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Georg

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Das Beginenhaus in der Hollensammlung, in unmittelbarer Nähe der Reutlinger Marienkirche, stand schon seit beinahe 100 Jahren. Immer mehr Frauen suchten Zuflucht in der halb laienhaften, halb religiösen Gemeinschaft, zu der Männer nicht zugelassen waren. Die Beginen gehörten keinem Orden an und führten kein klösterliches Leben. Die Erfüllung, die sie suchten, beschrieben sie selbst als den ›mittleren Weg‹. Ihre Vorbilder waren Frauen wie die Heilige Johanna von Orleans, die ein heiliges Leben geführt hatte, ohne je einem Orden angehört zu haben. Zwar hatten sie Regeln, die denen eines Ordens ähnelten, wer aber mit den Grundregeln der Bescheidenheit, Keuschheit und des Fleißes nicht zurande kam, konnte jederzeit ohne Folgen wieder austreten.

Als die 25-jährige Begine Gerlinde am 23. April 1458 vor die Tür trat und dort ein abgelegtes Bündel Mensch fand, das nach Kräften schrie und strampelte, war sie nicht überrascht. Es kam häufiger vor, dass junge Mütter ihre meist unehelich geborenen Kinder vor einem Beginenhaus ablegten. Die Waisenkinder wurden dort einige Jahre erzogen und durchgefüttert, bis sie alt genug waren, um irgendwo arbeiten zu können. Dies geschah, wenn die Findelkinder Glück hatten; wenn sie Pech hatten und nicht bei Beginen, Klöstern oder sonstigen wohlmeinenden Menschen abgelegt wurden, blühte den Kindern die Hölle auf Erden. Völlig rechtlos, wurden sie oft in die Sklaverei verkauft oder als leibeigene Knechte, Tieren gleich, auf Bauernhöfen gehalten.

Gerlinde nahm das Bündel vom Boden auf und schaute hinein. Ein kleines Jungengesicht, verheult und verrotzt, mit graugrünen Augen unter einem rötlich-braunen Schopf, sah ihr entgegen. Das Kind war kein Neugeborenes mehr, aber älter als drei Monate war es auch nicht.

»Na, dann werde ich dich mal mitnehmen, kleiner Mann«, sagte sie mehr zu sich selbst als zu dem Bündel. »Du bist sicher hungrig und durstig.«

Die Namensgebung war leicht, nach dem Tag des Fundes, an dem Papst Georg VII. seinen Namenstag feierte, wurde der Kleine ›Georg‹ genannt und auch gleich getauft.

Gerlinde hatte vor Kurzem von einer anderen Begine, die, da wohlhabend, in jüngeren Jahren viel gereist war und bei einem ihrer letzten Besuche in Reutlingen bei ihnen übernachtet hatte, gehört, dass Findelkinder in südlichen Ländern meist den Nachnamen ›Esposito‹ – ›Ausgesetzt‹ – erhielten, also schlug sie dies auch hier vor. Als Geburtstag für Georg Esposito wurde denn auch der 23. April 1458 ins Hausbuch der Beginen eingetragen.

Nachforschungen nach der Mutter wurden in diesen Findelkindfällen selten angestellt; wenn niemand zufällig etwas gesehen hatte, beließ man es in der Regel dabei, dass die Mutter ihr Kind nicht haben wollte. Die Beginen waren froh, wenn die Mutter es nicht tötete oder im Wald aussetzte.

Die Art des Zusammenlebens der Beginen, eine Wohn- und Arbeitsgemeinschaft, war ideal für die Aufzucht von Waisen- und Findelkindern. In Gerlindes Haus lebten derzeit acht Frauen, von denen die älteste mit Namen Hildegard die ›Mutter‹ oder ›Meisterin‹ war. Angeredet wurde sie aber mit ihrem gewöhnlichen Namen. Hildegard teilte ein, dass Gerlinde verantwortlich für Georg war und alle anderen nach Kräften mithelfen sollten. Es gab noch ein zweites Kind im Haus, ein Waisenkind mit Namen Peter, das aber bald weggehen musste, weil es mit zehn Jahren arbeitsfähig war und auf sich selber achtgeben konnte.

