Читать книгу Die Hexe zum Abschied - Günter Billy Hollenbach - Страница 30
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ОглавлениеKinder sind wahre Überredungskünstler.
Als Töchterchen Claudia vier oder fünf Jahre alt war, musste ich ihr immer wieder bestimmte Gute-Nacht-Geschichten erzählen. Bis in die Wortwahl bestand sie mit verblüffender Wachsamkeit auf der richtigen Wiedergabe jeder Einzelheit der Erzählung.
Im ersten Augenblick fühle ich mich daran erinnert.
Eine Stunde später im Wohnzimmer. Mona tut erneut kund, was sie von mir erwartet. Wie üblich sitzt sie an „ihrem“ Ende quer auf der Couch, ich am anderen, meine Füße auf dem flachen Tischchen vor uns. Die Geschichte hat es ihr angetan. Ich berichte, langsam, in allen Einzelheiten, vom vergangenen Oktober in San Francisco. Wie mir der Chinese mit dem Gewehr auf dem Dach gegenüber dem Hotel auflauert, wie Black Buffalo Carey sich anschleicht, ihn in den Tod befördert.
Jetzt in englischer Sprache.
Mona hält sich an ihre eigene Vorgabe. Zunächst holprig, nach den richtigen englischen Ausdrücken suchend, sich bei der Aussprache verbessernd, begründet sie:
„Wenn wir Claudias Familie in Santa Fe besuchen oder nach San Francisco reisen ... „
Sie will unbedingt diesen Black Buffalo Carey treffen; darf man Indianer sagen? ... mit ihm sprechen, das geht ja nur in Englisch. Er spricht kein Deutsch, denkt sie. ... Dafür üben wir jetzt. Schon in der Schule fand sie Englisch gut. Und, bitte, Berkamp, verbessere mich nicht, sag nur das richtige Wort oder tu so, als ob alles okay war. Rede einfach weiter Englisch, nur nicht zu schnell.
Da ich fast täglich beinahe eine Stunde lang amerikanische Radionachrichten höre, fällt mir das Umsteigen leicht. Mit Mona Englisch zu sprechen empfinde ich als eine erfreuliche Bereicherung. Ihre Sprechweise wird nach kurzer Zeit flüssiger, besser als ich vor dem Hintergrund ihres Schul-Englischs erwartet habe. Ihre spürbare Freude an der Erfüllung eines wichtigen Wunsches steckt mich an. Im Stillen beglückwünsche ich sie zu der Lernbereitschaft. Selbst wenn einzelne Wortlücken oder ulkige Sinnverzerrungen aufkommen, spricht sie unverdrossen freiweg.
„Also, ich erreiche BiBi Carey per Telefon und informiere ihn über den Chinesen mit dem Gewehr. Eine halbe Stunde später beobachte ich alles vom Hotelfenster aus, den Zweikampf auf dem Dach, dann den Sturz des Chinesen hinab auf die Straße. Es war nicht schön.“
Mona gibt sich Mühe, Zwischenfragen in ganze Sätze zu kleiden. Einige Male sprudelt sie los, weil ihr gerade das passende englische Wort einfällt. Das verlangsamt den Fortgang der Erzählung, befördert aber Monas Beteiligung an der Unterhaltung. Nur einmal bricht sie kurz aus der selbst auferlegten Regel aus, stupst mir den nackten Fuß gegen die Hüfte und erklärt auf Deutsch:
„Gib ’s zu, Berkamp, ich werde immer besser. Richtig toll! Das machen wir öfter, kapiert?! ... Sorry, I have to go back to English.”
Zwei Stunden verfliegen wie nichts.
Irgendwann nach elf geht die Wohnzimmertür auf.
Corinna schlurft herein, barfuss in meinem schwarzen Bademantel. Richtig wach wirkt sie nicht. Sie hockt sich unschlüssig auf die Vorderkante ihres bevorzugten Sessels, schaut verdrießlich zwischen Mona und mir hin und her.
Mona strahlt ihre Mutter an.
