Читать книгу Die Hexe zum Abschied - Günter Billy Hollenbach - Страница 13
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ОглавлениеDu kannst weit kommen, auch wenn du ahnungslos bist.
Solange du dir zu helfen weißt. In Königstein halte ich in der Hauptstraße nahe einem Geschäft mit dem klassischen „A“-Zeichen über dem Schaufenster.
„Wie fahre ich bitte zur Klinik Dr. Brückmann?“
Apotheken erweisen sich immer wieder als nützliche Auskunftsquelle über örtliche Gegebenheiten.
„Ja, bei unseren vielen Einbahnstraßen,“ meint die freundliche Dame im weißen Kittel entschuldigend und schließt eine Schublade.
„Außerdem sind die umgezogen. Also, Sie fahren runter ins Stadtzentrum, erst rechts und dann links die Herrnwaldstraße hinauf.“
Bis hinter die „Villa Andreae“. Ein Stück weiter geht rechts die Fuchstanzstraße ab. Nummer 23. Sehr verschwiegen. Aber das fände ich schon, wenn ich dort bin.
Auf dem Weg zu meinem Ziel hilft die „Villa Andreae“ tatsächlich.
Der schlossähnliche Prachtbau auf dem Hügel gegenüber der alten Burgruine überragt mit steilen, dunkelblauen Schiefertürmen weithin sichtbar ganz Königstein. Ein berühmt-berüchtigter Bau-Spekulant hat hier in den 1980-er Jahren residiert und die Deutsche Bank in zweitbestem Einvernehmen um über fünfzig Millionen „Peanuts“ erleichtert.
Wenige Minuten später kurve ich durch wahrscheinlich eine der teuersten Wohnlagen Königsteins.
Hohe Mauern oder dichte Hecken umgeben weiträumige und hügelige Grundstücke mit breiten Zufahrten zu stattlichen Bungalows oder ein- und zweigeschossigen Villen. Die meisten gut sichtbar mit Außenscheinwerfern, Alarmlampen und Videokameras unter den Dachecken bestückt. Seitlich der sich bergauf schlängelnden Straße gibt es keine Bürgersteige, nur Bordsteinbegrenzungen und schmale Streifen mit Formsteinen, Schotter oder gelegentlichen Grasbüscheln.
Die auf den Seitenstreifen geparkten Autos lassen die Fuchstanzstrasse so eng werden, dass ich zum Schritttempo gezwungen bin. Ich muss ein Stück weiter fahren, bis ich eine Lücke für meinen Wagen finde.
Bewusst geruhsam schlendere ich an dem betreffenden Grundstück vorbei und einige Meter in die Herrnwaldstraße zurück. Bloß um mein Wahrnehmungs- und Sicherheitsverhalten zu üben. Ich vermeide jeden forschenden Blick auf den Garten oder das Gebäude, nehme möglichst viel von der Umgebung auf, betrachte die Anlage flüchtig oder aus den Augenwinkeln.
Das Haus ist beeindruckend. Mit meiner Erwartung an ein Klinikgebäude hat es wenig gemein. Ein zweigeschossiger, etwas gedrungen wirkender, weißer Bau, der einer asiatischen Pagode nachempfunden sein dürfte. Nach oben ausladende Überhänge rotbrauner, dreieckiger Ziegeldächer begrenzen das Erdgeschoss und das zurückgesetzte, erste Stockwerk. Die in regelmäßigen Abständen in die Wände eingelassenen Reihen gleichbreiter Fenster im ersten Stock sowie die ebenfalls gleichförmig angeordneten Fenstertüren im Erdgeschoss unterstreichen die strenge, zeitlos elegante Gesamterscheinung.
Das Haus, seine Schulter hohe Außenmauer aus weißem Backstein, die wenigen Parkplätzen zur Straße hin sowie der noch jungen Baumbepflanzung dürften höchsten zwei, drei Jahre alt zu sein.
Ein einfacher, dunkelbrauner Kupferschriftzug „Fuchstanzstraße 23“ auf einer gleichfarbigen Metalltafel verweist auf die Adresse. Darunter glotzt ein halbrundes, schwarz-weißes Videoauge. Auf einem unscheinbaren Klingelschild neben dem Videoauge stehen die Buchstaben Dr. B.. Weitere Hinweise auf den Eigentümer oder die Zweckbestimmung des Hauses finden sich nicht. Links neben der Kupferfläche mit eingelassenem Briefkasten ist eine zweiflügelige Gartentür aus dunkelgrauen senkrechten Stahlstangen in der weißen Backsteinmauer eingelassen.
