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Der Untergang

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Mein Onkel Gerhard, Mutters zwei Jahre jüngerer Bruder, hatte Jura studiert. Er sah zudem sehr gut aus, war blond und breitschultrig. Oft brachte er seine Tanzstunden-Partnerinnen nach Hause, immer waren es Töchter aus gutem Hause, die schnell Freundschaft mit meiner Mutter schlossen. So auch Josepha. Ihr Vater war ein Tuchfabrikant. Sie liebte schöne Kleider, teuren Schmuck und kostbare Pelze. Als einzige Tochter wohnte sie mit ihren Eltern in einer luxuriösen Villa. Es sollte nicht lange dauern und Josepha fand ihren Traummann.

Reuter war 20 Jahre älter als sie und Doktor der Philosophie, der in Kalifornien studiert hatte. Als Spezialist für den Überseefunkverkehr hatte er lange für die Amerikaner gearbeitet.

Am 14. April 1912 war er auf dem Dampfer „Amerika“ stationiert und sandte von dort aus eine Warnung, die das Geschick des größten Luxusliners der Welt, „Titanic“, hätte ändern können. Doch wie man später erfahren sollte, verdienten die Funker des Dampfers der Olympic-Klasse als Angestellte der Marconi-Gesellschaft ihr Geld mit den Privatnachrichten der Passagiere und mussten auch nicht direkt an die Brücke berichten. Sie ignorierten die Eisbergwarnungen – so wie auch Kapitän Edward John Smith.


Josephas Mann informierte sowohl die Küstenfunkstelle „Cape Race“ als auch die Titanic selbst.

Zwei Stunden und vierzig Minuten später sank die Titanic. In rasender Geschwindigkeit stürzte sie 4 000 Meter tief auf den Boden des Nordatlantiks. Von den 2200 Menschen an Bord überlebten lediglich 700 die Jungfernfahrt des berühmten Ozeangiganten.


Wie viele andere arbeitete Reuter später für die Nazis. Doch auf einer Mission in Griechenland machte er einen fatalen Fehler. Seine Frau liebte Schuhe, es war Krieg, es gab nichts. Er stand in einem bereits brennenden Haus und bemerkte einen Sessel, der mit rotem Leder bezogen war, das perfekt für ein paar Schuhe geeignet gewesen wäre.


In letzter Minute, ehe dieser vom Feuer verschlungen wurde, nahm er sein Taschenmesser, schnitt das rote Leder auf und riss es herunter. Ein Untergebener und ihm nicht wohlgesinnter Gefreiter beobachtete das und zeigte ihn an.

Er wurde sofort suspendiert, aller Ämter enthoben und auf die Krim gebracht. Dort saß er monatelang in Untersuchungshaft. Josepha hatte durch dieses Ereignis eine Totgeburt.

Sie machte zwei Gnadengesuche. Als beide abgelehnt wurden, verfiel sie in eine Depression.

Meine Mutter konnte das Drama bald nicht mehr mit ansehen. Sie schlug Josepha vor, dass auch sie einen Versuch starten würde. Diese entgegnete zwar, dass sie nichts von dieser Idee halte, denn wenn sie als Ehefrau schon nichts erreiche, warum solle dann eine Fremde mehr Gehör finden.

Meine Mutter schrieb an Goebbels privat. Sie legte das Foto des toten aufgebahrten Kindes bei, verfasste einen herzerweichenden Brief über einen Mann, der seiner schwangeren Frau mit einem bisschen rotem Leder für ein Paar Schuhe eine Freude bereiten wollte – in Zeiten, die so schwer für alle waren.

Kurz darauf passierte das Unvorstellbare.

Meine Mutter bekam Post – und zwar von Goebbels höchstpersönlich.

Ihr Gesuch war erhört worden. Josephas Mann bekleidete mit sofortiger Wirkung wieder alle ihm innehabenden Ämter. Vorsorglich verbrannten meine Eltern alle diesbezüglichen Unterlagen, als die Russen kamen. Reuter war meiner Mutter allerdings ewig dankbar. Leider kam er kurz darauf in russische Kriegsgefangenschaft.