Die anderen Frauen kümmerten sich hauptsächlich um Alte und Kranke, machten Hausbesuche und besorgten die Gartenarbeit. Eine von ihnen klöppelte Spitzen für feine Gewänder, was ihnen etwas Geld einbrachte. Ansonsten waren sie auf Förderung durch adelige Frauen angewiesen, von denen es aber zum Glück mehr gab, als die meisten annahmen.

Seitdem die Bewegung der Beginen stark zugenommen und sich von Flandern aus bis nach Süddeutschland verbreitet hatte, wurde sie von der Kirche argwöhnisch beäugt. Ihre Weigerung, sich als Orden zu betrachten und somit von der Kirche kontrollieren zu lassen, war vielen Klerikern ein Dorn im Auge. Häufig waren es die gleichen Kleriker, deren Sittenlosigkeit und Habsucht von den Beginen angeprangert wurden. Und nachdem die Frauen begonnen hatten, Schriften der Kirche aus dem Lateinischen in die Sprache des Volkes zu übersetzen, war das Fass kurz vor dem Überlaufen. Es war nur noch eine Frage der Zeit – sollte es so weitergehen, würde sich die Heilige Inquisition der Beginen annehmen.

All dies war Gerlinde völlig gleichgültig, als sie sich in den ersten Wochen um den kleinen Georg kümmerte. Der hatte es wahrhaft gut getroffen, er wurde regelmäßig gefüttert – dank einer Amme, die Gerlinde gleich aufgetrieben hatte, wurde regelmäßig gewaschen und gewickelt. Von seiner Ziehmutter wurde er mit Zärtlichkeiten und Streicheleinheiten versorgt, die ein Findelkind ansonsten niemals hätte erwarten können. Gerlinde war nur mäßig hübsch, aber von ausgeglichenem, sonnigem Charakter, dazu dank eines, wenn auch geringen, Erbes nicht völlig unvermögend, was ihr die Aufnahme ins Beginenhaus erleichtert hatte. So hatte sie für ihr Findelkind immer wieder überraschende kleine Geschenke oder Naschereien bereit, auch ohne Anlass. Aber nicht nur Gerlinde, alle Frauen des Hauses hatten den kleinen Mann sehr bald ins Herz geschlossen.

Nach zwei Jahren machte er bereits Haus und Garten unsicher, die nächsten Jahre tobte er auf der Straße mit den anderen Kindern herum, er war arm wie die meisten Beginen, aber rundherum glücklich. Gerlinde lehrte ihn Sprechen, besonderen Wert legte sie auf seinen Namen, und alle lachten, wenn das Kind, laut ›Georggeorg Espositototo‹ rufend durch die Gegend tollte. Sie wurde auch nicht müde, ihm immer wieder zu bestätigen, welches Glück er gehabt habe und welches Schicksal ihm im Findelhaus oder anderswo geblüht hätte. Die Sommersprossen, die sich auf seinem Babygesicht beinah verschämt versteckt hatten und kaum sichtbar gewesen waren, waren mittlerweile voll erblüht. Nase und Backen waren voller Punkte, die besonders gut zu seinem Lachen passten. Wenn jemand Freude in die Hollensammlung brachte, dann war es Georg. Bei seinem Haarschopf hatte ein dunkles Rot den Braunton der ersten Monate vollständig verdrängt, ebenso wie Grün, nachdem er kein Baby mehr war, eindeutig seine Augenfarbe war. Diese Kennzeichen waren so augenfällig, dass alle Frauen im Beginenhaus sicher waren, dass er der Sohn, wahrscheinlich sogar der Bastard eines der häufig durchreisenden Händler, Spielmänner oder Boten war, die Reutlingen als Durchgangsstation benutzten.

