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Auf Befehl des Führers

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Paris, 14. Dezember 1940

Am späten Abend trifft der aus Wien kommende Sonderzug mit der Nummer 392 am Pariser Ostbahnhof auf Gleis 26 ein. Am Zugende befindet sich ein Gepäckwagen. Der einzige Gegenstand, den er mitführt, ist ein Sarkophag aus Bronze. Auf dem Bahnsteig hat eine Ehrenformation der Wehrmacht Aufstellung genommen. Die nächsten Schritte folgen einem Ablaufplan, den die Deutsche Botschaft Paris mit Akribie verfasst hat. Pünktlich um fünf Minuten nach Mitternacht wird der Sarkophag mithilfe von Stangen, die die Stadtkommandantur befehlsgemäß geliefert hat, aus dem Waggon bugsiert, dann zu einer vor dem Bahnhof bereitstehenden Flaklafette geschleppt, die an ein Kettenfahrzeug angehängt ist. Der Doppelsarg wiegt 800 Kilo. Für das mühsame Manöver werden 16 Panzerjäger plus 16 Mann Ablösung gebraucht.

Der Sarkophag aus dem deutschen Sonderzug enthält die sterblichen Überreste des 1832 verstorbenen Herzogs von Reichstadt, Sohn Napoleons, Kaisers der Franzosen.

Frankreich ist 1940 ein erobertes und geteiltes Land. Die vom greisen Marschall Pétain, dem Sieger von Verdun, geführte französische Regierung mit Sitz im Bäderort Vichy ist auf den südlichen Teil des Landes beschränkt. Der nördliche Teil mit der Hauptstadt Paris sowie ein Streifen entlang der Atlantikküste sind deutsche Besatzungszone. Die Pariser haben keine Ahnung, was in dieser nasskalten Dezembernacht in ihrer Stadt abläuft.


Mitte Dezember 1940: Soldaten der deutschen Wehrmacht übernehmen den Sarkophag des „Königs von Rom“ bei der Ankunft in Paris, Gare de l’Est.

Der Geisterzug mit dem toten Herzog rollt Richtung Invalidendom. Der späten Stunde wegen und weil Ausgangssperre herrscht, sind die Straßen menschenleer. In den Häuserreihen, die die großen Boulevards säumen, schimmern nur vereinzelt Lichter hinter den Vorhängen, sonst liegt die Stadt in tiefer Dunkelheit. Der Schnee, der in dicken, feuchten Flocken fällt, hat sich wie ein Film über das Straßenpflaster gelegt. Trotzdem sind der schwere Marschtritt der Soldaten, das Rattern des Kettenfahrzeugs und das Motorengeräusch der dem Konvoi vorausfahrenden Kräder fast überlaut zu hören. Der Zug führt über die Boulevards Strasbourg und Sébastopol, dann entlang der Seine. Als er die Tuilerien passiert, ist der schwarze Samt, der den Sarkophag einhüllt, tropfnass geworden. Im Tuilerien-Schloss war Napoleons Sohn vor 129 Jahren zur Welt gekommen. Das Schloss steht schon lange nicht mehr. Es brannte 1871 während des Aufstands der Kommune nieder und wurde nicht wieder aufgebaut.

Vor dem Invalidendom harrt seit einer Stunde eine Gruppe von Franzosen in der feuchten Kälte aus. Unter den Offiziellen ist Admiral François Darlan als Vertreter der Vichy-Regierung der Ranghöchste, an seiner Seite sind die Generäle Laure und de La Laurencie. Ferner sieht man einige namhafte Kollaborateure wie Marcel Déat. Andere, wie der Schauspieler Sacha Guitry, mögen gekommen sein, weil sie sich nichts entgehen lassen, was mit dem Empereur zu tun hat. Jahre später wird Guitry für einen spektakulären Napoleon-Film das Drehbuch verfassen und die Regie führen. („Napoléon“, der 1954 in die Kinos kommt, ist eine französisch —italienische Produktion mit umwerfender Starbesetzung. Neben Sacha Guitry in der Rolle des Talleyrand treten u.a. Danielle Darrieux, Michèle Morgan, Maria Schell, Jean Marais, O. W. Fischer und Orson Welles auf.) Endlich, um 1:20 Uhr, ist es so weit. Eine Trillerpfeife kündigt das Ankommen einer Wagenkolonne vor der Esplanade an. Aus dem ersten Wagen klettert Botschafter Otto Abetz, aus dem nächsten der Militärkommandant von Paris, General Otto von Stülpnagel. Zwei Minuten später folgt die Lafette mit dem Sarkophag. Abetz gibt eine knappe Erklärung ab. Er sagt, von nun an ruhe die Asche des Herzogs von Reichstadt für alle Ewigkeit auf französischem Boden. Darlan antwortet ebenso knapp: „Ich danke Ihnen, daß Sie uns den Sohn unseres Kaisers zurückgegeben haben.“ Die Panzerjägersoldaten grüßen militärisch, machen kehrt und verschwinden in der Finsternis. Eine Abordnung der Garde Républicaine nimmt den Sarg auf, trägt ihn durch ein Spalier von Fackeln hinein in die Kirche und setzt ihn vor den Stufen zum Hauptaltar ab. Die Orgel spielt ein „Requiem“, ein kurzer Gottesdienst beendet die Zeremonie. Wortlos gehen die Offiziellen auseinander. Die Militärs salutieren, die Botschaftsangehörigen verabschieden sich, wie unter Ziffer 11 des Ablaufplans festgelegt, mit dem „deutschen Gruß“.

