Читать книгу Ein Leben in zwei Welten - Gottlinde Tiedtke - Страница 16
Das lebensrettende Traumbüro
ОглавлениеEin ganz besonderes Steckenpferd meiner Mutter war die Traumdeutung und Tiefenpsychologie nach C. G. Jung.
Sie hatte alles über analytische Psychologie gelesen. Eine gute Bekannte hatte selbst bei C. G. Jung in Zürich studiert und dort auch promoviert. Meine Mutter legte Karten, aber es waren nicht die Karten, die zu ihr sprachen, sondern ihre Intuition.
Die beiden Frauen verstanden sich nicht nur ausgezeichnet, sie waren komplett auf der gleichen Wellenlänge, ergänzten sich in ihren Fähigkeiten und bildeten ein hervorragendes Team.
Frau Dr. Haack war eigentlich ganz zufällig auf meine Mutter gestoßen. Sie konnte sich ihre eigenen Träume nicht richtig deuten. Meine Mutter schon. Sie sah, dass die Ehe der anderen in Gefahr war, und half ihr, diese zu retten.
Bald machte diese Sensation die Runde.
Im „grünen Zimmer“ unserer Wohnung, der Name ging auf den grünen Kachelofen darin zurück, begannen meine Mutter und Frau Dr. Haack, zusammen zu praktizieren.
Die Menschen kamen, erzählten ihre Träume und sie deuteten diese. Ich weiß nicht, wie vielen Hunderten Menschen beide weiterhalfen. Jeden Mittag, wenn ich aus der Schule kam, waren die Diele und das ganze Treppenhaus voller Leute, sie alle wollten zu den zwei Traumspezialisten in unsere Altbauwohnung. Sie alle warteten geduldig bis zum späten Abend, und das sechs Tage in der Woche.
Frau Dr. Haack und meine Mutter verlangten nie nach einer Bezahlung. Manchmal revanchierten sich die Leute und brachten ein Viertel Brot mit.
Während dieser Zeit probte mein Vater zur Freude unserer Mitbewohner in unserer guten Stube mit seinem Orchester. Dazu gab es jede Menge Gesang, denn er bildete auch eine Koloratursängerin aus.
Da das florierende Traumbüro meiner Mutter keine Zeit mehr für den Haushalt ließ, hatten wir ein Mädchen aus Schlesien aufgenommen, das alsbald zur Familie gehörte. Auch meine Großmutter Auguste aus Dresden wohnte jetzt bei uns.
Wir lebten nun in einem Mietshaus, auf jeder Etage befanden sich zwei Wohnungen. Auf unserem Stockwerk wohnte ein Tontechniker, der bei SABA gearbeitet hatte.
Der Name stand für die Schwarzwälder Apparate-Bau-Anstalt August Schwer Söhne GmbH, die Radiofunkgeräte und Tonbänder herstellte.
Dieser Mann bekleidete bei der Wehrmacht eine hohe Position im Nachrichtendienst, was natürlich keiner wusste. Seine Frau stand mit Mutter auf der Treppe, als er gegen Abend nach Hause kam: Er grüßte und sagte: „Ich hatte heute Nacht so einen blöden Traum.“
„So“, sagte meine Mutter.
„Dann kommen Sie gleich mal rein, ich leg Ihnen die Karten.“
Plötzlich wurde sie leichenblass und sprang auf: „Packen Sie sofort eine Tasche mit dem Allernötigsten und verschwinden Sie von hier. Zögern Sie nicht, wenn Sie sich nicht sofort auf den Weg machen, holt sie der Geheimdienst. Sie müssen sofort verschwinden, verlieren Sie keine Minute. Gehen Sie nach Westberlin.“
Mit diesen Worten schob sie ihn aus der Wohnung.
Es ist kaum vorstellbar, wenn man es nicht erlebt hat, aber meine Mutter war eine unglaublich starke und überzeugende Persönlichkeit. Der Mann folgte ihren Anweisungen auf der Stelle und ließ alles zurück: Einen gut bezahlten Job, seine Freunde, seine Familie, sein Zuhause.
Seine Frau half ihm, die Tasche zu packen. Zehn Minuten später war er fort.
Es war gerade mal eine Stunde vergangen, und schon stand der Geheimdienst der DDR vor der Tür, um Herrn Kurz abzuholen. Akribisch suchten sie jeden Winkel nach ihm ab.
Nachdem die Polizei gegangen war, kam seine Frau zitternd zu uns: „Ich habe gesagt, mein Mann kommt heute später. Er trifft sich noch mit Freunden.“
Meine Mutter nickte verständnisvoll und gab ihr Geld. Daraufhin nahm Frau Kurz ihre zwei Kinder und schlich sich leise aus dem Haus. Sie wusste, dass sie niemals wiederkommen würde.
Als wir dann 1950 aus der DDR flüchteten, war es Familie Kurz, die uns in Westberlin aufnahm.