*
Gleich rechts neben dem Eingangsbereich bildet die Außenmauer eine kurze, hufeisenähnliche Bucht, in der eine fette, dunkelblaue Jaguar-Limousine und ein grauer A-Klasse-Mercedes parken. Dicht hinter dem Jaguar steht – wenig rücksichtsvoll – halb auf der Fahrbahn eine metallic-graue BMW-Dreier-Limousine mit Frankfurter Kennzeichen. Wie der, den Corinna als Dienstwagen benutzt, denke ich unwillkürlich.
Während ich vor dem BMW stehe und mir einen Vorstellungsspruch zurechtlege, ertönt ein leises Sirren. Das Videoauge an der Mauer bewegt sich. Den Druck auf den Klingelknopf kann ich mir sparen. Ein kräftiger Mann in einem dunkelgrünen Overall mit einem zweirädrigen Stapelkarren voller Getränkekästen kommt links vom Haus her zur Gartentür. Der Türöffner schnarrt, ich tue zwei Schritte, um dem Mann die Tür zu öffnen, lasse ihn herauskommen – und gehe selbst hinein.
Nach kaum zwanzig Metern stehe ich vor einer normal breiten, dunkelroten Tür rechts in der Hauswand. Die Tür öffnet sich, noch ehe ich klingele. Dahinter steht, wie wenn sie im Begriff ist zu gehen, eine schlanke Frau mit vollem, dunkelbraunen Haar. Sie lässt mich eintreten, macht eine Handbewegung hin zum Empfangsbereich.
„Hereinspaziert!“
„Vielen Dank, das ist nett.“
Der kleine Empfangsraum strahlt in glänzendem, weißen Marmor. Im hinteren Teil der linken Wand führt eine undurchsichtig mattweiße Glasdoppeltür weiter in das Gebäude. Bis auf einen kreisrunden, dunkelblauen Flauschteppich mit einem großen, orangefarbigen Innenkreis finden sich im Empfangsraum keine Sitzmöbel, Vitrinen oder schmückenden Teile. Leise zirpende Hintergrundmusik erinnert an Fernöstliches.
Rechts hinter der Eingangstür ragt eine breite Marmorfläche bis zur Höhe meines Bauches empor. Dahinter sitzt eine attraktive brünette Frau Mitte vierzig, Goldrandbrille, dunkelblauer Hosenanzug. Ihren schneeweißen Schreibtisch, ein Stück tiefer als die Kante der Marmorplatte davor, ziert wenig mehr als eine aufwendige Telefonanlage, eine silberne Tastatur vor einem großen, weißen Computerbildschirm, ein weißgerahmter Schreibblock und ein gut bierdosengroßer, goldschimmernder Bronze-Bär nahe der rechten Tischkante.
Die Empfangsdame lächelt formvollendet.
„Sie wünschen bitte?“
Ihr Blick springt sogleich zur Seite. Die Dame an der Tür scheint noch etwas auf dem Herzen zu haben, ist jedenfalls noch nicht gegangen.
„Guten Tag. Ich würde gerne mit Frau Dr. Neskovaja sprechen.“
Vor mir auf der breiten Oberkante der Marmorplatte liegt eine ausweisgroße Plastikkarte mit gelben Papier und dem handgeschriebenen Wort Conrad in Großbuchstaben darauf. Bis ich verstehe, was das bedeutet, muss allerdings jemand nachhelfen.
Als Antwort zuckt die Dame hinter dem Schreibtisch unvermittelt zurück und bekommt sehr große Augen.
„Stehen bleiben! Polizei. Langsam die Hände über den Kopf!“
Klare, weibliche Stimme aus Richtung der Eingangstür, dazu das eindeutige Ratschen einer Pistole, die geladen und gespannt wird.
Ich schließe kurz die Augen, richte einen Dankesspruch an meine Jacke. Nun mal ganz behutsam, junge Frau. Ich drehe ihr langsam den Rücken zu, hebe zögernd beide Arme, strecke meine Finger aus.
Die Stimme hinter mit befiehlt:
„Runter, auf die Knie, sofort!“
Immerhin – sie hat einen netten Klang.
„Geht nicht. Mein Knie ist kaputt,“ lüge ich.
Soviel Spaß muss sein.
