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Einleitung

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Sein Erdendasein währte nur kurz. Geboren am 20. März 1811 zu Paris, starb der Sohn Napoleons mit nur 21 Jahren am 22. Juli 1832 in Wien. Er selbst sah sein Leben als nichtig an. „Meine Geburt und mein Tod, das ist meine ganze Geschichte“, gestand er vor seinem Ende einem Freund.

Dabei war seine Mitgift märchenhaft gewesen. Als Abkömmling zweier Kaiser winkte ihm die glanzvollste Zukunft. Mit Napoleon, dem Kind der Revolution als Vater, und Marie Louise, der Großnichte der von der Konterrevolution heiliggesprochenen Marie-Antoinette als Mutter, war er die Frucht, die aus dem Neuen und dem Alten kam. Gleichsam aus These und Antithese gezeugt, schien er dazu bestimmt, den blutigen Epochenwiderspruch in sich zu versöhnen.

Aber die überreiche Ausstattung erwies sich als Fluch. Nichts könnte den Bankrott dieses Lebens schonungsloser entlarven als die Lücke in der Dynastie Bonaparte. In den Geschichtsbüchern folgt auf den ersten Napoleon der dritte. Die Fehlstelle, das ist der „Aiglon“, der „kleine Adler“, wie ihn Victor Hugo in Anlehnung an den Beinamen Napoleons („l’Aigle“) genannt hat.

1814 wurde er als Dreijähriger aus Frankreich nach Österreich entführt. Das Reich des Vaters lag in Trümmern. Napoleon musste mit der Insel Elba vorliebnehmen, die man dem einstigen Herrn der Welt überlassen hatte. Ein Jahr später kehrte er als Eroberer nach Frankreich zurück. Doch das Abenteuer der Hundert Tage scheiterte in Waterloo. Sein Erbe blieb als Gefangener Metternichs in Wien. Dort wuchs er zu einem blendend aussehenden jungen Mann heran, dessen Melancholie die Frauen entzückte. Seine Gefangenschaft und sein früher Tod – er starb an Tuberkulose – inspirierten die Fantasie der Zeitgenossen. In der Legende wurde das „weltgeschichtliche Kind“ (Varnhagen von Ense) zum unglücklichen romantischen Prinzen, den keine schöne Fee erlöste, weil tyrannische Mächte ihn bis zuletzt eingesperrt hielten.

Das Leid des Napoleon-Sohnes hat die Menschen immer gerührt und viele Dichter angeregt. Der Historiker hat einen anderen Blickwinkel. Er sucht nach Erklärungen für dieses außergewöhnliche Schicksal. Warum schloss man ein schuldloses Kind von der Welt ab? Warum raubte man ihm den Namen? Was trieb Metternich, was veranlasste Könige und Kabinette, ihm Titel und Ansprüche zu nehmen? Wer gräbt, stößt auf die innen liegenden Schichten jener nur scheinbar ruhigen Zeit zwischen den Revolutionen, die wir die Restaurationszeit nennen.

Der Sturz Napoleons beendete ein blutiges Vierteljahrhundert. Europa hatte für die Revolutionskriege, die mit der Leidenschaft von Religionskriegen geführt worden waren, mit Millionen Toten gezahlt. Nun sollte Friede einkehren. Die Sieger hatten Grund zu feiern, was sie in Wien bei Walzer und Wein auch ausgiebig taten. Aber sie waren ihrer Sache nicht sicher. Die Revolution konnte zurückkommen. Der Vulkan konnte wieder aktiv werden und verderben, was man gewonnen zu haben meinte: zwischenstaatlich eine friedensichernde Architektur, die auf der Anerkennung eines relativen Kräftegleichgewichts basierte, innerstaatlich eine Ordnung, die auf den Vorrechten von König und Adel aufbaute. Niemals wieder sollte eine Supermacht entstehen können, die den übrigen Mächten ihren Willen aufzwang. Nirgendwo durfte zugelassen werden, dass unter dem Schlachtruf der Volkssouveränität abermals die Grenzen zwischen Ständen und Staaten niedergerissen wurden, wie es die Revolution und Napoleon getan hatten.

