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Die Obstbäume, ein Zauberpulver
und ein Geist

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Johannes war Lehrer und Künstler, vor allem aber auch ein Freigeist und Pianist. Er gehörte gleich zur Familie. Da die Geschwister meiner Mutter alle frei nach Gehör Klavier spielten und jede Operette auswendig kannten, musizierten und sangen bald alle gemeinsam und erlebten wunderbare Abende.

Meine Mutter schrieb zu dieser Zeit sehr viele Gedichte. Mein Vater Johannes war so begeistert von ihrer lyrischen Ader, dass er einige davon dem Schriftsteller Gerhard Hauptmann übersandte. Dieser antwortete sogar und lobte ihr außergewöhnliches Talent. Johannesʼ Vater hatte nur unter einer Bedingung in sein Musikstudium eingewilligt: dass er begleitend dazu einen bodenständigen Beruf erlernen würde. Nachdem Johannes sein Lehrerexamen gemacht hatte, bekam er das Angebot, in einer Landschule in Sachsen zu arbeiten. Diese Schule zeigte sich bald in den Träumen meiner Eltern – und zwar immer mit einem Garten, auf dem 45 Obstbäume standen.

Als es dann so weit war und Johannes und Johanna den Ort das erste Mal besichtigten, konnten sie allerdings keinen einzigen Baum entdecken. Die Enttäuschung der beiden war groß. Glaubten sie doch an ihre Träume und waren fest davon überzeugt, dass es mehr auf dieser Welt gab, als der einfache Geist erfassen kann.

Als der Bürgermeister sie zu der obligatorischen Besichtigungstour begrüßte, fragte mein Vater vorsichtshalber: „Ein Garten mit Obstbäumen gehört wohl nicht zum Schulgrund?“

Der Bürgermeister lachte und öffnete eine Tür, die in einer hohen Mauer verborgen war, und meine Eltern blickten auf einen riesigen Obstgarten. Sie konnten es kaum fassen und dann zählten sie nach. Es waren exakt 45 Obstbäume.

932 – ein Jahr nachdem meine Eltern eingezogen waren, wurde meine Schwester Gabriele geboren.

Die Schule war in einem moorigen feuchten Gebiet erbaut worden. Johannes war Wünschelrutengänger und konnte Wasseradern erspüren.


Johanna mit Geschwistern Roth und Karl im Garten mit den 45 Obstbäumen

Oft waren ihm die Bauern sehr dankbar dafür. Mit seiner Hilfe konnten sie auf ihren Weiden Brunnen für ihr Vieh bauen. Jahre später waren die Brunnen immer noch in Betrieb.

Auf diese Weise lernte er auch einen Schäfer kennen.

Dieser hatte eine Tochter, die sich anbot, Erledigungen für meine Eltern zu übernehmen. Irgendwann kam diese nicht mehr. Stutzig geworden erkundigte sich meine Mutter nach ihr. Der Schäfer erklärte daraufhin traurig, dass seine Tochter an Tuberkulose erkrankt und sehr schwach sei.

Meiner Mutter fiel gleich ein wundersames Kräuterpulver ein. Es stammte von einem ungarischen Magier, der im 18. Jahrhundert in einem sehr kalten Winter von Ungarn nach Deutschland reiste. Während eines Schneesturms brach die Achse seiner Kutsche und er blieb im Schnee stecken. Halb erfroren saß er am Straßenrand, als ihn ein vorbeifahrender Landwirt entdeckte, ihn mit nach Hause nahm und ihn gesund pflegte.

Zum Dank schenkte der Ungar ihm ein Kräuterpulver, das wahre Wunder bewirken sollte. Eingenommen wurde es mit den abnehmenden Mondphasen, ohne Wasser, es war sehr bitter und das trockene Pulver war sehr schwer zu schlucken. Vor und auch nach der Einnahme musste man mehrere Stunden fasten.

Meine Eltern hatten durch Freunde von diesem Pulver gehört und es selbst getestet. Es machte sich die Heilkraft des Wiesengamanders aus der Theiß in Ungarn zunutze. Meine Mutter hatte ein Geschwür im Kiefer, an dem sie bereits mehrfach operiert worden war. Das Mittel ersparte ihr eine erneute Operation, das Geschwür heilte ab und sie hatte zeitlebens nie wieder Probleme damit.

