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Gottlinde und der Klabautermann

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Es war im Herbst 1944.

Ich war gerade vier Jahre alt, da begleitete ich meinen Vater zu einem Militärflughafen nach Dresden. Dort sollte er seine Entlassungspapiere vom Militär abholen.

Ich war aufgeregt, die Flieger faszinierten mich. Ich beobachtete, wie sie sich gleich Wasservögeln elegant in den Himmel hoben und schwerelos hinabglitten, bis sie zum Stehen kamen. Ich war viel zu neugierig, um artig in der Baracke zu bleiben, während mein Vater sich um die notwendigen Formalitäten kümmerte und die Papiere unterschrieb. Ich fragte, ob ich draußen warten dürfe, um das Treiben zu beobachten. Bald darauf gesellte sich mein Vater zu mir. Er unterhielt sich mit seinen Kameraden und wir blieben noch einige Zeit.

Gegen 12 Uhr mittags verließen wir das Gelände. Zwei Stunden später kam ein Geschwader der Alliierten und bombardierte den Flugplatz – alle starben. Wir waren dem Tod gerade noch von der Schippe gesprungen.

Von da an wurde das Leben zunehmend gefährlicher. Meine Eltern überlegten, welcher Ort wirklich sicher war, und entschieden sich für Dresden, das bislang von den Angriffen verschont worden war.

Damals nannte man die Stadt das Florenz des Ostens. Durch einen Wohnungstausch hatten wir eine sehr schöne Altbauwohnung in einem Vorort von Dresden angeboten bekommen. Das einzige Manko war die Toilette. Es gab nur ein Plumpsklo, das sich außerhalb der Wohnung befand. Nur in den modernen Häusern waren bereits Toiletten mit Wasserspülung installiert.

Alle, die von unserem Vorhaben hörten, waren entsetzt. Wieso wir so nah an der Stadt wohnen wollten in diesen gefährlichen Zeiten? Doch meine Eltern hatten keine Angst, im Prinzip fanden die Bombenangriffe ja so gut wie überall statt.

Also zogen wir nach Radebeul – einen Vorort von Dresden. Eine der Ersten, die uns dort besuchte, war meine Nenntante Maria, eine Freundin meiner Mutter, aus Hamburg. Ihr Mann fuhr zur See und sie war Kindererzieherin.

Tante Maria zeigte sich ganz begeistert von unserer 5-Zimmer-Wohnung, die sich in einer imposanten Villa befand. Sie schwärmte von den lichten, großen Räumen mit dem vielen Stuck an den Decken und dem Fischgrätparkett. Zum Wohnzimmer führte eine Flügeltüre und in jedem Raum befand sich ein Kachelofen. Die Wohnung war so groß, dass wir ohne Probleme unseren großen Konzertflügel und auch noch das Klavier unterbringen konnten.

Die Wände des Wohnzimmers waren mit einer matten, in Rosé gehaltenen Tapete mit kleinen silbernen Pünktchen tapeziert. An einer Wand stand eine graue Biedermeiercouch mit lila Veilchen, dazu gruppiert fand man einen Tisch und die passenden Sessel. Gegenüber platziert befanden sich ein geschnitzter Bücherschrank und eine große Glasvitrine.

Im Eck thronte der große weiße Kachelofen. Rund um das Wohnzimmer verlief ein Balkon. Meine Mutter war sehr stolz auf ihre schönen Möbel, die sie von ihren Eltern als Ausstattung zur Hochzeit bekommen hatte. In diesem Wohnzimmer tanzte Tante Maria mit mir herum, sang mit mir und machte allerlei Späße.

Irgendwann erzählte sie meiner Mutter eine seltsame Geschichte, die ihrem Mann Arthur widerfahren war. Er war Maschinist auf einem Frachtschiff.


Aussicht von der Wohnung in Radebeul

Tante Maria war eine Friesin und auch sie hatte seherische Fähigkeiten. Immer wenn ihr Mann lange auf See war, traf sie sich in ihren Träumen mit ihm. Ihre Seelen sprachen dann miteinander. Sie erzählte ihm von all den Dingen, die in seiner Abwesenheit geschehen waren, und er tat das Gleiche. So mussten sie sich niemals Briefe schreiben, sie korrespondierten jeden Tag auf einer anderen Bewusstseinsebene miteinander. Als Kind kann ich mich noch daran erinnern, dass Tante Maria immer vorher wusste, was geschehen würde.

Doch nun zu der Geschichte, die ihr Mann erlebt hatte.

Eines Tages war die See sehr rau und die Maschinen setzten aus. Das Schiff schaukelte wild und unkontrolliert hin und her. Arthur hatte sprichwörtlich alle Hebel in Bewegung gesetzt, alles ausprobiert, doch er war mit seinem Latein am Ende. Er wusste sich keinen Rat mehr, wie er die Motoren wieder in Bewegung setzen sollte.

Alle umliegenden Schiffe waren bereits alarmiert worden, um Hilfe zu leisten.

Da überkam ihn ein merkwürdiges Gefühl, etwas in ihm wusste, er durfte jetzt nicht aufgeben. Also versuchte er ein letztes Mal, die Maschine in Gang zu setzen. Eine Sekunde später glaubte er, seinen Augen nicht zu trauen.

Saß da nicht ein rotes Wesen auf einer Stange? Er näherte sich ihm vorsichtig und betrachtete es genau.

Es war ein kleines Männchen mit spindeldürren Beinchen, einem langen Bart und einer roten Zipfelmütze. Es sah aus, als wäre es direkt aus einem Märchenbuch geschlüpft.

Er blinzelte, schloss die Augen und öffnete sie wieder, doch das Männlein war immer noch da. Sekunden später sah er, wie es zwischen den Stangen und Motorteilen verschwand. Er glaubte zu träumen, doch genau in diesem Moment sprang die Maschine wieder an.

