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Die Flucht
ОглавлениеEines Nachts hatte mein Vater einen seltsamen Traum, aus dem er schweißgebadet aufschreckte. Eine laute Stimme sagte zu ihm:
„Du bist krank. Wenn du hierbleibst, wirst du sterben. Du musst über die Grenze in den Westen gehen.“
Er zweifelte nicht an dem Traum, deshalb ließ ihn die Idee an eine Flucht fortan nicht mehr los.
Er sprach mit seiner Frau Johanna. Sie bestätigte ihn in seinem Vorhaben und zusammen organisierten sie heimlich seine Flucht.
Nachts brachte ihn ein Schleuser bis an die Grenze. Er zeigte ihm den Weg, den er einschlagen musste, um nicht entdeckt zu werden. Auch dieser Fluchtversuch glückte. Johannas Brüder, die schon lange im westlichen Teil Deutschlands lebten, nahmen meinen Vater auf.
Als meine Mutter den Anruf aus dem Westen erhielt, blieb sie ganz ruhig. Sie hatte ja den erfolgreichen Ausgang der Mission bereits in den Karten gesehen.
Ganz anders als in der DDR wurden Lehrer in Westdeutschland dringend gesucht. Mein Vater fand sofort eine Anstellung. Nun war er froh, dass er neben seiner Musikerausbildung auch das Lehramt studiert hatte. Denn als Musiker hatte man es schwer, viele waren arbeitslos.
Dann geschah eines Tages etwas Sonderbares. Mein Onkel und seine Frau standen an ihrem Fenster und erblickten einen Mann mit einer Laterne.
Dieser ging auf meinen Vater zu, blieb neben ihm stehen und begrüßte ihn. Beide schüttelten sich die Hände und umarmten sich. Die Begegnung dauerte nur ein paar Minuten und der alte Mann, in dem mein Onkel sofort seinen eigenen Vater erkannte, verschwand so schnell, wie er gekommen war.
Als die beiden meinen Vater etwas später auf diese Begegnung ansprachen, wusste dieser von nichts. Sie waren sich jedoch sicher, Zeuge eines spirituellen Erlebnisses gewesen zu sein, denn der Vater lebte schon geraume Zeit nicht mehr, hatte sich aber niemals von Johannes, seinem Sohn, verabschieden können.
1950 arbeitete mein Vater wieder als Lehrer. Man hatte ihm eine Stelle in einem kleinen, verwunschenen Heidedorf in der Nähe von Bremen angeboten. Statt Großstadtflair fand man hier reetgedeckte Fachwerkhöfe und uralte Eichen.
Im Osten bereitete uns meine Mutter derweil auf die Flucht vor. Sie hatte überall die Geschichte erzählt, dass mein Vater jetzt Kapellmeister in Stralsund an der norddeutschen Küste in der DDR sei.
Schlau, wie sie war, hatte sie sich bereiterklärt, der Familie einer verstorbenen Nachbarin den Nachlass zu ordnen und ihn ihr zuzuschicken. So fiel es nicht auf, dass sie viele persönliche Dinge einpackte und zu ihrem Bruder Karl nach Hannover sandte. Sie verschickte auch das Radio, obwohl das verboten war. Die Kupferdrähte im Radio waren aus Buntmetall. Das war sehr waghalsig und es stand Zuchthaus darauf, wenn man erwischt wurde. Ganz ehrlich, ich hätte es nicht gewagt, aber meine Mutter war in dieser Beziehung einzigartig.
Sie fühlte sich beschützt, manch einer würde sagen, sie hatte einfach Glück. Doch wie viel Glück kann man haben? Meine Mutter hatte immer Glück, was rein logisch betrachtet auch kaum nachzuvollziehen ist. Ich würde sagen, Gott hielt seine schützende Hand über sie.
Als bereits die halbe Wohnung ausgeräumt war, klingelte an einem Abend die Volkspolizei bei uns.
Meine Mutter behielt die Nerven. Die Polizei hatte nur über jemanden eine Auskunft einholen wollen, aber uns Kindern saß der Schrecken tief in den Gliedern.
Ein paar Tage später drückte sie meiner Schwester und mir eine Tasche in die Hand und wir verließen still das Haus. Wir fuhren nach Dresden zu Tante Bertha.
Am Dresdner Hauptbahnhof angekommenen, übersah meine Mutter auch noch einen Bombentrichter und verdrehte sich den Fuß, sie konnte kaum laufen. Das erste Mal in meinem Leben sah ich Angst in ihren Augen. In dieser Nacht, wie auch in der vorangegangen, hatte sie von Plakaten und Wegweisern in kyrillischer Schrift geträumt.
„Hoffentlich schnappen sie uns nicht“, meinte sie besorgt.
Weiter ging es mit dem Zug nach Ostberlin, wo uns Frau Kurz abholte. Dort gab es noch eine U-Bahn-Verbindung nach Westberlin. Es waren ein oder zwei Stationen. Wir fuhren stillschweigend.
„Macht ja nicht den Mund auf! Seid ganz still!“, hatte man uns eingebläut.
Mit uns im Waggon saßen ein Kontrolleur und die Volkspolizei. Endlich nach einer halben Ewigkeit hielt die U-Bahn. Wir atmeten auf. Wir waren im Westen – und in Sicherheit.
In den ersten Tagen wohnten wir bei Familie Kurz, dort warteten wir darauf, dass mein Vater uns die Flugtickets für die Reise nach Hamburg schickte. Ich war zehn Jahre alt und sah das erste Mal eine Banane. Frau Kurz lief gleich in den Laden und kaufte sie mir.
Mit einem großen Militärflugzeug flogen wir ein paar Tage später von Berlin Tempelhof, das damals noch in amerikanischer Hand war, nach Hamburg. Der amerikanische Kapitän trug eine Bomberjacke. Als er mich sah, blieb er stehen, kniff mich in die Wange und sagte kaugummikauend: „Hi Baby!“
Zwei Worte und meine Liebe zu Amerika und zur Luftfahrt war entbrannt.
Als wir ankamen, stand mein Vater auf dem Rollfeld und strahlte – er freute sich unheimlich, uns alle wiederzusehen. Es war unser ganz persönliches Happy End.
Die Reise ging weiter. Wir fuhren mit dem Zug in den Ort in der Heide.
Die Gutshöfe waren eingerahmt von Mauern, die aus den Steinen alter Hünengräber erbaut worden waren. Als wir aus dem Zug stiegen, entdeckten wir am Bahnhof, der etwas außerhalb des Ortes lag, viele Wegweiser: alle in kyrillischer Schrift.
Meine Mutter staunte und lachte, erkannte sie die Wegeweiser doch aus ihren Träumen wieder, die sie erst jetzt wirklich verstand. Insgeheim hatte sie befürchtet, dass die Wegweiser in ihren Träumen auf ein russisches Straflager hindeuten würden, in das wir deportiert worden wären, wenn sie uns auf unserer Flucht festgenommen hätten.
Doch die Wegweiser waren nur ein Symbol dafür, dass wir sicher an unserem Wunschort ankommen würden. Sie wiesen auf ein ukrainisches Flüchtlingslager hin, das nach dem Krieg für die Menschen erbaut worden war, die aus der Ukraine geflohen waren, um den Kommunisten zu entkommen.
Die Parallele war allzu deutlich.