„Come on, Mammi, join us. This is fun.“
Gleich darauf spricht sie, an mich gewandt, in Englisch weiter,
„Okay, Black Buffalo Carey hat den Chinesen getötet. Das hat Detective Contreras klar verstanden. Aber er hat keinen Beweis gehabt. Also hat er die Untersuchung beendet, weil Black Buffalos Schwester Belinda Kollegin bei der Polizei ist. Wie heißt das Wort dafür? ... Unterdrückung einer Untersuchung der Tat. Also ... ihr beide habt großes Glück gehabt, Black Buffalo und Du. Obwohl das nicht dem Gesetz folgt.“
Corinna steht unvermittelt auf, erklärt mit rauer Stimme:
„Ich schätze, wenn die Tochter in derartigen Fachkreisen über Verbrechen in fernen Ländern spricht, passt die dumme Mutter schlecht dazu.“
Uuhh-Kawumm!
Monas Gefühle explodieren, noch ehe mir die Blödheit von Corinnas Aussage voll bewusst wird. In einer schwungvollen Drehung fährt Mona von der Couch hoch, holt kaum Luft, schreit mit fuchtelnden Armen ihrer verdatterten Mutter entgegen:
„Du, ausgerechnet Du ...! Eine widerliche Gemeinheit!“
Sekunden später schießen Mona glitzernde Tränen aus den Augen. Sie schnappt bebend nach Luft.
„Reicht dir das immer noch nicht? Was Du mir vorenthalten hast?!“
Was sie als Mädchen oft vermisst hat. Endlich erlebt sie ein bisschen, ... was sie sich insgeheim gewünscht hat, wo ihr ein Vater interessante Dinge sagt, ein Stück von der Welt erklärt. ... Aber Corinna in ihrem grenzenlosen Egoismus macht ihr auch das noch mies! Wenn sich einmal nicht alles um sie dreht! ... Was habe sie ihr denn früher geboten in der Hinsicht?!
„Nur Polizeigeschichten und jede Menge halbherzige Entschuldigungen für dauernde Abwesenheit,“ heult Mona.
Heftige Erregung, tiefsitzende, lang angestaute Gefühle von Kummer, Wut, Enttäuschung und Selbstmitleid, die roh hervorbrechen. Mehr schreiend als weinend tut sie einen Schritt auf Corinna zu. Die scheint kleiner zu werden.
Einmal in Gang, legt Monas Ausbruch einen Zahn zu.
„Ein Kind in die Welt setzen, unbedingt für sich haben wollen, ohne Vater, sich dann nur darum kümmern, wenn es passt – wenn das kein krasser Egoismus ist! Und selbst jetzt noch. Das ist so elend mies von dir! Ich will weiter lernen, habe endlich einen, bei dem mir das etwas bringt – nicht einmal das gönnst Du mir!“
Corinna schaut erschrocken zwischen uns hin und her.
Ich zwinge mich zur Zurückhaltung.
Ihr dämmert, welchen Fehler sie gemacht hat. Aber sie weiß nicht, wie sie ihn wiedergutmachen kann.
Ich weiß es auch nicht.
Das müssen die zwei selbst klarkriegen.
Mona keucht, beinahe heiser.
„Ist ja wohl kein Zufall gerade jetzt! Weil Du tierisch neidisch bist auf das, was Berkamp in San Francisco erlebt hat. Gib ’s doch zu, dir stinkt es mächtig, weil er dort viel über Polizeiarbeit gelernt hat und jetzt besser schießt als Du. In Wahrheit hast Du Schiss, er durchschaut, dass Du auch nur mit Wasser kochst!“
Ich stehe auf, warte, bis Mona schniefend Luft holt, mit dem Ärmel die Tränen aus dem Gesicht wischt, ziehe sie an der Schulter zu mir, sanft, aber bestimmt.
„Okay, Mona, jetzt ist gut. Pscht! Du hast recht. ... Jedes Mädchen sehnt sich nach einem Vater. Wenn der fehlt, das ist einfach Mist. Und eine Mutter mit einem derart unmöglichen Beruf ... das macht es nicht besser. Aber das ist längst vorbei.“
Mir ist gleichgültig, ob Corinna hinter mir steht und hört, was ich sage. Jetzt gilt meine Zuwendung Mona. Die fängt jämmerlich an zu weinen, drückt sich seitlich an mich, will etwas sagen.