»Niemand hier in Reutlingen hat rote Haare, Sommersprossen und grüne Augen«, war denn auch die einhellige Meinung der anderen Kinder, mit denen Georg manchmal spielte, aber ebenso oft wegen ebendieses Spottes aneinandergeriet. Ihm selbst, ständig verdreckt von seinen diversen Abenteuern, mit Schürfwunden an Armen und Beinen, wenn er vom Baum gefallen war oder mit einem anderen Jungen gerauft hatte, war sein Status als Findelkind völlig gleichgültig. Wenn er nicht mit Absicht darauf gestoßen wurde …

Kurz nach seinem sechsten Geburtstag, oder vielmehr dem Tag, an dem er gefunden worden war, ereignete sich die zweite Katastrophe seines Lebens. Georg spielte wie üblich auf der Straße, als eine Kutsche vorfuhr, der ein groß gewachsener Mann in einer schwarzen Soutane entstieg. Georg kannte natürlich nicht den Unterschied der verschiedenen Gewänder des Klerus, er ahnte jedoch, dass dies ein Mann hohen Ranges war. Mit grimmigem Gesicht wartete dieser, bis der ihm zu Fuß folgende Trupp Stadtsoldaten bei ihm angelangt war. Dann klopften sie alle laut und vernehmlich an die Tür des Beginenhauses und verlangten Zutritt. Die Tür wurde geöffnet und gleich nach Eintritt der Besucher wieder geschlossen. Georg kämpfte mit seiner Neugierde, hinüberzugehen, schließlich aber siegte die Angst. Er hockte sich in eine Häuserecke, von der aus er gute Sicht zu seinem Haus hatte. Geschrei kam aus dem Haus, gefolgt von Gepolter und Lärm. Derbe männliche Flüche, als es sich so anhörte, als fiele jemand eine Treppe herunter. Dann herrschte Ruhe.

Etwa zehn Minuten dauerte der Spuk.

Schließlich öffnete sich wieder die Vordertür, die Soldaten und der Priester traten heraus und führten alle Frauen des Hauses mit sich. Einige weinten, Gerlinde war darunter, das Gesicht unter einer Haube verborgen. Hildegard hielt ihren Kopf hoch, den verbissenen, tränenlosen Blick voller Hass auf den Priester gerichtet. Dieser bestieg seine Kutsche und gab das Kommando zur Abfahrt. Der Hauptmann der Soldaten zündete eine Kerze an, befestigte etwas an der Tür, verschloss diese, blies die Kerze wieder aus und marschierte mit seinen Soldaten davon, in ihrer Mitte führten sie die Frauen mit. Als alle weg waren, ging Georg vorsichtig zur Tür und schaute sich das Siegel an, welches der Hauptmann mit Wachs dort hingeklebt hatte. Hätte er lesen können, hätte er Folgendes gelesen:

›Auf Anordnung des Magistrats der Stadt Reutlingen und auf Wunsch der Heiligen Mutter Kirche und ihrer Heiligen Inquisition wurde beschlossen, die Bewohner dieses Hauses einer Befragung zu unterziehen, um antichristliche Umtriebe zu untersuchen. Bis zur Rückkehr der Bewohner bleibt dieses Haus verschlossen und darf ohne Anordnung nicht betreten werden.‹

Georg wartete den Rest des Tages und die ganze folgende Nacht vor dem Haus auf die Rückkehr der Beginen. Am nächsten Morgen hatte er sich unter Tränen damit abgefunden, dass er, obwohl erst sechs Jahre alt, bereits zum zweiten Male zum Waisenkind geworden war.

Ziellos lief er durch die Gassen von Reutlingen. Er hatte keine Ahnung, wohin er gehen sollte, und fühlte sich von Gott und der Welt verlassen. So klein er war, er wusste instinktiv, dass er keinen Büttel oder eine andere ›offizielle‹ Person ansprechen sollte. Zu heftig war die Abneigung, die er bei Gerlinde immer verspürt hatte, wenn vom Magistrat und Behörden die Rede war. Er ahnte, was ihn im Waisenhaus erwartete, wenn ihn jemand auf der Straße auflas.

Also versteckte er sich immer, sobald er einen Menschen sah, dem er das Attribut ›ehrenwert‹ verpassen würde. Er schlich zum Stadttor und wartete auf eine günstige Gelegenheit. Als er einen Karren erblickte, neben dem ein alter Mann herging, der so damit beschäftigt war, seinen Esel zu beschimpfen, dass er alles andere um sich herum nicht mehr wahrnahm, tat er, als ob er dazugehöre. Die Torwächter übersahen den kleinen Jungen, und so fand er sich bald außerhalb von Reutlingen auf der belebten, aber verdreckten und nach einem Platzregen sehr schlammigen Landstraße wieder.