Johanna war also von dessen Wirkung überzeugt und gab das Pulver an den Schäfer weiter. Seine Tochter nahm es genau den Anleitungen folgend ein und in kürzester Zeit verschwand der Husten und sie wurde wieder vollkommen gesund.

Leider verschwand auch das wunderbare Pulver nach einiger Zeit wie so manch anderes Heilmittel aus dieser Zeit alsbald aus dem Handel. Irgendwann musste der Gastwirt eine Analyse machen lassen, die zu kostspielig für ihn war.

Langsam wurden meine Eltern heimisch und wieder einmal erwies sich das Schulgelände als ein Ort mit übernatürlichen Präsenzen. Es war fast schon so, als ob meine Mutter all die ruhesuchenden Geister dieser Welt magisch anziehen würde.

Es spukte wieder.

Einer der Lehrer der Schule war depressiv gewesen und hatte sich im Klassenzimmer erschossen.

Jeden Abend, Punkt 19:00 Uhr, knarrte die Küchentür und öffnete sich – wie von Zauberhand – von ganz alleine. Johanna hatte in unmittelbarer Umgebung einen geflochtenen Korbhocker mit rundem Kissen positioniert. Das Kissen senkte sich und eine unsichtbare Gestalt nahm Platz.

Jeder wollte das Phänomen sehen.

Auf diese Weise hatten meine Eltern viel Besuch, denn das Schauspiel wiederholte sich mit hoher Zuverlässigkeit jeden Abend.

Die Mutter von Johannes, eine gebürtige Ostpreußin, kam oft zu Besuch und sagte dann immer: „Herrjott, jibt der Kerl denn jar keine Ruhe.“

Natürlich sprachen meine Eltern auch mit dem Geist und baten ihn, ins Licht zu gehen.

Einmal, als Johanna abends noch Stifte aus der Schulstube holen wollte, stand er plötzlich vor ihr. Im ersten Moment war sie sehr erschrocken. Ein anderes Mal passierte dies mit Gabriele, die laut aufschrie. Sie hustete dann sehr eigenartig, als wäre sie gewürgt worden. Ab da wurde es meinen Eltern zu viel. Sie baten um Versetzung – und die kam glücklicherweise auch sehr schnell.

Der Zweite Weltkrieg begann und auf dem Lande klopften pro Tag bis zu 23 Bettler an die Tür. Man konnte nicht allen etwas geben, dennoch versuchten Johanna und Johannes das wenige, das sie hatten, zu teilen. Obwohl die Spannungen im Land zunahmen, verbrachten sie viele lustige Stunden in der Schule. Irgendwann – fast schon über Nacht – zog der Fortschritt ein. Das erste Versandhaus eröffnete in Dresden. Plötzlich konnte man alles bestellen. Kleider, extravagante Hüte, Spitzenunterwäsche.

Johannesʼ Kollege Kurt war bereits sehr von den Nationalsozialisten angetan. Überall gärte es.

Der Umschwung war spürbar, rasend nahm er die Gemüter in Beschlag. Jeder steckte jeden an. Es war wie eine große Welle, die alles und jeden erfasste.


Johannes vor der Schule

Mitgerissen von einem großen Versprechen nach diesem letzten Krieg, der so viel von allen gefordert hatte. Auch meine Mutter war anfangs von den neuen politischen Parolen begeistert. Liebte sie doch das Nordische: die Edda, die Runen, die ganze Mythologie, die der Nationalsozialismus geschickt eingebettet hatte.

Ein Lügengespinst nach dem anderen wurde gewoben.

Ein neues Zeitalter begann – und meine Eltern zogen um.

Endlich wohnten sie nicht mehr weit von der Stadt entfernt. Man konnte die Konzerte in Dresden besuchen, ohne lange Wegstrecken zurücklegen zu müssen.

Kulturell betrachtet war das eine Offenbarung. Meine Eltern waren sehr kontaktfreudig, knüpften schnell Freundschaften und meine Mutter war wieder schwanger. Doch plötzlich wendete sich das Blatt: Johannes wurde an die Front einberufen.

Ein Leben in zwei Welten

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