Der Krieg wurde immer unbarmherziger. Doch immer noch glaubte man an den Sieg. Die Bombengeschwader griffen zahllose Städte an und auch das Elbtal, in dem wir jetzt wohnten, wurde inzwischen von zwei Seiten beschossen.

Allein Dresden blieb immer noch verschont. Jeden Tag flogen Scharen von Bombern mit Donnergetöse über uns hinweg und wir verbrachten viele Tage und Nächte im Keller. Es herrschte ein eisiges, beklemmendes Schweigen.

Ertönte der Luftschutzalarm, fand in unserem Hause jedes Mal das gleiche Ritual statt. Meine Mutter erschien gelassen als Letzte und setzte sich demonstrativ auf die notdürftig mit dünnen Brettern abgedeckte Jauchegrube.

Dort fing sie in aller Ruhe an, in einem ihrer spirituellen Bücher zu lesen. Sobald sie das tat, ging ein erleichtertes Aufatmen durch unsere Reihen. Keiner wagte es, sich auf diese Grube zu setzen, denn falls eine Bombe eingeschlagen hätte, das wusste jeder, wäre derjenige, der dort saß, in die tiefe Grube gefallen.

Meine Mutter hatte keine Angst, sie war gläubig.

Bereits seit Ende der 1920er Jahre hatte sie sich für das Spirituelle interessiert und sie fühlte sich beschützt.

Anfangs hatten sich meine Eltern mit der christlichen Mystik nach Karl Weinfurter beschäftigt, den meine Eltern auch persönlich kannten.

Bald begeisterten sie sich auch für andere spirituelle Autoren wie den Bulgaren Surya Omraam Mikhaël Aïvanhov oder den Theosophen und Freimaurer Dr. Franz Hartmann. Auch die Geheimlehre von Helena Blavatsky und die Bücher von Gustav Meyrink beeindruckten sie. Zu Letzterem fällt mir auch gleich ein Erlebnis ein, das sich in unserer Waschküche ereignete, nachdem meine Mutter „Das grüne Gesicht“ von Meyrink gelesen hatte.

In diesem Buch ging es unter anderem um „Chedir Green“ – ein unheimliches magisches Wesen. In Gedanken hatte sie sich den ganzen Tag mit ihm beschäftigt und immer wieder einen Spruch aus dem Buch vor sich hingemurmelt.

Als sie den Holzdeckel des Zubers, in dem die Wäsche kochte, wegzog und in Richtung Tür blickte, sah sie in den Dampfschwaden, die den Raum füllten, Chedir Green an der Wand lehnend, sie hämisch anlächelnd.

Ihr wurde sehr unwohl zumute, und sie wusste instinktiv sofort, dass sie ihn mit ihren Gedanken und Worten herbeigerufen hatte.

Daraufhin verschwand sie sehr schnell aus dem Waschhaus.

An einem anderen Tag mitten im Krieg klopfte unverhofft ein Ortsgruppenleiter an die Tür meiner Mutter und forderte sie auf, ihren Bücherschrank zu öffnen. Er betrachtete all die esoterischen Bücher, von denen einige bereits verboten waren, und meinte, dass man diese nach dem Reichssicherheitsgesetz verbrennen müsse. Da stellte sich meine Mutter vor den Bücherschrank und sagte ihm ins Gesicht:

„Ich denke, es ist an der Zeit, dass wir toleranter werden, wir sind ja nicht mehr in den Zeiten der Weimarer Republik. Ich kann mich erinnern, damals hatte mir ein Beamter der Kommunisten einen Besuch abgestattet und hatte die gleichen Worte über meine Bücher verloren wie jetzt Sie. Jetzt möchten Sie sich tatsächlich auf die gleiche Stufe mit ihm stellen? Haben Sie denn die gleichen Werte wie die Kommunisten?“

Der Polizist runzelte die Stirn, kniff die Augen zu und sagte irritiert: „Nein, natürlich nicht. Darum geht es doch gar nicht, aber lassen wir das jetzt mal. Tun Sie mir einfach den Gefallen und stellen Sie die besagten Bücher ganz hinten in den Schrank.“

Meine Mutter nickte bereitwillig, doch nachdem er ging, blieben alle Bücher genau dort, wo sie auch vorher gestanden hatten.

Die Gefahr war unser ständiger Begleiter.


Im Obstgarten: Gottlinde, Johanna, Gabriele und Tosca

Das galt vor allem auch für uns Kinder. Selbst die alltäglichsten Dinge konnten uns das Leben kosten. So war es zum Beispiel ein äußerst gefährliches Unterfangen, wenn wir in die zwei Straßen weiter entfernte Molkerei gehen mussten, um dort Milch zu holen. Oft wurden wir auf unserem Weg von Tieffliegern überrascht und mussten vor den Scharfschützen in Deckung gehen. Geistesgegenwärtig warfen wir uns dann ins Gebüsch, den wertvollen Milchkrug dabei fest im Auge, damit ja nichts von dessen kostbarem Inhalt verloren ging. Tack, Tack, Tack knallten die Geschosse ganz dicht an uns vorbei.

Doch nicht nur der Feind, vor allem auch der Hunger trachtete uns nach dem Leben. Wir hatten Glück, denn wir hatten einen Gemüsegarten, der nicht nur uns, sondern auch vielen unserer Freunde über die schlimmste Zeit hinweghalf. Ganz gleich wie gefährlich die Lage war, meine Mutter vergaß niemals, den Garten zu gießen.

Oft verkroch sie sich während der Scharfschützenangriffe in ihren Zwiebeln und betete.

Ein Leben in zwei Welten

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