Man muss ziemlich weit zurückgreifen, um das gespensterhafte Geschehen dieser Nacht vom 14. auf den 15. Dezember 1940 zu verstehen. Am 15. Dezember 1840, also exakt hundert Jahre zuvor, war mit großem Pomp die sogenannte „Rückkehr der Asche“ („retour des cendres“) gefeiert worden, die Heimholung Napoleons nach Paris. 1840 stand es nicht gut um die Beliebtheit von König Louis Philippe und seinem Ministerpräsidenten Adolphe Thiers. Das nach der Julirevolution installierte „Bürgerkönigtum“ war in die Jahre gekommen. Thiers und Louis Philippe versuchten, ihr Ansehen dadurch aufzupolieren, dass sie den letzten Willen des vor 19 Jahren auf Sankt Helena Verstorbenen und inzwischen populärsten Franzosen erfüllten. „Ich wünsche, daß meine Asche an den Ufern der Seine ruhe, in der Mitte des französischen Volkes, das ich so innig geliebt habe“, hatte Napoleon in seinem Testament verfügt. Also wurden die Überreste des gefallenen Günstlings der Götter aus dem Südatlantik nach Europa gebracht und mit einem Dampfschiff von Le Havre nach Paris transportiert. Es war ein ungeheures Spektakel, als der mit violettem Tuch (violett, die Farbe des Martyriums) eingeschlagene Sarkophag vor dem Invalidendom eintraf. Veteranen der Großen Armee waren in die Hauptstadt geströmt. Die komplette Regierung, der hohe Klerus, Mitglieder des Hauses Bonaparte und die noch lebenden Wegbegleiter und Kampfgefährten des Kaisers hatten vor dem Invalidendom Aufstellung genommen. Kanonen donnerten, Posaunen bliesen, die Nationalgarde präsentierte, die Veteranen salutierten, als der Sohn Louis Philippes seinem Vater meldete: „Sire, ich übergebe Ihnen den Körper des Kaisers Napoleon!“ Und der König, Spross eines jahrhundertealten Geschlechts, verbeugte sich vor dem toten Emporkömmling und Geächteten Europas: „Ich empfange ihn im Namen Frankreichs.“ Unter den 10.000 Schaulustigen befand sich Honoré de Balzac. Er hatte zwei Tage zuvor im Saal des Conservatoire eine Aufführung von Berlioz’ „Chant sur la mort de l’Empereur Napoléon“ gehört, war also richtig eingestimmt.1 Der in Paris lebende Heinrich Heine, ein weiterer Verehrer Napoleons, wenn auch nicht kritiklos, gedachte des Tages im „Wintermärchen“:

Ich weinte an jenem Tag. Mir sind

Die Tränen gekommen,

Als ich den verschollenen Liebesruf,

Das Vive l’Empereur vernommen.

Nach der Heimkehr Napoleons wurden in Frankreich sehr bald Rufe laut, die die Heimkehr auch des Sohnes verlangten. Doch solange Metternich in Wien die Geschäfte führte, war daran nicht zu denken. Einen ernsthaften Vorstoß unternahm Napoleon III., der 1851 durch einen Staatsstreich an die Macht gekommene Cousin des Aiglon. Kaiser Franz Joseph ließ sich jedoch auf nichts ein. Die Habsburger klammerten sich an ihre Version, der Herzog von Reichstadt sei ein österreichischer Prinz gewesen. „Franz“ blieb in der Kapuzinergruft. Erst Adolf Hitler fand sich bereit, Napoleons Sohn zu repatriieren. Warum, das ist eine Geschichte für sich.

