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Die Russen und die Rettung

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Die Russen rückten immer näher. Sie waren bereits auf der einen Seite des Elbufers. Auf der anderen befand sich das Regiment von General Schörner, der vorher das Afrika-Kommando unter sich hatte. Radebeul lag im Tal. So beschossen sich die Kämpfenden tagelang mit Stalinorgeln, wie wir die Geschosse nannten.

Es war der 8. Mai, der Tag der Befreiung!

Die Menschen standen auf ihren Balkons und schwenkten weiße Tücher. Ich sehe sie noch. Sie kamen die lange Straße hinunter. Die russischen Einheiten. Zuerst mongolische Reiter, dann die Panzer. Amerikanische Panzer mit vielen Geschützen.

Die Amerikaner hatten die Russen voll ausgestattet, weil diese kein Kriegsgerät mehr hatten, sagte mein Vater. Im Prinzip trugen sie nur den roten Stern anstatt der amerikanischen weißen. Die Männer hatten sich in den Weinbergen versteckt.

Die Soldaten schossen auf alles und jeden. Der aufgestaute Hass war zu groß.

Meine Schwester ging aufs Gymnasium. Man hatte die jungen Mädchen versteckt, denn Vergewaltigungen gehörten zur Tagesordnung.

Einmal war ich als Fünfjährige allein mit meiner Mutter, als Offiziere ins Haus kamen. Sie trieben alle Frauen und Kinder auf dem Rasen vor dem Haus zusammen. An den Platz, an dem immer die Wäsche gebleicht wurde. Ich saß allein im ersten Stock in der Küche mit einer Blechtasse mit Radieschen am Küchentisch.

Man hatte mich irgendwie vergessen.

Plötzlich stand ein baumlanger mongolischer Russe lautlos in der Küchentür. Das Gewehr über dem Arm. Ich versteinerte buchstäblich, aber er war freundlich. Er lächelte mich an und ging.

Unten auf der Bleiche ging es nicht so lustig zu. Alle Frauen sollten in Lastwägen verfrachtet werden und nach Sibirien gebracht werden. Das Gleiche geschah in den umliegenden Häusern.

Der Oberkommandant war ein eiskalter, gnadenloser Typ. Intuitiv wusste meine Mutter plötzlich, dass er ein russischer Jude war. Sie stellte sich neben ihn und sprach ihn leise auf Deutsch an. Er schaute sie verdutzt an, dann redete sie ihm ins Gewissen. „Wollen Sie wirklich Gleiches mit Gleichem vergelten? Ist es denn nicht genug, was Ihr Volk bereits erlitten hat? Ein Volk, das sich als auserwählt fühlt, muss doch besser sein. Es muss doch einmal genug sein mit all dem Hass.“

Es war ein gewagtes Spiel.

Er solle doch ein Exempel im guten Sinne statuieren und die Frauen bei ihren Kindern lassen. Sie redete und redete, bis er ihr auf die Schulter griff, nickte und mit mürrischer Miene den Befehl gab, dass alle Frauen in ihre Häuser zurückkehren und nicht mehr auf die Straße gehen sollten.

Erst nach der Wende fand man in der Nähe von Heidenau die Massengräber mit all den Frauen, die aus ihren Häusern getrieben worden waren, um erschossen zu werden.

Jeder musste jetzt den Preis für den verlorenen Krieg zahlen. Zahllose Menschen wurden heimatlos oder enteignet. Meine Mutter hatte vorgesorgt, die Gardinen abgemacht, die Teppiche verschwinden lassen, so dass unsere Räume kahl und unwohnlich wirkten. Dazu hatten wir ja zu unserem Glück kein Spülklosett und kein Bad, sondern nur das „Örtchen“ auf halber Treppe.

Das russische Oberkommando hatte Radebeul zum Hauptquartier erkoren. Wir lebten jetzt unter 220 000 Russen.

