Читать книгу Die Hexe zum Abschied - Günter Billy Hollenbach - Страница 24

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Alt-Praunheim im Norden Frankfurts. Die Römerstadt-Straße schlängelt sich. Ich folge ihr, bis ich rechts in die Burgfeldstraße einbiegen kann. Der Einbahnverkehr in den schmalen Wohnstraßen macht das Durchkommen zu meinem Ziel mit dem Auto etwas mühsam. Also parke ich hinter der nächsten Schleife, gehe geruhsam mehrere hundert Meter zurück bis zu dem Doppelhaus, in dem Frau Neskovaja wohnt. Trotz des grauen Himmels ist es heute Vormittag angenehm mild. Die Luft hier riecht frisch und „grün“. Ich halte mich auf der gegenüberliegenden Straßenseite mit angrenzenden Kleingärten voller Büsche und Bäume, gehe bis zur nächsten Kreuzung und wieder zurück.

Vor der Haustür, auf die es ankommt, scheuert eine ältere, rundliche Frau die silbrigen Frontklappen der vier Briefkästen links neben der offenstehenden Eingangstür ab. Die Frau trägt ein grüngelbes Schürzenkleid, hat schlohweiße Haare und ein auffallend rotes Gesicht.

„Die Frau Doktor kann es ja noch net mache, ... dauernd des Geschmiere, ... rücksichtslose Bagage,“ erklärt die Frau unaufgefordert in schönstem Frankfurterisch, während ich näher trete. Vom Briefkasten links oben verschwindet ein Teil eines roten Buchstabens, wie mit grobem Pinsel gemalt; vielleicht ein „H“. Die anderen Briefkästen sind bereits gesäubert.

Als sie bemerkt, dass ich stehen bleibe, dreht sich die Frau halb zu mir.

„Waren die anderen Briefkästen auch bemalt?“

„Neh! Net werklisch. Wieso, was interessiert Sie des?“

Ihr Blick und ihr Ton werden misstrauisch. Ehe ich antworten kann, fragt sie unerwartet abweisend nach.

„Is’ was, wolle Se was?“

Sie beäugt mich immer noch von der Seite.

„Sind Sie Presse?! Gehen Sie weider, hier gibt ’s nichts zu sehen. Mer wolle unser Ruhe habbe.“

„Nein, guten Tag, mein Name ist Berkamp. Keine Presse. Ich bin ein guter Bekannter von Frau Dr. Neskovaja. Die wohnt doch hier, richtig? Wir kennen uns beruflich. Ich habe sie gestern in der Klinik besucht. Sie hat mich gebeten, nach der Post zu schauen.“

„Sie? Komisch, des mächt doch sonst der Freund von dä Frau Doktor.“

„Wenn er Zeit hat. Herr Bucharin ist viel unterwegs. Das wissen Sie vielleicht.“

Mein Gerede nahe entlang der Wahrheit stimmt die Frau offener. Sie wirft den Scheuerschwamm in ein kleines Eimerchen halbvoll mit rosagefärbtem Wasser auf der obersten Treppenstufe, wendet sich mir ganz zu und deutet mit dem Ellbogen in Richtung Briefkästen.

„Da is nix drin heute, und die Post ist schon dorsch.“

„Wie gesagt, mein Name ist Berkamp. Darf ich wissen, wer Sie sind?“

„Ich bin die Vermieterin.“

Sie mustert mich erneut von Kopf bis Fuß.

„Mir, uns, meinem Mann und mir, gehört das Haus hier. Röderer, ich bin die Frau Röderer; da, links unne unser Briefkasten.“

„Danke, das ist nett, Frau Röderer. Sie wissen ja inzwischen, was mit der Frau Doktor passiert ist. Die Ärmste ist total schockiert. Abgesehen von den Verletzungen. ...“

Frau Röderers Gesichtsausdruck wird beinahe freundlich, mit einer Spur Neugier in den Augen.

„Sache Se mal, war des ein Lustmödder? Na, ja, Sie wisse schon, kein richtiger Mörder, die Frau lebt ja noch, ein Glück.“

„Das ist das Beunruhigende. Frau Neskovaja hat keine Ahnung, wer ihr das angetan hat. Angeblich tappt die Polizei auch im Dunkeln.“

Frau Röderer schnauft abfällig. So wie sie befragt wurde, erklärt sie, habe sich das ganz anders dargestellt. Die Frau ist unentschlossen. Doch ihr Mitteilungsbedürfnis siegt.