„Hände hinter den Kopf, ganz langsam.“
Der „Fa-Jin“-Meister in San Franciscos China-Town verfügte über die Fähigkeit, zu sehen, was hinter ihm geschieht, obwohl er stur geradeaus blickt. Das hat er gut fünfundzwanzig Jahre lang täglich ein paar Stunden trainiert. Leider konnte ich die Technik nur wenige Tage üben. Dennoch empfinde ich einen brauchbaren Eindruck, wie es hinter mir aussieht. Mit der Empfangsdame neben uns als Zeugin wird die diensteifrige Polizistin sich hüten, eine Dummheit zu begehen.
Dann schnappen die Verbindungsdrähte in meinem Kopf zusammen.
„Lassen Sie die Hände oben, dass ich sie sehen kann. Ihren Namen! Wie heißen Sie?,“ fordert die Dame hinter mir.
„Conrad. ...?“
„Unsinn, Ihren Namen, sofort!“
„Vera Conrad? … Oberkommissarin. Sind Sie das?“
Heftiges Atmen als Antwort. Ich spüre ihre Überraschung.
„Sie sind die Kollegin von Hauptkommissarin Corinna Sandner im K 11, richtig? Wir leben zusammen.“
„Ist mir neu.“
„Frau Sandner und ich.“
„Sagen Sie mir Ihren Namen.“
Etwas weniger Befehlston in der netten Stimme.
„Corinna, sagte ich bereits.“
„Ihren eigenen Namen!“
„Berkamp, Robert.“
Keine Antwort, nur kräftiges Ausatmen hinter mir.
Also ergänze ich:
„Vorsicht! Ich bin bewaffnet, mit amtlicher Erlaubnis. Aber ich beiße nicht. Und schießen tue ich erst recht nicht.“
„Bleiben Sie da stehen, Hände hinter dem Kopf.“
Hörbare Ratlosigkeit hinter mir.
„Auf wen haben Sie im vorigen Juli geschossen?“
Im Juli ... auf niemanden. Auf Oberkommissar Schuster, wenn sie den Vorfall meint. Das war Anfang August.
„Wie viele Kinder hat Frau Sandner?“
„Eine Tochter, Mona Sandner. Rote Haare, grüne Augen.“
„Ist gut. Sie können die Hände runter nehmen.“
Die Stimme klingt leicht, beinahe heiter, zugleich selbstbewusst, sicher. Angenehm hellblau und eingängig.
Die attraktive Dame am Empfangstisch verfolgt die seltsame Form der Personenfeststellung mit ungläubigem Staunen und ihrer schlanken Hand von dem Mund.
Ich lasse die Hände sinken, öffne meine Jacke langsam, halte sie mit beiden Händen auf, drehe mich ohne Eile um, damit die Dame an der Tür die Pistole unter meinem linken Arm sehen kann.
„Okay, zufrieden? Eine Walther P 99. Ich rühre das Ding nicht an. Frau Sandner wäre ziemlich verärgert, wenn sie durch mich eine weitere Arbeitskraft einbüßen würde.“
Frau Conrad entlädt ihre Waffe und verstaut sie hinter ihrem Rücken. Wir sehen uns erstmals ins Gesicht.
Es zuckt leicht in ihren Augen.
Ich fühle mich schlagartig blass – oder rot – werden. Jedenfalls wird mir heiß. Frau Conrads Blick ist offen, ruhig und sehr direkt. Dazu spielt die Spur eines Lächelns um ihren Mund. Vor mir steht eine unerwartet hübsche Frau, deren Gesichtsausdruck etwas freundlich Aufforderndes, Einladendes ausstrahlt.
Obendrein ist sie geschmackvoll gekleidet. Gut sitzender, rehbrauner Wildlederanzug im klassischen Jeansschnitt mit dunklen Nieten an der Hose, die knappe Jacke mit den typischen, bei ihr dunkelbraunen Metallknöpfen und den beiden schräg eingefassten Brusttaschen mit aufgesetzten Klappen. Unter der offenen Jacke bietet der blickfangende V-Ausschnitt ihres fein gewebten, dunkelbraunen Pullis einen Hinweis auf die Rundungen ihres Busens.
Ich schätze, wir haben uns länger angesehen als nach diesem Auftakt geboten. Frau Conrad hilft mir aus der Verlegenheit, zaubert ein herzöffnendes Lächeln in ihr Gesicht, kommt mir zügig entgegen, streckt die rechte Hand aus.
„Klar, kenne ich Sie, Herr Berkamp, jetzt erstmals persönlich. Ihrer Jacke ist verdächtig füllig hier oben; keine böse Absicht.“
Aufmerksame Beobachterin, die Frau Conrad.