„Pscht, Mona, ist gut, Schätzchen. Alles, was wichtig war, hast Du gesagt. Jetzt geht es besser. Das muss auch deine Mutter lernen.“
Hinter uns fällt die Tür ins Schloss.
Mona hebt ihr Gesicht mit grau verschmierten Wangen. Diese zauberhaft grünen Augen, ganz nah und kummervoll, mit einer Träne an einer Wimper – Mädchen, Tochter, Freundin, Liebesschwarm; die junge Frau ist gut für jede Menge Gefühle. Zu gern hätte ich sie geküsst. Statt dessen tippe ich nur kurz meine Nasenspitze gegen ihre.
„Puh! Das musste raus,“ schnauft sie, weiter an mich gelehnt. „Weil, verstehst Du, Berkamp, das hat mir wirklich gefehlt. Früher. ...“
Nicht immer alles allein rausfinden müssen, auch in Bezug auf Jungs, und wie Männer ticken. Wenn du so viel Phantasie hast wie sie. Wie oft habe sie sich vorgestellt ...
Sie schluckt gegen erneut hochkommende Tränen an.
„Pscht, Mona-Herz; Vergangenheit.“
„Aber trotzdem nicht schön. Und jetzt ... ich meine ... dein Küsschen auf den Po! Wir wissen doch, das war harmlos und nur lieb gemeint. Oder wie wir heute miteinander reden, wir zu zweit. Oder sonst mit Mammi, richtig gemeinsam. Das kann so toll sein ... und lehrreich. Sogar über ihre Arbeit. Ich rede wirklich gern darüber. Die weiß gar nicht, wie viel Überwindung mich das am Anfang gekostet hat ... Und heute, Englisch; einmal nur, was mir wichtig ist ...“
Es folgt ein neuer Schub Tränen und bebenden Schluchzens. Ich halte sie nur, streichele sanft ihren schlanken Rücken. Sie braucht eine ganze Weile, bis sie sich beruhigt und fühlbar entspannt.
Ich fasse sie an den Schultern, schiebe sie ein wenig von mir.
„Wenn Du mich fragst, Mona, Schluss mit dem Geheule. Ich hätte Lust auf noch einen Tee und Kekse. Dann hocken wir uns wieder hin und reden weiter. Was hältst Du davon?“
Sie blinzelt zaghaft erfreut, neigt den Kopf ein wenig.
„Echt, willst Du, Berkamp?“
„Und ob, wer sollte uns daran hindern?“
„Was ist mit Mammi?“
Einstweilen abgemeldet.
„Hach, toll! Gern, ist das schön! Ich auch, ich will auch noch einen Tee. Und wir reden weiter.“
Black Buffalo Carey. Mona spricht erkennbar gern über ihn, will wissen, wie er aussieht, was er im Casino arbeitet und welche Tricks er mir beim Schießtraining beigebracht hat.
Wir reden, sie strahlt wieder.
Es ist schön, so zusammen zu sein.
Nach ihrem zweiten verschämten Gähnen befehle ich auf Englisch:
„Ich denke, es reicht. Zähne putzen, umziehen und ab ins Bett!“
Mona ist fünfundzwanzig und du redest mit ihr fast wie früher mit deiner zehnjährigen Claudia-Tochter, schießt mir durch den Kopf. Was ist schlimm daran? Zumal Mona die kleine Glückseligkeit anzusehen ist. Vor sich hinlächelnd verlässt sie das Wohnzimmer. Ich räume die Teepötte und die restlichen Kekse weg.
Als Mona mehrere Minuten später im Schlafanzug aus dem Badezimmer kommt, bleibt sie einen Augenblick unentschlossen an der Küchentür stehen.
„Ab in die Federn, Mona. Sonst drohe ich dir ein Schlaflied an.“
Sie lässt ihre Zimmertür einen Spalt breit geöffnet. Ich gehe hinein, ziehe die Bettdecke zu ihren Schultern hoch und zerzause ihre Haare.
„Gute Nacht, Schatz!“
„Gute Nacht, Berkamp. Und danke.“
Entgegen meiner Befürchtung finde ich Corinna nicht als hellwaches, heulendes Elend, sondern tief im Schlaf, als ich leise ins Bett neben ihr krieche. Ihr gleichmäßiger, ein wenig summender Atem hilft mir beim zügigen Einschlafen.