Читать книгу Ein Leben in zwei Welten - Gottlinde Tiedtke - Страница 18
Die Weisheit der Karten
ОглавлениеMeine Großeltern mütterlicherseits wohnten in einer alten Landschule in Mautitz, der Großvater war längst pensioniert. Wenn wir sie besuchen wollten, fuhren wir mit dem Schaufelraddampfer ein Stück die Elbe entlang. An Bord gab es immer eine heiße Gemüsebrühe in einem Keramikbecher ohne Henkel. Eigentlich schmeckte die grün-graue Suppe nur salzig, aber ich liebte sie heiß und innig. Waren wir dann endlich an der Anlegestelle angekommen, mussten wir noch sehr weit laufen.
Schon von weitem sah man die Schule. Als Begrüßungskomitee kamen immer ein paar Hühner. Auf dem Hof stand ein riesiger Birnbaum mit einer Schaukel. Die Birnen waren so groß und saftig, dass es einen Platsch-Ton tat, wenn sie herunterfielen und in Stücke zerbarsten. Auch konnte es passieren, dass einem beim Schaukeln eine dieser Birnen auf den Kopf fiel und dann zerplatzte.
Meine Schwester und ich teilten uns ein Schlafzimmer und ein Bett. Dieses war so hoch, dass ich Schwierigkeiten hatte hineinzuklettern. Hatte man das geschafft, versank man in einem Meer aus weichen Federbetten und frisch gestärkter geblümter Bettwäsche.
Im Herbst war der behäbige, große Kleiderschrank ganz von dem süßen Duft der Äpfel und Quitten erfüllt, die dort lagerten. Überall roch es so gut.
Fast immer wurde ein Huhn geschlachtet, und meine Großmutter bereitete davon eine köstliche Suppe, die man dann mit den tiefen Esslöffeln aß, die schon so alt waren, dass sie bereits ganz ausgehöhlt waren. Einer hatte sogar ein Loch in der Mitte, das war mein Lieblingslöffel. Es bereitete mir ein diebisches Vergnügen, damit zu essen, während die Brühe in einem dünnen Strich langsam zurück in den Teller lief.
Jeden Morgen wurden wir von dem krähenden Hahn geweckt. Nach einem Frühstück mit kernigem Brot und dicker Wurst rannte ich in die Laube.
Frühstück mit Hühnern
Sie erinnerte an einen sechseckigen Pavillon, der mit edlem Holz ausgekleidet war. Durch das Innere der Laube zog sich eine Bank. In unmittelbarer Nähe, mittig platziert, befand sich ein riesiger Holztisch. Bei Regenwetter machten wir dort gemeinsam Spiele.
Es war eine heile Welt.
Leider dauerte es nicht lange und das Familienidyll fand ein jähes Ende. Das neue Regime warf meine Großeltern aus ihrer Schule. Nun mussten sie zusammen mit der jüngsten Schwester meiner Mutter in eine Notwohnung ziehen. Die Wohnung war so klein, dass sie sich von all ihren schönen Möbeln trennen mussten.
In der neuen Wohnung funktionierte nicht einmal der Ofen. Für meine Großeltern brach eine Welt zusammen – und für uns Kinder auch.
Meine Mutter deutete derzeit weiterhin Träume und legte Karten. Die Freundin, mit der sie das Traumbüro führte, hatte einen Chemiker geheiratet, der seit Jahren an der Erforschung der Sulfonamide beteiligt war. Das Unternehmen Boehringer interessierte sich sehr für seine Arbeit und wollte ihn in den Westen holen.
Also bat er meine Mutter, ihm die Karten zu legen.
Er war sich sicher, dass sie den perfekten Zeitpunkt seiner Flucht voraussehen konnte. Ob er recht hatte oder nicht, weiß niemand, auf jeden Fall gelang ihm die Flucht und er fiel nicht in die Hände der Volkspolizei.
Angespornt von diesem Erfolgserlebnis entschloss sich seine Frau Leoni, ihm mit ihren zwei Töchtern nachzufolgen. Sie hatte einen Führer gefunden, der sie bis an die Grenze bringen sollte, das letzte Stück des Weges musste sie allerdings alleine mit den Kindern bewältigen.
Meine Mutter schlug folgende List vor:
„Nimm nichts mit außer einem Wäschekorb mit verknitterten Kleidungsstücken und trage den ganz entspannt über die Grenze. So, als wolltest du nur in den Nachbarort gehen. Sei mutig, glaube an ein Gelingen. Du schaffst das, es geht alles gut.“
Leoni beherzigte ihren Rat, nahm ihre Mädels und machte sich auf den Weg. „Johanna hat gesagt, wir schaffen das.“
Immer wieder habe sie diesen Satz wiederholt, erzählte sie mir Jahre danach. Tatsächlich geriet sie sogar in einen Trupp der Volkspolizei. Die blickten allerdings nur gelangweilt auf den Korb Wäsche und ließen sie passieren.
Unendlich erleichtert kam sie im Westen an.
Inzwischen stieg die Zahl der Menschen, die sich bei meiner Mutter Rat und Trost holten.
Es wurden immer mehr.
Eines Tages suchte auch die einstige Tanzstundenpartnerin meines Onkels Gerhard meine Mutter auf. Hildas Vater war Baumeister und ihm gehörten ganze Straßenzüge in den teuren Villenvierteln. Sie war verheiratet, doch ihr Mann war in Gefangenschaft geraten und sie hatte schon lange nichts mehr von ihm gehört.
In Hildas Haus wurde eine russische Offizierin einquartiert. Diese hatte ihr gestanden, dass sie sich nach Westberlin absetzen wolle, und bat sie um Hilfe.
Hilda erzählte das meiner Mutter. Diese legte ihr daraufhin die Karten und warnte sie eindringlich. Sie habe ein ganz schlechtes Gefühl. Die Karten stünden schlecht. Die Russin sei nicht vertrauenswürdig, sie solle die Finger davon lassen und ihr nicht bei ihren Fluchtplänen helfen. Hilda sah das anders. Sie entschloss sich, der Russin dennoch zu helfen, und gab ihr eine Kontaktadresse in Westberlin. Die Offizierin setzte sich nach West-Berlin ab und zeigte Hilda sofort an.
Kurz darauf wurde sie von der Volkspolizei festgenommen und zu sieben Jahren im KZ Buchenwald verurteilt.
Für Hilda, die eine sehr intelligente und mondäne Frau war, ein undenkbarer Schicksalsschlag. Sie überlebte das KZ, aber wurde nie wieder sie selbst.
Ihr Mann wurde wenig später aus der amerikanischen Gefangenschaft entlassen, und tatsächlich hatte er es auch geschafft, seine beiden Töchter aus der DDR in den Westen zu holen.
Viele andere, die ein ähnliches Schicksal teilten, hatten sich scheiden lassen, er nicht. Er wartete auf Hilda, obwohl er sie all die Jahre nicht ein einziges Mal sehen durfte.