Die politisch-romantische Idee, Nazi-Deutschland könne den toten Sohn des großen Napoleon den Franzosen „schenken“ und so ein Zeichen der Gemeinsamkeit setzen, wurde erstmals 1938 ventiliert.A1 Jacques Benoist-Méchin, ein Franzose mit Sympathie für das Dritte Reich, und der frankophile Otto Abetz, damals Beamter in der Wilhelmstraße, reklamierten später das Erstgeburtsrecht jeder für sich. Zunächst ging die Initiative ins Leere. Reichsaußenminister Joachim von Ribbentrop stand damals kurz vor einem Arbeitsbesuch in Paris, und Benoist-Méchin versuchte ihm einzureden, es werde ein Leichtes sein, die napoleonselige französische Öffentlichkeit durch ein preiswertes, aber symbolträchtiges Gastgeschenk für das Reich einzunehmen. Aber Ribbentrop zeigte kein Interesse, und der von Abetz ins Bild gesetzte Hitler wollte Mussolini nicht verärgern. Der „Duce“ spekulierte auf das französische Korsika und lehnte alles ab, was nach Annäherung zwischen Berlin und Paris roch. Nach der Niederlage Frankreichs wurde der Gedanke erneut aufgegriffen. Wenn der „Führer“ für den Aiglon die Pforten der Kapuzinergruft öffne, werde das den Kräften der Kollaboration mit Deutschland Auftrieb geben. So argumentierte Abetz, und ähnlich dachte Ministerpräsident Pierre Laval, der zweite Mann des Vichy-Regimes, zu dem Abetz enge Kontakte unterhielt.

Im Geschichtsbild der Nationalsozialisten spielte Napoleon keine nennenswerte Rolle und schon gar keine positive. Er war der Mann, der Preußen geknechtet und über den Heinrich von Kleist gedichtet hatte: „Schlagt ihn tot, das Weltgericht, fragt euch nach den Gründen nicht.“ In „Mein Kampf“ taucht Napoleon nur in ein, zwei Randbemerkungen auf. Hitler interessierte sich nicht für ihn. Dagegen war Joseph Goebbels ein Bewunderer Napoleons. Gleiches galt für Philip Bouhler, den Chef der Kanzlei des Führers, der ein Buch über ihn verfasst hatte, „Napoleon. Kometenbahn eines Genies“. Was Leute wie Goebbels und Bouhler beim Thema Napoleon fesselte, war vor allem der propagandistische Nutzwert. Napoleon war in Rußland geschlagen worden, England hatte er nie besiegen können. Ließ sich Hitler nicht als Napoleons Testamentsvollstrecker darstellen? Die Gedankenverbindung war gewagt. Als sich 1942 abzeichnete, dass aus dem Blitzsieg über Russland nichts werden würde, wurde das Erscheinen von Bouhlers Buch erst einmal zurückgestellt. Der „Führer“ als Double des von Kosaken gehetzten Napoleon – so ein Eigentor wollte man denn doch nicht schießen.

1940 war die Situation anders. Die konzentrierten Anstrengungen des Reiches galten der Bestrafung des „perfiden Albion“. Ein Weckruf an die desorientierten Franzosen konnte nicht schaden. Hitler gab grünes Licht für die Überführung des Aiglon, wenn auch ohne große Leidenschaft.A2

Die Aktion wurde im Oktober in Gang gesetzt.A3 Als Zeitpunkt der Überführung fixierte man den symbolträchtigen 15. Dezember, den hundertsten Jahrestag der „retour des cendres“. Auf Empfindlichkeiten der Habsburg-Familie mussten keine Rücksichten genommen werden. Das für die Grablege zuständige Provinzialat der Kapuziner erhielt von der Gestapo eine kurze Information. Der Anweisung des „Führers“ war zu folgen. Was die Gestapo nicht wusste: Im Sarg der Kapuzinergruft fehlten Herz und Eingeweide Reichstadts. Seit dem 17. Jahrhundert war es bei den Habsburgern üblich, die sterblichen Überreste von Mitgliedern der Kaiserfamilie an drei verschiedenen Orten aufzubewahren. Der Sitte entsprechend wurden dem toten Aiglon Herz und Eingeweide entnommen und in der Kirche St. Augustin beziehungsweise der Herzogsgruft des Stephansdoms beigesetzt. Dort ruhen sie noch heute, das Herz in einer goldenen Urne, die Eingeweide in einer Vase aus Kupfer.


Eine Ehrenformation der Nationalgarde empfängt den Sarkophag vor dem Katafalk im Invalidendom.