Er wanderte gemächlich und ohne Ziel Richtung Westen, er wusste nicht wohin, also überließ er alles dem Zufall. Er schlief in Heuschobern oder im freien Feld. Nach ein paar Tagen stibitzte er eine Decke von einem Karren herunter, der ihn passierte. Ab da konnte er auch im Wald übernachten, wo er vor Entdeckung am sichersten war. Manchmal erbettelte er sich etwas zu beißen, meist stahl er es sich zusammen. Er brauchte nicht viel. In der zweiten Woche seiner Wanderung nach nirgendwo lief ihm ein kleiner herrenloser Hund über den Weg. Die beiden freundeten sich schnell an, und fortan liefen sie zu zweit. Georg fühlte sich sicherer mit seinem neuen vierbeinigen Begleiter, dem er trotz seiner kleinen Erscheinung den Namen ›Fafnir‹ gab. Gerlinde hatte ihm zur guten Nacht gerne alte Geschichten erzählt, in denen auch ein Lindwurm dieses Namens vorgekommen war. Und mit einem Lindwurm als Begleiter, da würde ihm niemand etwas zuleide tun wollen!

Sie mieden Menschen, wo sie konnten, was auf den Wegen, auf denen sie jetzt unterwegs waren, recht einfach war. Es herrschte wenig Verkehr, und man sah bereits von Weitem, wenn sich jemand aus der Gegenrichtung näherte.

Eines Tages, Georg wusste nicht mehr, seit wie vielen Wochen er bereits unterwegs war, stolperte er, während er hinter Fafnir herlief. Er fiel hin und schlug sich das Knie auf. Während er weinend und blutend am Wegesrand saß und Fafnir ihn tröstend abschleckte, kam ein Karren daher, der von zwei Ochsen gezogen wurde. Überbordend beladen, an allen Seiten hingen klappernde und scheppernde Gerätschaften herunter, machte er einen solchen Lärm, dass Georg für einen Moment seine Schmerzen vergaß und den Mann anschaute, der auf dem Kutschbock saß.

»Was ist geschehen?«, fragte dieser, hielt an und stieg herunter. Ein klein gewachsener Mann stand vor ihm, nicht mehr der Jüngste. In seiner Leibesmitte wölbte sich ein kugelrunder Bauch, der ihm den Abstieg vom Karren nicht gerade erleichtert hatte. Vorne bereits glatzköpfig, hatte er sich die letzten verbliebenen Haare hinten lang wachsen lassen und zu einem dünnen Pferdeschwanz zusammengebunden. Dunkle, vertrauenerweckende Augen sahen hinunter auf den kleinen weinenden Rotschopf. Der Mann, der roch, als sei er schon länger unterwegs, ohne sich zu waschen, war von Berufs wegen den Kummer anderer Menschen gewohnt. Mit einem Blick hatte er das Missgeschick des Jungen erfasst und lachte.

»Da hast du aber Glück, dass du auf einen Bader wie mich getroffen bist.«

Er nahm eine Handvoll Kräuter, wickelte sie in ein Tuch und knotete dieses um Georgs Knie. »Das wird die Blutung stoppen und den Schmerz lindern. Wohin seid ihr beiden eigentlich unterwegs, so ganz allein?«

Georg wurde misstrauisch, diese Frage mochte er nicht. Dennoch, und weil das Gesicht des Baders in ihm keinen Argwohn erregte, antwortete er.

»Ich weiß nicht, wir suchen einfach nur einen Platz, wo wir leben können, ohne dass ich ins Findelhaus komme.«

Der Bader wackelte mit dem Kopf und hielt seine Arme verschränkt, sodass sie auf seinem Kugelbauch auflagen.

»Das ist gar nicht gut, die Straßen sind viel zu gefährlich für einen kleinen Jungen wie dich. Und wenn du nicht weißt, wo du hin willst, wirst du nicht lange überleben.«

Der Kopf wackelte weiter, es schien eine Angewohnheit des Baders zu sein.