Josepha hing so an ihrem Besitz. Ihr Mann hätte sich, anstatt auf sie zu hören, in den Westen absetzen sollen. Denn inzwischen war das Land vom Krieg gespalten und Sachsen zählte zur DDR.

Dort war das einstige Genie ein kleines Rädchen im Getriebe. Während im Osten niemand seine Fähigkeiten zu schätzen wusste, warteten im Westen die Angebote der Amerikaner auf ihn.

Doch nun war es zu spät.

Jahre später musste Josepha noch einmal einen hohen Preis für ihren Starrsinn bezahlen. Sie musste viele ihrer Villen an den Staat verschenken. Die Mieten in der DDR waren so niedrig, dass die Hausbesitzer sich nicht einmal die notwendigsten Renovierungsarbeiten leisten konnten.

Dann kam der 13. Februar 1945.

Mein Vater riss uns Kinder aus dem Schlaf. „Heute wird es ernst“, rief er aufgeregt.

Meine Schwester und ich wurden in alle verfügbaren Kleidungsstücke gepackt.

Die Sirenen heulten, als wir auf unserem kleinen Balkon standen. Ein Geschwader überflog uns und setzte Leuchtkugeln ab. Der Himmel über uns leuchtete – es war ein einziges Funkenmeer. Für die Bomber, die dann etwas später folgten, dienten die Feuerkugeln als Positionsangabe für die Bomben, die abgeworfen werden sollten.

Über uns lag eine unheimliche Stille, kein Windhauch war zu spüren.

Für einen Moment konnte man nicht einmal den dröhnenden Hall der Motoren der Kampfflugzeuge hören.

Minuten später wurde ein unglaublicher Wind entfesselt. Dieser riss all die „Christbäume“ aus loderndem Phosphor mit sich und trug sie weit fort. Wir schafften es gerade noch rechtzeitig in den Keller. Der alte Hauswirt war so schwerhörig, dass er die Sirenen nicht gehört hatte. Er war der Einzige, der einen Schlüssel zum Luftschutzkeller hatte. Man schlug sein Fenster ein und rüttelte ihn wach. Wir saßen alle versammelt im Keller, als er laut rief:

„Schaut euch das Inferno an. Dresden brennt!“

Eine Stadt mit Tausenden von Flüchtlingen, die am Bahnhof und überall in den Straßen rastend auf die Weiterfahrt aus dem Osten warteten, ging in Flammen auf.

Am Tag danach kamen die Bomber wieder und gaben der Stadt den Rest. Alle Feuerwehren im Umkreis waren dort, um die Feuer zu löschen. Keiner kam wieder.

Es sind Bilder, die ich niemals vergessen werde. Meine Schwester und die Kinder aus unserem Haus standen an der Straße, die in das ca. 25 km entfernte Dresden führte.

Es kamen Gestalten auf uns zu, die an Horrorfilme erinnern: Zombies – schwarz vom Rauch mit zerfetzten Kleidern und versengten Haaren.

Zu Hunderten zogen sie an uns vorbei.

Die Freundin meiner Schwester Gabriele wohnte zu dieser Zeit direkt in Dresden. Sie erzählte, sie seien im Luftschutzkeller gewesen, als eine Brandbombe das Haus traf.

Ihr Vater hatte ihre Mäntel in ein Fass Wasser getaucht, das an der Treppe stand. Dann waren sie durch das Kellerfenster hinaus auf die Straße in das brennende Inferno gerannt.

Die nassen Mäntel bewahrten sie davor, selbst in Flammen aufzugehen. Die Freundin traf ein Spritzer Phosphor am Bein, der sich blitzschnell bis auf den Knochen durchbrannte. Als sie ausgebombt in unsere Nachbarschaft zog, musste man sie in einem Handwagen fahren.

Auch meine Großmutter väterlicherseits wohnte in Dresden. Es dauerte Tage, ehe die Stadt wieder passierbar war. Mein Vater machte sich auf, um nach seiner Mutter zu suchen. Der Stadtteil, in dem sie lebte, war fast komplett zerstört worden, aber das Haus, in dem Auguste wohnte, stand noch.

Als er wiederkam, roch er entsetzlich nach Rauch und verbrannten Leichen.

Ein Leben in zwei Welten

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