Auf dem Wiener Kongress und bei einer Reihe nachfolgender Konferenzen richteten die Siegerstaaten – Russland, Preußen, England und Österreich – sowie das inzwischen wieder von einem König regierte Frankreich ein zweifaches Präventionssystem auf. Sie verpflichteten sich, ihre Konflikte künftig friedlich auszutragen und bildeten dazu eine Art Überregierung, einen „Sicherheitsrat avant la lettre“ (Thierry Lentz). Keine Veränderung der territorialen Beschlusslage von 1815 sollte zugelassen werden, es sei denn, sie war von der Überregierung gegengezeichnet. Zugleich richtete man einen Damm gegen die „sociale Revolution“ (Metternich) auf, das heißt gegen liberale und emanzipatorische Bestrebungen. Von dieser Doppelsicherung erhofften die Mächte nicht grundlos eine langfristige Befriedung des Kontinents. Die Kehrseite der Medaille war, dass sie damit zugleich auch den Keim neuer Konflikte legten. Wer immer mit den Grenzziehungen des Wiener Kongresses unzufrieden war oder dem Obrigkeitsstaat mehr politische Mitsprache abringen wollte, musste zum Feind dieser Ordnung werden.

Die konservative Schanzarbeit wurde mit unterschiedlichem Eifer betrieben. Großbritannien war schon bald durch seine überseeischen Interessen abgelenkt und konnte als Land, das auf seine politischen Freiheiten stolz war, den Freiheitsdrang anderer Völker nicht so ohne Weiteres missbilligen. Russland blieb in seinem imperialen Streben unberechenbar. Preußen zögerte eine Weile, ehe es das im Kampf gegen Napoleon gegebene Verfassungsversprechen einkassierte. Dagegen besaß für Österreich und für Frankreich die Bekämpfung des revolutionären Bazillus absoluten Vorrang. In Frankreich stand das wiederhergestellte bourbonische Regime auf schwachen Füßen. Man zitterte vor bonapartistischen Aufständen und war entsprechend nervös. Österreich fürchtete überall unkontrollierte Volksbewegungen, vor allem in Italien und in Deutschland. Der leitende österreichische Minister Metternich war der unermüdliche Antreiber einer Politik, die darauf zielte, Ruhe und Ordnung, wie er sie verstand, mit allen Mitteln zu verteidigen. Polizeiaufsicht und Pressezensur, die er nicht nur im Habsburgerstaat installierte, machten ihn zur bevorzugten Zielscheibe der europäischen Liberalen, was ihn jedoch wenig störte. Mit seinen ewigen Warnungen vor einem neuen Erdbeben à la 1789 ging er mitunter selbst wohlmeinenden Kollegen auf die Nerven. Faktisch gab ihm die Entwicklung recht. Der Geist der Revolution war lebendig geblieben. Im Juli 1830 reichten den Parisern drei Tage, die „Trois Glorieuses“, um den reaktionären Karl X. vom Thron zu stürzen, und sofort drohte halb Europa in Brand zu geraten.

Recht behielt Metternich auch in einer zweiten Hinsicht. Bei Waterloo war Napoleon geschlagen worden, aber das Charisma seines Namens hatte die Niederlage überlebt. Sprengstoff lag in diesem Namen! Metternich ahnte, was passieren würde, wenn Unzufriedene in Europa auf die Barrikaden gingen. Sie würden sich den ehemaligen Kaiser zum Schutzpatron erwählen. Genau das geschah 1830. Zu diesem Zeitpunkt war Napoleon zwar schon neun Jahre tot, aber sein Sohn und Erbe lebte. Auf ihn richteten sich die Hoffnungen der Aufrührer. Ohne je gefragt worden zu sein, galt der Aiglon plötzlich als Anwärter auf alle wankenden oder zur Besetzung anstehenden Throne. Für jeweils einen Wimpernschlag war er Wunschkönig von Frankreich, Belgien und Polen. Manche sahen in ihm die Idealbesetzung für den neu geschaffenen Thron Griechenlands. In Italien ließen die geheimbündlerischen Carbonari den Sohn Napoleons hochleben.