Ich nicke ermutigend.

„Wisse Se, des war eine ganz Patente, e hübsch Mädsche, ... diese Oberkommissarin, sollte man gar net meinen, so nett wie die ausgesehe hat. E bissche ehrgeizisch, des war se schon. Die war des doch, die mit dem Sex-Kram ahgefange hat. Vielleicht wollte se mich auch nur uffs Glatteis führe? Hat mich paar mal gefragt, ob die Frau Doktor häufig Männerbesuch gehabt hat, ob ich da was mitgekrischt hätt?“

Frau Röderer mit der herausragenden Menschenkenntnis nickt wissend, klingt etwas selbstgefällig.

„Aber Sie haben nichts mitgekriegt?!“

„Wo denke Sie hin! Natürlich net! Weil da nix war mit fremde Männer. Die Frau Doktor ist eine ganz Liebe, eine dorsch un dorsch anständige Person; komische Sex-Kram ... die doch net. Kommt aus Russland, arbeitet im Krankehaus bis zum Umfallen, macht keinen Ärger ... und dann das! Die arm Frau. Was denkt die jetzt von uns? Ich mein, von Deutschland. Und von der Polizei. Sie in de Schmutz zu ziehe?! Obwohl, sie ist längst auch Deutsche, die Frau Doktor. Und man sieht ihr ja nicht an, wo sie geboren ist. Obwohl, manchmal beim Sprechen, wenn mer uffpasst, merkt man den Unterschied.“

„Dass es wenig Männerbesuche gab, haben Sie der Polizei gesagt.“

„Ei, ich bitt Sie, klar doch. Die Frau zahlt pünktlich die Miete, gibt mir manchmal nen gude Tipp für die Gesundheit. Da sach ich doch nix Falsches über sie, nur weil die Polizei was Verruchtes hören will.“

Ich muss lachen. So kann man es auch sehen.

„Das finde ich gut, Frau Röderer. Weil ... Tatjana ist wirklich eine gute Ärztin und obendrein eine sehr freundliche Person. Lassen Sie mich trotzdem dumm fragen: Ist Ihnen irgendetwas aufgefallen, wer das getan haben könnte? Natürlich ganz unter uns. Nur der Frau Doktor darf ich es vielleicht sagen, ja?“

„Ach Sie, Herr Bärmann, mein Mann und ich, wir haben jetzt schon oft genug darüber geredt. Mir ham nix beobachtet. Man will ja auch nix Falsches sache. ... Bloß der Freund, der Verlobte, dieser Herr Bucharin!“

„Was ist mit dem?“

„Ach, ich weiß net. Ich hab den auch schon noch mit andere Fraue gesehen."

Zufällig drüben im Einkaufszentrum Nordwest, das kenne ich doch? Das sah nach mehr als bloßer Bekanntschaft aus. Aber man kann sich ja auch täuschen, mit den jungen Dingern von heute. Und einmal, vor drei oder vier Woche, war eine junge Frau hier. Die hat sich die Namen auf den Briefkästen genau angeschaut. Als ob sie jemanden sucht.

„Können Sie sich noch erinnern, wie die Frau aussah.“

„Welche meine Se, die im Einkaufszentrum?“

„Nein, die andere, die hier nach den Briefkästen geschaut hat.“

„Ja, ziemlisch genau sogar. Stück kleiner als Sie, Kopptuch und Kapuze, weil es hat geregnet an dem Tag, mit schwarze Haarn, hellgrauer Mandel, der wie eine Jacke aussah, so halblang. Weil, man sieht ja hier nicht oft neue Gesichter, deshalb guck ich mir die Leute gern an. Und sie hat ne Brille getragen ... mit einem breiten dunklen Rand. Mit der Kapuze, das macht das Gesicht ziemlich dunkel.“

„Haben Sie gesehen, ob die Frau mit einem Auto ...“

„Näh, näh, die kam zu Fuß daher. Sie ist zweimal am Haus vorbeigelaufe. Aber das war nicht die Frau im Einkaufszentrum. Da bin ich mer sicher.“

Mir fällt wieder ein, was ich gleich hätte fragen sollen.

„Bitte, Frau Röderer. Die anderen Briefkästen waren auch beschmiert? Was stand da drauf?“

„Ebe, des hab ich doch vorhin gemeint. Dreckig warn die alle, bei dem Wetter, mer weiß es net. Aber vollgeschmiert war nur der da oben, von der Frau Doktor. Sie, jetzt, wo Sie danach frage, komisch is des schon, finde Se net?“

„War der Buchstabe ein „H“? Oder ein „N“?“

Frau Röderer dreht ihr Gesicht den Briefkästen zu.