»Warum kommst du nicht mit mir?«, sagte der Bader. »Mein Name ist Michel, und ich ziehe durch die Lande und biete allen meine Dienste an, die sie brauchen können. Wenn du Lust hast, kannst du mein Gehilfe werden. Für deinen Hund haben wir auch Platz.«

»Ich heiße Georg Esposito, und das ist Fafnir.« Michel lachte, als er den furchterregenden Namen hörte, und streichelte dem Hund über den Kopf. »Wir kommen aus Reutlingen«, fuhr Georg fort und deutete mit der rechten Hand auf sich selbst und Fafnir.

»Mir ist aber gleich, wo wir hingehen, solange es nicht dorthin zurückgeht.«

»Keine Sorge, das liegt im Moment nicht auf meinem Weg. Wir gehen genau in die andere Richtung.«

Gesagt, getan. Georg kletterte auf den Karren des Baders, Fafnir wurde nach mehreren vergeblichen Versuchen hinaufzuspringen von diesem lachend hinaufgehoben. Der Schmerz war vergessen, jetzt konnte er endlich einmal im Sitzen reisen!

Michel war ein guter Reiseleiter, er hatte es nicht eilig und erzählte immerzu Geschichten. Von Dingen, die er auf seinen Reisen erlebt hatte, Geschichten, die ihm andere erzählt hatten, oder althergebrachte Sagen und Märchen. Georg war zu jung, um zwischen Wahrheit und Dichtung zu unterscheiden, so lauschte er allem mit der gleichen Andacht und mit meist weit offen stehendem Mund.

Ab und zu hielten sie in einem Dorf, Michel packte seine Gerätschaften aus, plauderte mit den Bewohnern, verkaufte Medizin, kurierte Wehwehchen und führte gelegentlich sogar eine kleine Operation durch. Er wurde oft mit klingender Münze bezahlt, manchmal jedoch gab es auch ein Huhn, einen Schinken oder ein schönes Stück Käse als Lohn für seine Arbeit.

Er mied die größeren Städte.

»Da sind wir Bader nicht immer so angesehen. In den Städten gibt es Medizi, die wollen uns am liebsten immer gleich zum Stadttor hinausjagen. Und solange es hier genug zu tun gibt, brauche ich nicht in die Städte zu gehen.«

Wochenlang fuhren sie in Süddeutschland herum, ohne dass Georg eine Ahnung hatte, wo sie sich befanden. Aus Wochen wurden Monate, aus Monaten Jahre. Gelegentlich schnappten sie Neuigkeiten auf der Straße auf, wie zum Beispiel, dass 1467 der Herrscher von Burgund, Phil­ipp ›der Gute‹ gestorben war. Sein bereits mitregierender Sohn Karl ›der Kühne‹ hatte sogleich seine Nachfolge angetreten.

Georg lernte, was Michel ihm beibringen konnte, dazu gehörte neben dem Anrühren von mehr oder weniger vertrauenerweckenden Rezepturen auch ein wenig Lesen und Schreiben sowie Zählen und Rechnen.

»Wer nicht zählen und Münzen zusammenrechnen kann, wird immer behumst«, sagte Michel regelmäßig. ›Behumst‹ war eines seiner Lieblingswörter. Georg hatte es vorher noch niemals gehört. Hier, in Michels Welt, wurde grundsätzlich jeder von jedem behumst.

»Du musst lernen, aufzupassen. Die Welt ist schlecht und will meist nur dein Geld, so du welches hast. Und wenn du welches hast, achte genau darauf, wie viel du ausgibst und an wen.«

Für Georg waren diese Lektionen wertvoller als die, die mit Michels Handwerk zu tun hatten. Sie verstanden sich gut, Michel schimpfte zwar bisweilen, war aber nicht nachtragend, wenn Georg einen Fehler gemacht hatte. Dieser beherrschte das Bader-Handwerk bald perfekt, zumindest vom Standpunkt des Gehilfen aus.