Das hatte Metternich vorhergesehen. Als sich 1814 in den Wirren vor der ersten Abdankung Napoleons die Gelegenheit bot, des Kindes habhaft zu werden, hatte er sie kaltblütig genutzt. Der Aiglon wurde in österreichische Geiselhaft genommen. Ihn töten zu lassen, wäre zu weit gegangen. Schließlich war Kaiser Franz sein Großvater. Also beschloss man, den hochgefährlichen Knaben auf subtile Weise unschädlich zu machen. Eine Umerziehungsmaßnahme wurde eingeleitet. Ganz ähnlich waren in den Neunzigerjahren die Pariser Jakobiner mit dem Spross von Marie-Antoinette und Ludwig XVI. verfahren, jener Lücke im dynastischen Zählwerk des Hauses Bourbon (auf Ludwig XVI. folgte Ludwig XVIII.). Er wurde nach der Hinrichtung seiner Eltern in die Obhut eines revolutionären Schusters gegeben, bevor er zehnjährig im Temple starb. Der Unterschied bestand darin, dass der Napoleonide nicht zum kleinen Sansculotten gezüchtet werden sollte wie der unglückliche Bourbone, sondern zum braven Österreicher. Was ihn mit Frankreich verband und mit seinem Vater, sollte er vergessen. Noch nicht einmal den Namen ließ man ihm. Aus Napoléon-François-Joseph-Charles wurde ganz offiziell Franz Karl, man rief ihn Franz oder Franzerl, nur für die einfachen Leute blieb er der „kleine Napoleon“.

Natürlich trug der schnöde Umgang mit dem Kaisersohn den Verantwortlichen keine Ehre ein. Die Nachwelt gedachte des Aiglon als eines wehrlosen Opfers, an dessen fleckenloser Unschuld sich die Mächtigen in schwarzer Ruchlosigkeit vergangen hatten. Dabei waren Kaiser Franz und Metternich keine Sadisten. Der Kaiser mochte seinen Enkel. Metternich lag der Gedanke, das Kind zu quälen oder büßen zu lassen für die Taten seines Vaters, fern. Er war von Natur aus viel zu lässig, um nachtragend zu sein. Nur wenn es um die Revolution ging, war er kompromisslos. Der Aiglon hatte das Unglück, Stein auf dem Schachbrett einer Auseinandersetzung zu sein, die nach neuen Regeln geführt wurde, ohne Ritterlichkeit und Nachsicht. Schon sein Vater hatte das zu spüren bekommen. Einen anderen hätte man nach der triumphalen Rückkehr aus Elba gewähren lassen. Man hätte die Vertreibung Ludwigs XVIII. als innerfranzösische Angelegenheit betrachtet. Aber Napoleon war kein normaler Thronprätendent. Er war ein Parvenü, der Exponent des revolutionären Frankreich, das man fürchtete wie Pest und Cholera. Als solcher stand er „außerhalb der zivilen und sozialen Ordnung“, wie eine Erklärung der Alliierten vom 13. März 1815 formulierte, und wurde als „Feind und Störer der Ruhe der Welt“ dem Abschuss durch jedermann freigegeben. Seine Verbannung nach Sankt Helena, die einem Todesurteil nahekam, war vor diesem Hintergrund nur folgerichtig.

Die Behandlung des Sohnes entsprang demselben manichäischen Weltverständnis, das nur schwarz oder weiß gelten lässt. Für Metternich war die Revolution eine ständig lauernde Gefahr und der Sieg über Napoleon noch nicht vollständig. Es musste verhindert werden, dass der Sohn in die Fußstapfen des Vaters trat. Seine Gefangenschaft und das Zerbrechen seiner Identität waren in diesem Sinne kein Racheakt, sondern eine politisch-bürokratische Vorsichtsmaßnahme, aber deshalb nicht weniger perfide. Das Opfer fragt nicht, aus welchen Beweggründen es drangsaliert wird.

Im Übrigen besaß Metternich auch ein persönliches Motiv, die Lebensgeschichte des Aiglon zu fälschen. 1809/10 hatte er zu den wichtigsten Förderern der Ehe Napoleons mit der Erzherzogin Marie Louise gehört, was ihm von den eingeschworenen Napoleon-Feinden als schlimmer Verrat angekreidet wurde. Aber Metternich hielt die Verbindung für opportun, denn Österreich lag am Boden, und der Kaiser der Franzosen stand im Zenit seiner Macht. Nach Napoleons Sturz war ihm die Heiratsvermittlung dann peinlich, ihr Produkt erschien wie ein hässlicher Fleck im Porträt des unbeirrbaren Kämpfers gegen die Revolutionshydra. Indem Metternich den Aiglon seiner Heimat entfremden ließ und ihm eine österreichische Personalakte unterschob, wollte er auch die eigene Vergangenheit zurechtrücken.

Metternichs antirevolutionäre Vorsorgepolitik war stringent und klarsichtig, andererseits wie jede Politik, die von Veränderungsangst geleitet ist, auch kleinmütig und mitleidlos. In der Geschichtsschreibung ist es üblich, die Karlsbader Beschlüsse als sprechendsten Ausdruck seines repressiven Systems anzusehen. Genauso signifikant ist das Schicksal des Gefangenen von Schönbrunn. Das Kind, vor dem die Mächtigen erbeben, ist das Abbild einer Epoche, die ebenso von kalter Herrschaftslogik wie von großer Ratlosigkeit der Herrschenden gekennzeichnet war.