„Des sieht mer doch. Des is ein „H“. Oder? Vielleicht ist der Schmierer überrascht worde un war gar nich fertich. Wie son Strichmännchen, verstehen Sie.“

Sie winkt abweisend mit der Hand:

„Wisse Se, was ich glaub? Meine Mudder hat als gesacht: Frauen sind das unsolidarische Geschlecht. Grad wenn ’s um Männer geht. Ich mein, wenn dieser Bucharin noch andere Freundinne hat, verstehen Sie? Wenn die bös eifersüchtig ist, odder wenn Geld im Spiel ist oder, wisse Se, am End e Kind, ich meine, Schwangerschaft, das könnt schon heftig zugehe, zwischen dene Frauen, meine ich.“

„Sie, Frau Röderer, das ist ein sehr interessanter Gedanke. Demnächst werde ich Frau Doktor vorsichtig danach fragen. Dass die Idee von Ihnen stammt, sage ich natürlich mit keinem Wort.“

„Machen Se des, wie Se wolle. Sache Se der Frau Doktor n schöne Gruß und gute Besserung von uns, auch von meim Mann, ja?!“

„Gern, vielen Dank. Darf ich kurz einen Blick in den Flur und auf die Treppe nach oben werfen?“

„Ei ja, gugge Se ruhig.“

Die Treppe aus mittelbraunem Eichenholz mit einer Windung im unteren Drittel stammte wahrscheinlich aus den 1950-er oder 60-er Jahren.

Große Möbel könnte man höchstens hochkant und mindestens zu zweit ins erste Stockwerk tragen. Ein einzelner Mensch müsste sehr kräftig und geübt sein, um die ohnmächtige Ärztin, etwa über der Schulter, hier hinauf zu schaffen. Schwere, laute Schritte wären dabei unvermeidlich.

Der Anblick der Treppe bestärkt mich in der Annahme zweier Täter.

Sehr viel schlauer macht mich das nicht.

*

Frau Röderer hat inzwischen die Briefkästen fertig gewischt und erwartet mich auf der unteren der drei Eingangsstufen.

„Un, hat des was genutzt?“

„Ganz sicher, Frau Röderer. Danke für Ihre Zeit und die guten Ideen. Wiedersehen.“

Im Weggehen werfe ich einen Blick auf den dichten, immergrünen Busch rechts neben der Haustür. Zwischen der Hauswand und dem Grünzeug ist Platz genug für eine Person, um sich zu verstecken. Wenn jemand erschöpft ist, arglos auf die Haustür zugeht und den Blick nur auf den Briefkasten und das Türschloss ...

Mist! An den Briefkasten habe ich nicht gedacht, folglich Frau Neskovaja gestern auch nicht danach gefragt. Sie selbst hat ihn auch nicht angesprochen. Ob sie nach der Post geschaut hat? War das rote „H“ schon aufgemalt, als sie heimkam? Oder wurde es später angebracht?

Von den Angreifern?

Natürlich gibt es Zufälle.

Und feige Trittbrettfahrer.

Wenn es kein Zufall ist und der rote Buchstabe ein „H“? Um wen oder was anzuprangern? In jeder Nachbarschaft gibt es nette und weniger nette Mitmenschen. Die nicht davor zurückscheuen, an Türen, Tore oder Hauswände Beschimpfungen von Leuten zu schmieren, denen sie Übles unterstellen oder anhängen wollen. „H“ wie ... Hure?! Auf dem entsprechenden Briefkasten?

Dass Leute aus der Nachbarschaft Frau Neskovaja überfallen haben, schließe ich aus. Frau Röderers Hinweis auf die Frau mit Brille und Kapuze bestärkt mich darin. Jemand aus der Umgebung bekommt im Alltag mit, wo die Ärztin wohnt, muss nicht danach suchen.

Eine eifersüchtige Liebhaberin des adretten Herrn Bucharin? Schwer vorstellbar. Wenn ich von zwei Tätern ausgehe ... das passt nicht zu einer eifersüchtigen Nebenfrau.

Ein Grund mehr, die Brillenfrau mit Kapuze in Betracht zu ziehen. Gerade, wenn ich von zwei Angreifern ausgehe, von denen einer eine Frau ist.

Gut, gut, wieder ein Stückchen klüger geworden.

Die Hexe zum Abschied

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