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Die dunklen Abende der Winterwochen kommen Mona gelegen. Corinna und ich haben uns inzwischen darauf eingestellt. Wenn nichts Wichtigeres ansteht, lümmeln wir samstags abends im Wohnzimmer und tun nicht viel mehr als miteinander reden.

Gesprächsstoff findet sich reichlich. Corinna oder ich geben eigene Kindheitserlebnisse und Jugendsünden zum Besten. Mona offenbart kindlich verquere Ängste und ulkige Träume aus ihrem ersten Schuljahr oder in Bezug auf Jungens. Ich berichte von meiner früheren Familie, den Sorgen von Töchterchen Claudia bei der Pflege ihres Meerschweinchens oder den Freuden und Mühen ihres jetzigen Familienlebens in Santa Fe, New Mexico.

*

Nach dem Ende der „Liebesbeziehung“ mit Manfred Schuster steht Mona – wie sie offen zugibt – nicht der Sinn nach innigem Umgang mit Männern. Das hindert sie freilich nicht daran, hin und wieder zu verkünden, mich „demnächst, irgendwann“ gnadenlos zu verführen. Die Fee an der Wiege hätte ihr nun mal drei Kinder mit einem reifen Ehemann vorhergesagt.

Diese „Drohung“ äußert Mona vorzugsweise in Anwesenheit ihrer Mutter; etwa, wenn sie Corinna in unserem Wochenend-Haushalt als zu tonangebend empfindet. Ich höre es gern und denke „albernes Küken“. Gelegentlich umarmt Mona mich ganz selbstverständlich oder verpasst mir zwanglos ein Küsschen. Ansonsten verhält sie sich, zumal wenn Corinna abwesend ist, einfach nach Laune. Gelegentlich spielerisch neckisch oder unbeirrbar eigenwillig, aber nie bösartig verletzend.

Und schon gar nicht sexuell anzüglich oder ungebührlich.

Seit unserem ersten Telefonat im vergangenen Sommer redet sie mich hartnäckig mit Berkamp an, was mir immer noch wie ein verstecktes Kompliment erscheint. Wie sie sich bei uns verhält, kann ich sie nur mögen. Eine kluge, gut zu leidende junge Frau mit einem flinken Mundwerk, feinem Gespür für Stimmungen und einem scharfen Sinn für Unaufrichtigkeit, Recht und Unrecht.

Gelegentlich kommt ihre Freundin Sabine zu uns. Beide junge Frauen pflegen ein reges Interesse an esoterischem Wissen. Dann sprechen wir mit Vorliebe über spirituelle Energien, übernatürliche Erscheinungen oder schamanische Handlungsweisen. Ab und zu beteiligt sich Corinna an diesen Gesprächen, bekundet allerdings auch freimütig ihr fortwährendes Unbehagen bei dem „Gespensterkram“. Obwohl ich ihr letztes Jahr bei den ersten privaten Gesprächen von meinem hellsichtigen Zug erzählt habe. Einmal, auf Sabines Nachfragen, bestätigt Corinna verlegen, ich hätte gelegentlich Vorkommnisse angedeutet, die wenig später eingetreten sind. Und dass diese Fähigkeit uns gute Dienste erwiesen hat.

Wenn allerdings die Rede auf meinen schamanischen Workshop in San Francisco kommt, wird Corinna schnell einsilbig, verzieht sich ins Bad oder unter die Hantelmaschine in Monas Zimmer.

„Normalen“ Menschen gegenüber spreche ich lediglich von meiner „Intuition“, die sehr ausgeprägt und zuverlässig sei. Nur wenigen, ehrlich interessierten Eingeweihten wie Mona und Sabine gegenüber bekenne ich mich zu meiner unsichtbaren Begleiterin Cassandra und ihren hilfreichen Fähigkeiten. Gelegentlich kommt Sabine samstags nachmittags zu einem Mini-Workshop, um das Aura-Sehen oder einzelne schamanische Arbeitsweisen zu besprechen und zu üben.

*

Corinna kann sehr überzeugend sein.

Schließlich hat sie uns beide und die Wochenendabende. Dann lockert sich ihr Verständnis von Dienstgeheimnis. Daheim ist nicht „im Dienst“. Sie bespricht mit uns – streng vertraulich – den einen oder anderen ihrer laufenden Fälle. Frei von kriminalistischer oder politischer Korrektheit, ohne Zeitdruck mit zwei ansatzweise Fachkundigen über einen Fall zu reden, findet sie hilfreich. Gelegentlich regen unsere Fragen und Anmerkungen sie zu verwertbaren, weiterführenden Überlegungen und Entscheidungen an.

