Читать книгу Die Hexe zum Abschied - Günter Billy Hollenbach - Страница 3
1
ОглавлениеMich bringt nichts mehr aus der Fassung.
Am Ende der letzten San-Francisco-Reise war ich fest davon überzeugt. So kannst du dich irren.
Schwacher Trost: Die drei Oktoberwochen in der Flower-Power-Stadt am „Golden Gate“ hätten bei jedem Menschen Spuren hinterlassen. Wenn er in meinen Schuhen gesteckt hätte.
Im Rückblick neigst du dazu, die Ereignisse zu verklären. Schließlich hast du sie halbwegs unbeschadet überstanden. Bist bemerkenswerten Menschen begegnet, einigen von ihnen sehr nahe gekommen.
Und du hast eine Menge gelernt.
Vor allem, mit Gefahr und Angst umzugehen – auf die harte Art.
Wenn dir zwei chinesische Auftragskiller nachstellen. Als Folge einer guten Zufallstat. Unverdient im Fadenkreuz des Zielfernrohrs eines Gewehrs zu landen verändert nachhaltig, was dir wert und wichtig ist. Zwingt dich zu Verhaltensweisen, die ahnungslosen Außenstehenden seltsam erscheinen.
Du entwickelst eine Art Verfolgungswahn. Nenn es Überlebenswillen.
Die Fußgänger um dich herum betrachtest du mit Argwohn. Achtest unauffällig auf ihren Gesichtsausdruck, die Art, wie sie sich und ihre Hände bewegen. Türen, Fenster, sogar Dachkanten an Gebäuden verwandeln sich in mögliche Gefahrenquellen. Du schärfst den Blick für gepanzerte Limousinen, bemerkst Autos oder Motorräder, die ungewöhnlich langsam an dir vorbeirollen.
Dein Zeitgefühl verändert sich. Alltägliche Erledigungen werden zu einer bewussten Leistung, ein Ansporn zum Weitermachen.
Glück und liebevolle Zuwendung erlebst du bewusster und ein wenig wehmütiger als früher.
Körperlich bin ich recht gut in Form, wenn auch beinahe sechzig Jahre. Im Kopf fühle ich mich weit jünger. Neugier und Beweglichkeit sind mir wichtig und erwiesen sich als sehr hilfreich. Teilweise unfreiwillig, teilweise aus eigenem Antrieb durfte ich in den drei Wochen San Francisco mehr neue Erfahrungen sammeln als normalerweise in einem Jahr daheim. Ich musste mich mit Sachverhalten befassen und Fähigkeiten erwerben, die mir bislang fremd waren, teilweise sogar gegen den Strich gingen. Etwa bezogen auf organisierte Kriminalität, chinesischen Kampfsport und Pistole-Schießen.
Vor allem musste ich lernen: Vorsicht und Können bleiben vergeblich, wenn die Umstände sich gegen dich stellen. Dass dein Leben schlagartig unwiderruflich vorbei sein kann, wurde zu einer greifbaren Erfahrung.
Als zuverlässigste Ratgeberin erwies sich – mehrfach – Cassandra, mein intuitiver Schutzgeist, der mich seit Jugendjahren begleitet.
*
Während des Rückflugs hoch über Kanada, erleichtert wie nach keiner Reise vorher, erschien mir der Aufenthalt in der „Bay Area“ wie ein unbestelltes, nervenaufreibendes, aber bestandenes Überlebenstraining von bleibendem Wert. Ob Wunsch oder Befürchtung; zugleich ahnte ich, auch damit geht es wie mit guten Vorsätzen: Die erworbenen Sicherheitsregeln und schützenden Verhaltensweisen schleifen sich nach und nach wieder ab.
Weil ich keinen Bedarf mehr dafür habe in meinem gewohnten Leben. Im friedlichen Steinbach nahe Frankfurt glaubte ich mich vor vergleichbaren Herausforderungen sicher.
Das erwies sich ebenfalls als Irrtum.