In den diplomatischen Akten datiert der erste Hinweis auf die geplante Transportaktion vom 11. Oktober. Es handelt sich um eine „Aufzeichnung Kommandostab Ic“, die sich an den Militärbefehlshaber Frankreich und an Botschafter Abetz richtete. Unter Punkt eins hieß es lapidar: „Es ist beabsichtigt, den Sarg des Herzogs von Reichstadt von Wien nach Paris zu überführen.“ Der Rahmen der Zeremonie wird unter Punkt drei abgesteckt: „Reden und Kundgebungen sind nicht gestattet.“ Dahinter stand offenbar die von militärischer Seite geäußerte Sorge, es könne zu unkontrollierten Demonstrationen kommen. Die Botschaft ging auf die Bedenken ein. Ein Vermerk vom 9. Dezember hält fest, die Zeremonie könne ohne Kenntnis der Öffentlichkeit vonstattengehen, es sollte aber unmittelbar danach „in Presse und Rundfunk die im Hinblick auf Napoleons Kampf gegen England wünschenswerte propagandistische Auswertung erfolgen“.

Der Coup misslang vollständig. Grund war eine Palastintrige, die am 13. Dezember in Vichy ausbrach und alle von den deutschen Propagandastrategen und den französischen Kollaborationisten gesponnenen Pläne über den Haufen warf. Die Intrige richtete sich gegen Laval. Der Ministerpräsident hatte Feinde in der Bäder-Regierung. Sie warfen ihm vor, zu nachgiebig gegenüber den Deutschen zu sein. Pétain flüsterten sie ein, die Einladung in das besetzte Paris sei gefährlich, sie könne eine Falle sein mit dem Ziel, ihn festzunehmen und Laval an seine Stelle zu setzen. Der Marschall, der den Eigenmächtigkeiten seines Stellvertreters seit einiger Zeit misstraute, zögerte nicht. Er war über die kurzfristige Einladung Hitlers sowieso nicht begeistert und fand eine Reise unter winterlichen Bedingungen für sein Alter nicht erbaulich. Von ihm aus hätte der Napoleon-Sohn auch in Wien bleiben können. Pétain ließ Laval in Gewahrsam nehmen. Da er ahnte, dass der „Führer“ darüber nicht amüsiert sein würde – schließlich war Laval der Vertrauensmann des Siegers –, schickte er eilig ein beschwichtigendes Telegramm nach Berlin: „Indem Sie heute der Invalidengruft die sterbliche Hülle des Herzogs von Reichstadt zuführen, haben Sie dem Ruhm unserer Waffen eine Ehre erwiesen, die das Herz aller Franzosen rühren wird.“ Nach dieser devoten Einleitung stellte Pétain bedauernd fest, dass er die Teilnahme an der Feier wegen der dringend erforderlichen Umbildung seiner Regierung leider absagen müsse.

Das Telegramm erreichte die Reichskanzlei erst am Morgen des 14., zu spät, um die Aktion zu stoppen. Hitler war wütend, Abetz schäumte. Die ganze Vorarbeit war für die Katz. Die schöne bereits fertig formulierte Ansprache, die Abetz vor dem Invalidendom halten wollte („Ich habe die Ehre, im Namen und im Auftrag des Führers, Ihnen, Herr Marschall, den Sarg mit den Gebeinen des Herzogs von Reichstadt hiermit zu übergeben.“), konnte er in den Papierkorb werfen. Ohne den Marschall fehlte dem Weiheakt der Hauptdarsteller; die ganze Sache war nur noch die Hälfte wert.

Daran änderte auch die religiöse Trauerfeier nichts, die am 15. Dezember vom Pariser Erzbischof Suhard in dem von Jules Hardouin-Mansart erbauten Kuppelbau zelebriert wurde. Diesmal war das Publikum zahlreicher als in der Nacht. Entfernte Nachkommen der napoleonischen Marschälle Suchet, Masséna und Ney waren erschienen; sie sollten der Feier Glanz verleihen. Erwartet worden war auch der amtierende Chef des Hauses Bonaparte. Aber der in der Schweiz lebende Prinz Victor, ein Enkel von Napoleons jüngstem Bruder Jérôme, hatte die Einladung deutscher Stellen zurückgewiesen. Sein Fehlen wurde genauso registriert wie ein anderes: Der Kranz des „Führers“ war verschwunden. Das lag an Madame und Monsieur Morin, beide Bedienstete im Invaliden-Komplex. Das auffällige Gebinde, das am Vortag eingetroffen und dessen von einem Hakenkreuz gezierte Schleife mit der Aufschrift versehen war „Le chancelier Hitler au duc de Reichstadt“ („Der Reichskanzler Hitler dem Herzog von Reichstadt“), hatte den Unwillen des Paares erregt, das auf seine Weise intervenierte. Die Eheleute stahlen den Kranz, um ihn anschließend in Madame Morins heimischem Kamin zu verbrennen.2