Es lief aber nicht immer gut. Manchmal war ein Patient nach einer Operation verstorben, oder eine Medizin, die Michel beim letzten Besuch verkauft hatte, hatte nicht die erhoffte und versprochene Wirkung gezeigt. Dann gestaltete sich ein erneuter Besuch im Dorf schwierig. Beschimpfungen und Drohungen wurden gerufen, und bevor die Dorfbewohner handgreiflich werden konnten, ergriffen sie die Flucht. In solchen Fällen murmelte Michel noch stundenlang Verwünschungen vor sich hin und verfluchte sein schlechtes Gedächtnis.

»Ich sollte mir besser merken können, wo ich welche Tinktur verkauft habe und wem ich wo das Bein aufgeschnitten habe. Das würde mich und uns davor bewahren, in einen solchen Schlamassel erst hineinzugeraten.«

Tätliche Angriffe blieben aber aus, und so erfreuten sich alle drei bester Gesundheit, als sie im Frühling des Jahres 1468, vier Jahre, nachdem Michel Georg und Fafnir von der Straße aufgelesen hatte, nach einem Aufstieg durch einen dichten Nadelwald unversehens auf einer Anhöhe standen und Zeugen eines wahrhaft fantastischen Sonnenunterganges wurden. Die letzten zwei Tage hatte es heftig geregnet, und jetzt hatte die untergehende Sonne im Westen einen blutroten Saum über den wolkenlosen Horizont gelegt. Davor lag ein weites Tal mit steilen Hängen und einem großen Fluss mittendrin. Es war ein großartiger Anblick, den Georg nie wieder vergessen sollte.

»Das ist der Rhein, der größte Fluss in unserem ganzen Land!« erzählte Michel stolz, als wäre er der Eigentümer. »Ich war schon seit ein paar Jahren nicht mehr hier.«

Georg war überwältig von der Breite des Flusses, dem Tal, durch das er floss, überhaupt von der ganzen Landschaft. Schäumend und voll mit Schmelzwasser, das der Frühling aus den Bergen mitbrachte, wälzte sich der Rhein durch sein Bett. Niemals hätte sich Georg so etwas Gewaltiges vorstellen können. Das größte Abenteuer seines Lebens war, mit der Fähre überzusetzen. Er hatte furchtbare Angst, war jedoch andererseits fasziniert davon, über diesen riesigen Fluss zu fahren. Fafnir bellte und war begeistert, hauptsächlich deswegen, weil die Gerätschaften an Michels Karren während der Überfahrt klapperten und lärmten.

Drüben angekommen, hielten sie sich nach Süden, sie fuhren durch viele Dörfer, in denen die Menschen Weinreben anbauten. Überall gab es etwas zu tun.

Michel kehrte häufig in Gasthöfen ein und trank auch gerne mal ein Glas Wein über den Durst. Je wärmer es wurde, desto durstiger wurde er.

Er achtete nach wie vor darauf, dass er seine Arbeit ordentlich erledigte, aber manchmal war es schon lustig anzuschauen, wie er mit hochrotem, wackelndem Kopf schwankend auf seinem Karren saß und Trinklieder sang.

Auf ihrem Weg weiter rheinaufwärts sahen sie am Straßenrand zusammengekrümmt ein Bündel Mensch liegen. »Schauen wir einmal nach, was mit dem los ist«, sagte Michel. »Nicht, dass der überfallen und totgeschlagen wurde.« Sie stiegen vom Bock, beugten sich herunter und drehten den Körper um, der daraufhin ein schmerzvolles Gejammer hören ließ. »Na, zum Glück ist er nicht tot. Was ist mit dir geschehen?«, fragte Michel den Jungen, der immer noch kein Wort gesagt hatte. Er schaute ihn genauer an und sah überall Spuren von Schlägen, die Hände und Arme bluteten, der Kopf war voller Beulen. Michel riss ihm die Reste des sowieso nur noch in Fetzen herunterhängenden Hemdes vom Oberkörper und stieß einen überraschten Schrei aus. Der bestenfalls 14-jährige Junge sah aus, als hätte ihn jemand zu Tode prügeln wollen. Am ganzen Oberkörper gab es keine Stelle, die nicht malträtiert worden wäre.