„Jedenfalls habe ich schon von Ihnen gehört.“
Die Geschichte mit Schuster war tagelang Gesprächsstoff im Haus. Und dass Corinna, ihre Vorgesetzte, mit mir ..., ist ihr bekannt.
Sie schüttelt meine Hand, angenehm fest.
„Also, Conrad mein Name. Corinna erzählt manchmal von Ihnen, allen drei. Mona kenne ich ebenfalls.“
Große, dunkelbraune, glänzende Augen und ein hübscher Mund.
„Sie müssen entschuldigen, Herr Berkamp. Ein fremder Mann mit solch einer Jacke will zu Frau Neskovaja. Das elektrisiert mich. Ich komme gerade von ihr. Was für ein Zufall, Sie hier zu treffen.“
Sie hält immer noch meine Hand. Ich mag es.
Als sie loslässt, spricht sie unvermittelt die Empfangsdame an.
„Das eben muss Ihnen komisch vorgekommen sein, Frau Schröder? So war doch Ihr Name? Tut mir leid, falls ich Sie erschreckt habe. Ich muss nun mal sicher gehen, den Umständen entsprechend, dass Ihre Patientin unbehelligt bleibt.“
„Äh, ja, natürlich, selbstverständlich, Frau ... Conrad. Ist dieser Umgang normal bei Ihnen?“
Nach kurzem Zögern fügt Frau Schröder verbindlich hinzu:
„Na ja, wenn Sie dem Kollegen vorher noch nicht begegnet sind. Ich weiß ja nicht, wie viele Leute bei Ihnen arbeiten.“
„Tja, das kann vorkommen. Vielen Dank noch mal, Frau Schröder,“ verabschiedet sich Frau Conrad mit bestechendem Lächeln, schnappt meinen rechten Unterarm und zieht mich kumpelhaft in Richtung Ausgang. Mir fällt rechtzeitig ein, warum es besser ist, mitzugehen.
Schadensbegrenzung.
Ich nicke Frau Schröder zu.
„Damit hat sich mein Gespräch für ’s Erste erübrigt. Ich melde mich wieder. Auf Wiedersehen.“
Die Dame erwidert mit trockener Freundlichkeit:
„Sehr gern. Aber immer erst nach fünfzehn Uhr.“
Und vielleicht ... bitte ... könnte ich eine andere Jacke anziehen.
„Genau!“ bestätigt Frau Conrad heiter und hält mir die Tür auf.
An der Gartentür dreht sie sich dicht vor mir unerwartet um. Wie schafft die Frau es, mich dermaßen unschuldig anzuschauen?! Ich erhasche die Spur eines Duftes, der an Weihrauch erinnert. Sie hebt ihren rechten Arm zwischen uns, wippt den ausgestreckten Zeigefinger wenige Zentimeter vor meiner Herzgegend.
„Ihnen ist doch klar, Herr Berkamp,“ verkündet sie im Tonfall einer besorgten Mutter, die ihrem Söhnchen einen freundlichen Tadel erteilt, „dass Sie mir ein paar Antworten schuldig sind.“
„Nöh, schuldig bin ich Ihnen nichts, Frau Conrad. Dafür bringen Sie mich zu früh zu oft in Verlegenheit. Dagegen setze ich eine Einladung zu einer Tasse Kaffee oder Tee und zwangloses miteinander Schwätzen. Jetzt müssen Sie aber auch ,Ja’ sagen.“
Falls die Empfangsdame auf ihrem Videomonitor zuschaut, muss sie uns für ein vertrautes Paar halten, das ihr gerade eine schräge Komödie vorgespielt hat.
„Nein, nein, Herr Berkamp. Diese Art Gespräche führe ich grundsätzlich nur in den Diensträumen oder im Freien.“
Ehe sie in ihren Dienst-BMW steigt, bittet sie um meinen Personalausweis und den Waffenschein, schaut vergleichend die beiden Karten und mich an.
„Sie wissen ja, Vertrauen ist gut ...“
Sie nickt, meint verschmitzt: frühes Jugendbild. Und fragt:
„Färben Sie Ihre Haare?“
Zum zweiten Mal, verblüffend direkt, die Dame.
„Wozu? Was schlagen Sie denn vor? Hellgrün?“
„Also gut, auf dem Parkplatz am Opelzoo.“
Bevor sie einsteigt, fügt sie, wieder mit erhobenem Zeigefinger, hinzu: „Bis gleich. Wehe Sie verdrücken sich.“