Mona steigt bemerkenswert aufmerksam, sachbezogen und ideenreich ein. In das Tatgeschehen, die Entwicklung von Täterpersönlichkeiten und Aufklärungsansätzen. Mammi freut es immer mehr. Weil Mona sonst selten eine Gelegenheit auslässt, über ihre leidvolle Kindheit und Jugend zu nörgeln, die vom abartigen Beruf der Mutter geprägt waren.

Für mich zählen diese Abende zum Schönsten an den Wochenenden. Die Bewältigung des Schuster-Dramas sowie unser privater Umgang seitdem haben mein Interesse für Corinnas Arbeit befördert. Dank der Erfahrungen als Zufallsheld in San Francisco ist mein Sachverstand bezüglich kriminalistischer Denk- und Arbeitsweisen zusätzlich gewachsen. Für die Beschäftigung mit entsprechenden Themen bin ich leicht zu haben. Hinzu kommt ein beachtlicher emotionaler Gewinn.

Regelmäßig während unserer Krimi-Abende tritt eine andere Corinna in den Vordergrund; wach, selbstironisch, diskussionsfreudig und leidenschaftlich im Vertreten ihrer Standpunkte. Mich erfüllt ihre innere Verwandlung oft mit Freude und Staunen, sogar mit einem Tick Stolz auf „meine“ Hauptkommissarin und ihre Arbeit. Selbst Mona bemerkte einmal erfreut, Mammi sieht jünger, „irgendwie mädchenhaft“ aus, wenn sie voll bei der Sache ist.

Während dieser Gespräche kann ich mir Corinna gut als Chefin oder Kollegin vorstellen. Mit ihr würde ich gern, wenn auch nicht immer einvernehmlich, zusammenarbeiten. Die Arbeitsmittel und Machtsymbole ihrer Polizeibehörde haben zusätzlich etwas Reizvolles.

Oder vielleicht doch nicht. Wenn man bedenkt, wie unerfreulich und kräftezehrend der Kleinkrieg innerhalb des eigenen Ladens sein kann. Um diesen Teil ihrer Arbeit beneide ich Corinna nicht.

Meine Stärken als Hobbykriminalist liegen auf anderen Gebieten.

Insgesamt bin ich zufrieden, wie ich bin. Und gut – bilde ich mir ein.

Vor allem bin ich unabhängig.

*

Samstag Abend. Vor dem Fenster grauer, regnerischer Aprilanfang. In der Küche Beseitigen der Spuren des Abendessens. Corinna, gegen die geschlossene Küchentür gelehnt:

„Leute, wenn das morgen weiter so pisst, habe ich keine Lust, nach Bingen zu fahren. Was meint ihr?“

Mona hält dagegen:

„Die Rhein-Promenade im Regen – das wäre zumindest origineller als Rumbummeln zwischen Scharen zwanghafter Sonnenanbeter.“

„Mal sehn, vielleicht wird es morgen Vormittag besser?“

Mein geistreicher Beitrag zur Debatte.

Mona bleibt unverdrossen.

„Von mir aus können wir auch im Regen wegfahren. Vielleicht nur bis Hochheim. Dort laufen wir ein Stück durch die Weinberge und gehen anschließend Essen. Das wäre doch was, oder?“

Corinna bietet als Kompromiss an:

„Lass uns das morgen klären. Muss jemand jetzt ins Bad? Ich sehe, das ist nicht der Fall; ich melde mich ab.“

Mona gibt sich großmütig.

„Mach mal. Aber bis zur Tagesschau bist Du fertig, Mammi, okay?“

„Gönn mir die Ruhe, Mona.“

„Jawohl, Frau Kommissarin. Los, Berkamp; ich spüle, Du trocknest ab. Das Verbrechen wartet nicht.“

Wenn Wünsche so leicht zu erfüllen sind.

Gegen halbneun hocken wir im Wohnzimmer. Sitzordnung wie gewohnt. Corinna trinkt einen Schluck Tee, blickt missmutig drein.

„Leute, Vorwarnung: Das Ding setzt mir zu, gefühlsmäßig.“

Arbeit der fiesen Sorte, ergänzt sie.

„Wir sind Kummer gewöhnt,“ meint Mona. „Also, wir hören!“

Corinna berichtet aus dem Kopf, ohne dienstliche Unterlagen.

„Teil meines Berufsschicksals: Ich komme von den Huren nicht los.“

Zwischenruf der Tochter in kläglichem Tonfall:

„Oh nein! Mein Kindheits-Trauma!“

Corinna schaut sie überrascht an.

„Was, Du? Was hast denn Du mit ...“

Na klar! Daran will sie sich nicht erinnern; so klar wie Ziegenmilch.