Da unsere Wohnung nicht den Ansprüchen der Besetzer genügte, durften wir sie weiterhin bewohnen. Die Russen holten ihre Familien nach. Junge Russinnen mit roten Backen und Kopftüchern. Viele wirkten wie Mamuschkas.

Auch in die Villa neben uns zog eine russische Familie ein. Die Mutter mit dicken roten Backen und kräftigen Waden. Zu ihrer Schürze trug sie Stöckelschuhe, nachmittags um drei servierte sie das Mittagessen: Makkaroni mit Hackfleischsoße – eine Delikatesse.

Die Russin mit den aufgetürmten rotblonden Locken nahm mich gleich unter ihre Fittiche. Ich durfte mitessen, mehr als einmal. Ich war ihr ewig dankbar.

Während wir die Nudeln verschlangen, flüsterte sie, dass wir ruhig sein sollen. Im Hintergrund hörte man das laute Schnarchen ihres schwer betrunkenen Mannes, der inzwischen in voller Montur im Ehebett eingeschlafen war. Wir Kinder unterhielten uns in Zeichensprache oder spielten draußen Ball.

Neben all den schrecklichen Erinnerungen, die diese Zeit mit sich brachte, fällt mir auch etwas sehr Komisches ein:

Die Russen waren begeistert von unseren Spültoiletten. Sie wuschen ihre Kartoffeln darin und spülten dann. Natürlich landeten die Kartoffeln damit zum Teil in der Kanalisation, die verstopfte. Der ratlose dazugeholte Mann schoss vor lauter Wut in die Toilette!

Solche Geschichten kursierten überall.

Auch die Besetzung forderte ihren Tribut. Nun verloren alle ihre Jobs. Unser Nachbar, ein Justizbeamter, war jetzt bei der Müllabfuhr. Auch mein Vater wurde wie viele andere seines Postens als Lehrer enthoben. Die Kommunisten übernahmen das Ruder.

Gut, dass meine Eltern in weiser Voraussicht alle bedenklichen Unterlagen verbrannt hatten.

Mein Vater verdiente zusätzliches Geld jetzt als Pianist in einer Band in einem Vergnügungslokal für die Russen. Erst um drei Uhr morgens war sein Tag zu Ende. Der Heimweg war dann aber lebensgefährlich.

Die sturzbetrunkenen Russen rissen einem die Kleidung vom Leibe, nahmen einem das bisschen Geld ab, prügelten oder erschossen einen.

Meine Mutter ging nun nachts in den Garten, um ihn zu spritzen. Tagsüber gab es kein Wasser, und wir waren auf den Garten angewiesen.

Dresden hatte bei der ersten kommunistischen Wahl der DDR am schlechtesten abgeschnitten. Dafür wollte man die Menschen vor Ort büßen lassen. Das russische Kommando strich die Lebensmittel einfach auf ein erbärmliches Minimum.

Einmal gab es Kartoffelmehl, alle stürzten sich drauf. Was viele nicht wussten, für das Mehl hatte man nur die Schalen und die giftigen Kartoffelkeime zermahlen. Die älteren Leute starben wie die Fliegen.

Mein Vater hatte auch eine Wassersuppe mit diesem Mehl gegessen. Er wurde schwer krank.

Die Nachbarin erbarmte sich. Sie hatte ein kleines Kind und bekam etwas Milch. Sie gab meinem Vater jeden Tag etwas davon ab, bis es ihm langsam besserging.

Wir Kinder bekamen dicke Bäuche. So wie die afrikanischen Kinder in den Hungergebieten. Monatelang gab es nur Suppe. Wasser mit einem kleinen bisschen Gemüse aus dem Garten.

Wir alle überlebten durch den Garten.

Meine Mutter hatte heimlich zwischen den Tomaten Tabak angebaut. Das war streng verboten. Doch sie machte es trotzdem und verkaufte den Tabak anschließend auf dem Schwarzmarkt.

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