»Wer ist das gewesen?«, fragte Michel, in dem Zorn aufwallte. Auch wenn es ihm Kundschaft brachte, diese Art von Gewalttätigkeit verabscheute er zutiefst.

Seltsam blassblaue Augen, die beinah durchsichtig wirkten, schauten ihn fragend an. Die kurzen, unregelmäßig stoppeligen Haare des Jungen sahen aus, als wären sie zuletzt mit einem sehr stumpfen Messer gestutzt worden.

»Und warum?«, vollendete Michel seine Frage.

Endlich öffnete der Junge den Mund: »Daniel Fischer!«, waren die beiden einzigen Worte, die er herausbrachte, bevor er erneut zusammenbrach.

Michel und Georg räumten schnell einen Teil des Wageninhalts beiseite, hoben ihn vorsichtig hinten drauf und betteten ihn behutsam. Michel behandelte die schlimmsten und offensichtlichsten Wunden und flößte ihm einen Schluck Wein ein.

»Das wird alles wieder heilen«, beruhigte er den Jungen.

»Nur deine Nase, die hat es schlimm erwischt.« Die war in der Tat regelrecht schräggehauen worden. Ohne Zweifel gebrochen, würde sie nie wieder gerade stehen.

Michel versuchte, die Nase ein wenig zu richten, erntete aber nur Schmerzgeschrei und hörte bald wieder auf.

»Das wird er überleben. Es gibt Schlimmeres als eine krumme Nase.«

Während der folgenden Stunden der Weiterfahrt schlief Daniel Fischer tief und fest. Zur nächsten Rast öffnete er die Augen und sah bereits erheblich besser drein als vorher.

»So, Daniel, nun erzähl mal genau, was dir passiert ist.« Michel platzte fast vor Neugierde.

»Mein Name ist nicht Daniel, wie kommt ihr darauf?«, sagte der Junge. »Ich heiße Bertram und bin Brauergehilfe. Besser gesagt, ich war es, bis heute morgen. Und zwar bei Daniel Fischer.«

»Ist das der Kerl, der dich so zugerichtet hat?«

Bertram nickte.

»Na, mit dem sollten wir mal ein ernstes Wort reden. Wo finde ich den Mistkerl?«

»In Straßburg, aber das ist nicht der Ort, wo ich wieder hin zurückgehen möchte.«

»So, so, Straßburg, das ist nicht mehr weit.« Michel wiegte wieder einmal seinen Kopf hin und her. »Was hast du denn angestellt, dass du so vertrimmt wurdest?« Er hatte mittlerweile festgestellt, dass Bertrams Wunden zwar schlimm aussahen und ohne Zweifel sehr schmerzhaft waren, jedoch zum Glück nicht lebensgefährlich. Er würde sich schon wieder aufrappeln. Da schadete es nichts, einmal zu erfahren, ob er die Prügel nicht unter Umständen sogar verdient gehabt hatte.

Bertram sah aus, als würden ihm jeden Moment die Tränen kommen. »Ich bin eingeschlafen bei der Arbeit. Wir hatten am Vortag von früh bis spät das Feuer geschürt, Holz herangetragen und aufgepasst, dass das Feuer nicht kleiner wird. Nach einer sehr kurzen Nacht musste ich heute Morgen auf die Biersteine achtgeben und sie im rechten Moment heranschleppen. Beim Warten darauf bin ich eingenickt und habe die Biersteine zu spät ins Brauhaus gebracht. Und was dann passiert ist, davon habt Ihr Euch ja selbst überzeugen können.«

Georg verstand überhaupt nicht, wovon er redete. Brauergehilfe, Biersteine, Brauhaus, was sollte das? Und überhaupt, wer bei der Arbeit einschlief, verdiente doch eine Tracht Prügel!

Michel und Bertram diskutierten noch eine Weile weiter, und da Michel nach Straßburg wollte, bedankte und verabschiedete Bertram sich schließlich und ging langsam, bedächtig und mit schmerzverzerrtem Gesicht rheinabwärts die Straße entlang, nur weg von Straßburg.

Das Erbe des Bierzauberers

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