder; erwartungsvoll, beinahe aufgeregt. Nach mehreren Minuten beständigen Atmens wird es ruhiger in meinem Kopf. Zunächst tauchen immer wieder Mona-Eindrücke auf; Bildfetzen ihres Gesichts und Schnipsel mit Sprach- oder Lachtönen. Ich atme gezielt Energie in mein Drittes Auge, bis es still wird in mir.
„Cassandra, I need your help“ (ich brauche deine Hilfe).
Prompt erhalte ich die vertrauten Antworten. Ein kreisendes Druckgefühl oberhalb meiner Augenbrauen, tief-dunkelblaue Augen, die vor meiner Stirn erscheinen. Wir sprechen immer Englisch miteinander.
Cassandra: „I am here. What do you want?“
„Bitte führe mein Drittes Auge beim RV).
Cassandra: „You got it. Please name your target?”
„Lass mich sehen, was Dr. Neskovaja am vergangenen Donnerstag nachmittags in ihrer Wohnung zugestoßen ist.“
Cassandra: „Be patient. Trust me.“
Beinahe schlagartig erfasst mich ein Schwindelgefühl.
Als würde ich ohnmächtig.
Ich breche den Vorgang erschrocken ab, atme tief, überlege. Das Ohnmachtgefühl kann vom Ziel herkommen. Das wäre es ein Hinweis auf das, was der Ärztin geschah. Es braucht einige Übung, solche scheinbar nebensächlichen Empfindungen zu erfassen und zu beachten. Sie können wertvolle Anhaltspunkte liefern. Nach einer Pause tiefen Atmens wiederhole den geistigen Anflug auf das Ziel.
„Remote Viewing“ liefert keine Bilder, die klar und vollständig wie Fotos oder Fernsehen erscheinen. Nur ganz selten springen sofort erkennbare Bildausschnitte ins Bewusstsein. Mit Übung lernt der Kopf, in dem inneren Rauschen Linien und Flächen zu erkennen oder Vorder- und Hintergrund zu unterscheiden. In der Wiederholung fügen sich Umrissen zu Gestalten zusammen. Das erfordert Geduld und gelassenes Vertrauen auf die Energieleistung des Kopfes.
„Bitte zeige erneut, was ist Frau Dr. Neskovaja am vergangenen Donnerstag in ihrer Wohnung zugestoßen?.“
Kaum ist der Satz in Gedanken beendet, höre ich in mir einen lauten, hellen, aber tonlosen Schrei – wie in Entsetzen, Panik oder Todesangst. Mir ist, als zieht mich eine unsichtbare Kraft ruckartig zurück, weg vom Ort des Geschehens. Einen Augenblick später merke ich, das Atmen fällt mir ungewöhnlich schwer; die Handflächen sind schweißnass.
Die Verbindung zum Ziel ist abgerissen.
Aber der Nachklang des Schreis und Spuren der panischen Angst schwingen weiter in mir. Ich lasse die Augen geschlossen, atme mehrmals tief durch.
„Danke, Cassandra. Bitte noch einmal, ganz vorsichtig.“
Sofort ertönt wieder dieser Schrei, gut hörbar und dennoch tonlos. Sekunden später treten schräg verlaufende, rote Linien hervor. Ihr Untergrund wird hellgelb, hautfarbig beige.
Ein inneres Wissen bestätigt: Haut und darauf Blut; das kann nur Blut sein.
Zum Neubeginn muss man den vorigen Bildeindruck möglichst vollständig löschen. Dazu bewege ich eine Art geistigen Scheibenwischer quer über meinen inneren Bildschirm.
„Bitte schau erneut hin, jetzt mit mehr Abstand.“
Mehrere ungewisse Sekunden. Dann erkenne ich etwas Hellgraues, das sich nach und nach als zwei breite, silbern glänzende Bögen abzeichnet. Dazu kommt mir das Wort Füße in den Sinn. Deren Umrisse erscheinen rechts unter den silbergrauen Bögen. Fußfesseln?
Pah, das ist beachtlich.
Und anstrengend.
Wieder das vorige Bild löschen; atmen.
„Thank you. Bitte bewege dich höher.”
Sogleich erscheinen wieder die rot verlaufenden, blutigen Bahnen.
Ich weiß nicht, wie diese Eindrücke entstehen. Jedenfalls denke ich unvermittelt: Das Zimmer muss abgedunkelt sein, die Vorhänge sind geschlossen. Zusätzlich spüre ich mit Gewissheit. Da ist nur eine Person, die Frau, anwesend. Begleitet von der Empfindung, dass die Frau statt auf einem Bett schräg in einem sesselähnlichen Stuhl liegt.
Womöglich ihr Schrei des Erschreckens, als sie zu sich kommt.
Während dieser RV-Sitzungen verliere ich jedes Zeitgefühl; eine Stunde vergeht wie nichts. Erneut atmen und das vorhandene Bild vom geistigen Bildschirm löschen.
„Bitte geh zurück zu der Zeit, als die Frau in den Raum kommt.“
Augenblicklich ertönt das Wort „Schnell“.
Für mich klingt es wie eine Anweisung oder Aufforderung an eine andere Person. Dann tauchen wieder die Hautbereiche mit den blutigen Linien und dem grauen Band auf.
Anders als Meditation verbraucht „Remote Viewing“ große Mengen geistiger Energie. Die Profis damals in Stanford haben deshalb empfohlen, wiederholt kürzere Sitzungen abzuhalten, statt sich zu verausgaben. Sobald man versucht, Ergebnisse herbeizuzwingen, verspannt man sich körperlich und geistig und erreicht das Gegenteil. Obendrein verdirbt man sich die Wertschätzung für dieses außergewöhnliche Bewusstseinswerkzeug.
Die Sitzung endet mit gemischten Gefühlen. Wahrscheinlich habe ich zuviel erwartet. Mit Abstand betrachtet erweisen sich die empfangenen Hinweise als recht deutlich, wenn auch reichlich unvollständig. Zumindest beim Lesen ihrer Bücher kann man leicht in Ehrfurcht verfallen, wie locker die Stanford-Leute ihre hervorragenden Ergebnisse zustandegebracht haben.
Zugegeben, ich bin monatelang aus der Übung. Hätte ich mich besser vorbereiten müssen? So sorgfältig bin ich nicht zu Werke gegangen, wie ich es bei einem der früheren Stanford-Mitarbeiter in Alamogordo in New Mexico gelernt habe.
Nach einer derart anstrengenden Energiearbeit gönne ich mir einen Pott Tee und zwei Riegel schwarze Schokolade. Während ich dem Tee beim Ziehen zusehe, sortiere ich die empfangenen Signale.
Am Schreibtisch im Arbeitszimmer notiere ich – wie immer mit Datum und Uhrzeit – die wichtigsten Bilder, Töne und Eindrücke aus der Fernsicht-Sitzung. Zwischendurch kommen mir jede Menge weiterführender Fragen in den Sinn, schneller als ich die Stichwörter aufschreiben kann.
Wie von selbst stechen zwei Fragen heraus: Was geschah unmittelbar davor? Wie ist Frau Neskovaja in ihr Zimmer gekommen?
Und: Was bedeutet der Ausruf „Schnell“, der mir bemerkenswert beständig im Kopf herumspukt? Ohne erklären zu können warum, bin ich sicher, außer Frau Neskovaja eine andere, weibliche Person gehört zu haben.