Wenigstens funktionierten die Medien. Sie wurden am späten Abend des 14. vom „Geschenk“ des Führers in Kenntnis gesetzt und beeilten sich, die gewünschte Interpretation an die Leser zu bringen. Der Korrespondent der „Deutschen Allgemeinen Zeitung“ erklärte, was das neue Deutschland mit Napoleon verbinde. Dessen „stärkstes Vermächtnis“ sei nämlich seine „Todfeindschaft gegen England“ gewesen – eine Position, die wieder hochaktuell sei. Denn glücklicherweise habe inzwischen unter Führung des nationalsozialistischen Deutschland der „Endkampf“ um Europa begonnen. Dieser werde zweifellos mit der Niederwerfung Englands enden. Die zensierten französischen Zeitungen leisteten ihre Tributzahlung. Durch „die bewegende Entscheidung des Führers“, schrieb der „Petit Parisien“, könne Napoleon, der hundert Jahre auf den geliebten Sohn gewartet habe, jetzt „besser seinen ewigen Schlaf schlafen“. Der „France Soir“, der mehrere Tage nacheinander mit der Überführung aufmachte, titelte am 16. Dezember: „Seit dieser Nacht und durch eine Geste, die in der Geschichte einmalig ist, ruht Napoleon II. neben Napoleon I.“ Edouard Driault, Präsident der Stiftung Napoleon, urteilte, das Ereignis werde „den Namen und das Werk des Kanzlers von Großdeutschland“ erhöhen.

Im Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes findet sich eine Reihe französischer Dankesbriefe an den „Führer“. Sie belegen, dass die Botschaft vom 15. Dezember – der „Führer schafft, was Napoleon versagt blieb“ – bei den Nazi-Freunden in Frankreich angekommen war. So lobte ein Kriegsteilnehmer von 14/18 die „Ritterlichkeit“ („geste chevaleresque“) des Siegers. Ein anderer Einsender, ein Monsieur Babou aus Asnières, wünschte Hitler, „den ich als Nachfolger von Napoleon betrachte“, Glück und Erfolg.

Für Otto Abetz war das ein schwacher Trost. Die Palastrevolte von Vichy hatte das kollaborationistische Porzellan zerschlagen. Hitler war stocksauer auf Pétain. Napoleons Sohn ruhte nun zwar im Invalidendom, aber anders, als Abetz angenommen hatte, ließ das die Mehrheit der Franzosen kalt. 1840 hatten die Pariser gejubelt. Die Reprise der „Rückkehr der Asche“ quittierten sie mit Spottversen:

Wir wollen Fleisch, und man schickt uns Knochen.

Wir wollen Kohle, und man schickt uns Asche.

A1 Den Ablauf der Überführung des toten Herzogs von Reichstadt beschreibt sehr anschaulich Georges Poisson, Le retour des cendres de l’Aiglon. Hilfreich sind auch André Castelot, L’Aiglon, Jean Tulard, Napoléon II, Jean-Paul Cointet, Hitler et la France und Barbara Lambauer, Otto Abetz et les Français ou l’envers de la collaboration. Über die diplomatische Vorbereitung geben die Akten des Politischen Archivs des Auswärtigen Amts Auskunft, vor allem die Bestände Büro des Staatssekretärs, Frankreich Bd. 3, und Botschaft Paris.

A2 Hitler war an einer Kollaboration Frankreichs im Grunde uninteressiert. Er verachtete die Franzosen und misstraute ihnen. Sie waren ein schwaches Volk, rassisch nicht einwandfrei. Außerdem gab es noch die unerledigte Rechnung von Versailles. Der Traum von Männern wie Laval, Frankreich könne, wenn es nur den Rücken krümme, so etwas wie die Kronprinzen-Rolle in einem von Hitler-Deutschland dominierten Europa gewinnen, war eine Fata Morgana. Vgl. dazu die überzeugende Darstellung von Jean-Paul Cointet, Hitler et la France.

A3 Cointet, 120, gibt eine Behauptung Arno Brekers wieder. Der Bildhauer, der Hitler bei seiner Kurzvisite von Paris im Juni 1840 begleitete, schreibt in seinen Erinnerungen, Hitler habe am Grab Napoleons über den Herzog von Reichstadt gesprochen und seine Überführung angeordnet. In den Akten findet sich dafür keine Bestätigung, worauf Cointet zu Recht hinweist.

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