Mit welchem Fleiß die Entpersönlichung des Aiglon betrieben wurde, erfährt jeder, der in Personenregistern wissenschaftlicher Werke und in Literaturverzeichnissen blättert. Unter welchem Buchstaben soll er den Sohn Napoleons am besten suchen? Unter R für (König von) Rom, als der er geboren worden war, oder (Herzog von) Reichstadt, ein Operettentitel, den ihm Kaiser Franz verlieh? Unter N für Napoleon II., der er für einen kurzen Augenblick gewesen war? Unter A für Aiglon? Vielleicht unter P? Schließlich war er auch einmal Erbprinz von Parma. Seine Biografen haben mal hier, mal da zugegriffen. Sie alle standen und stehen vor dem seltenen Problem, ihren Helden nicht zuverlässig beim Namen nennen zu können. Nur Titel sind von ihm geblieben, die allerdings, weil sie mehrfach geändert wurden, bloß Verwirrung stiften. 1829 fand Auguste Barthélemy einen Ausweg aus dem Dilemma. Der heute weithin vergessene französische Dichter widmete der Wiener Geisel ein Versdrama mit dem Titel „Le fils de l’homme“ („Der Sohn des Mannes“). Wahrscheinlich wollte Barthélemy mit dieser Umschreibung seine Haut retten. Napoleon war, als das Poem erschien, in Frankreich eine Unperson, und Autoren taten gut daran, seinen Namen weiträumig zu meiden. Listig und zugleich witzig machte Barthélemy das Kind mit der uneindeutigen Identität zum Sohn eines unaussprechlichen Vaters, und jeder wusste Bescheid.A1

„Le fils de l’homme“: Wie in Stein gemeißelt ist die tragische Existenz des Aiglon in diesen vier Worten. Sie sind das Epitaph eines Lebens, das nicht gelingen konnte. Als Sohn des Übervaters hätte es der kleine Napoleon immer schwer gehabt, ganz ohne die Nachstellungen Metternichs. Als Träger des väterlichen Charismas war er chancenlos. Er wurde zum Spielball der Politik, hineingeworfen in den Ringkampf der großen rivalisierenden Ideen. Ob die Reaktion ihn knebelte oder die Revolution ihn missbrauchte – das Ergebnis war stets gleich. Er blieb das Objekt fremden Willens.

Er blieb es bis weit nach seinem Tod. Im Dezember 1940 wurden seine sterblichen Überreste in einer Nacht- und Nebel-Aktion von Wien nach Paris befördert, um unter der Kuppel des Invalidendoms neben denen seines Vaters bestattet zu werden. Der Propagandacoup Nazi-Deutschlands markiert den Schlusspunkt im langen Feuilleton der Instrumentierung des Aiglon. Deshalb soll dieses Buch, das die Geschichte eines unmöglichen Lebens erzählt, gegen die Gewohnheit mit dem Epilog beginnen.

A1 Die Entstehung des 350 Verse umfassenden Poems schildert Jean Tulard, Napoléon II, Paris 1992, 11ff. 1828 hatte Barthélemy zusammen mit seinem Co-Autor Méry ein Vers-Buch über Napoleons Ägypten-Feldzug verfasst. Um den Lobgesang besser verkäuflich zu machen, kam er auf die Idee, ihn u.a. dem Aiglon zu widmen. Dazu reiste er nach Wien, traf dort den Erzieher des Napoleon-Sohnes Dietrichstein, der ihm allerdings die Kontaktaufnahme mit der Begründung untersagte, der Prinz sei „zwar kein Gefangener“, befinde sich aber in einer „besonderen Position“. Barthélemy entschloss sich, aus der Abfuhr das Beste zu machen, reiste zurück und schrieb „Le Fils de l’homme“. Österreich kam in dem Stück natürlich ganz schlecht weg. Die französischen Behörden waren alarmiert. Sie zerrten Barthélemy vor Gericht, wo der Dichter zu drei Monaten Gefängnis und 1000 Francs Strafe verurteilt wurde. Die Auflage des Buches wurde zerstört. Bei Tulard ist der Text des Poems abgedruckt, 215ff.

Napoleons Sohn

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