„Hannover, Mammi, meine Konfirmation. Schon vergessen?“

„Ach, Gott nein! Jetzt kommt die alte Geschichte wieder hoch.“

„Hin und wieder muss das sein, erst recht wenn Du von Huren redest.“

„Mona, wie oft habe ich dir gesagt, es hat mir leid getan ...?“

„Ja, ja, ... hinterher.“

Mona schaut betrübt vor sich hin.

„Erzähl, Mona, was war in Hannover?,“ bitte ich.

Sie zieht ihre Knie näher, legt Arme und Kinn darauf, spricht mit gepresster Stimme:

„Ganz einfach, Berkamp, meine Konfirmation. Wie lange ist das jetzt her, Mammi? Dreizehn Jahre? Egal. Ich war zwölf und hab mich unheimlich auf die anschließende Feier gefreut. ... richtig mit Familie.“

„Hach ja,“ stöhnt Corinna dazwischen und verdreht die Augen.

Mona fährt um so entschlossener fort.

„Stimmt doch auch. Du willst das nicht hören, logisch.“

Bei anderen Familien, das waren mehr Leute, und die kamen alle.

„Aber bei mir? Opa Erwin, Mammis Bullenvater, ...”

„Mona, bitte!,“ unterbricht Corinna.

„Wieso, dein Vater Hauptwachtmeister. Der ist schon tot, Berkamp, damals lebte er noch, logisch.“

Typisch; für zwei Stunden Familientratsch fährt er nicht von Frankfurt nach Hannover. Mammi hat dort im Ersten Polizeirevier gearbeitet.

„Da war ich gerade Oberkommissarin geworden,“ unterbricht Corinna.

Dazu Mona rechthaberisch:

„Weil Du weg wolltest von deinem herrschsüchtigen Vater.“

„Iwo, Mona, die hatten Nachwuchsmangel und boten Frauen im Polizeidienst mehr Möglichkeiten als in Hessen.“

„Egal, also Opa kam nicht. Wir waren draußen in einem Gasthaus im Grünen, weiß nicht mehr, weiter weg hinter dem Fußballstadion.“

Onkel Bernhard und Tante Waltraut samt Benjamin; der war gerade ein Jahr alt, ungefähr. Und Mammi. Mona hatte sich sehr gefreut, alles wegen ihr. Gerade als das Essen aufgetragen wird, geht Corinnas Piepser los, wie im Fernsehkrimi. Handys hatten die noch nicht.

„Ach ja, jetzt weiß ich es wieder. Da war eine tote Frau aus der Leine gefischt worden. Die zweite ermordete Prostituierte innerhalb eines Jahres. Für mich die erste Mitarbeit in einer Sonderkommission.“

„Trotzdem. Weg warst Du. Onkel Bernhard lief die ganze Zeit mit Benjamin draußen hin- und her, weil der dauernd geschrieen hat.“

„Der kriegte gerade die ersten Zähne.“

„Kann sein. Jedenfalls, ich saß da rum mit Tante Waltraut. Die ist nett. Aber ich kann mit der nicht viel anfangen, so klein und rund wie die ist, damals schon. Ich als zwölfjähriges Mädchen?“

Mona schaut leer vor sich hin, ihre Augen beginnen zu glänzen.

„Das war nicht schön. Ich habe die ganze Zeit gewartet, keiner hat richtig gegessen.“

Am Nachmittag wollte Onkel Bernhard heim in die Lüneburger Heide. War nichts mit gemütlich Zusammensitzen bei Kaffee und Kuchen.

Mona atmet stöhnend aus, stellt schließlich schulterzuckend fest:

„Vorbei. Trotzdem, mir kommt es wie gestern vor.“

Während sie mich früher kaum berührt haben, gehen mir derartige Geschichten seit einigen Jahren gefühlsmäßig nah. Mag sein, dass meine regelmäßigen Meditationen Spuren in meinem Empfinden hinterlassen. Meine bildliche Vorstellungskraft war schon immer sehr ausgeprägt. Ich sehe das Mona-Mädchen mit traurigem Blick vor halbleeren Tellern und einigen Schüsseln förmlich neben mir sitzen, rieche die abgestandenen Essensreste; und gebe mir Mühe, den Kloß im Hals wegzuschlucken.

Corinna unterbricht die einsetzende Stille nachdenklich.

„Klar, für ein Mädchen wie dich an so einem Tag. Ist ja doch etwas Besonderes, einmalig. Was soll ich sagen, Mona?“

Die lehnt sich wieder zurück gegen das Seitenpolster, schiebt die Füße ein Stück von sich weg und beendet das Thema nach Sekunden des Schweigens:

„Lass gut sein. Jetzt kennt Berkamp die Geschichte, das reicht mir.“

Die Hexe zum Abschied

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